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Heimat.

Welchem Volk du auch angehörst, es ist ein Wort, ein Konzept, welches das Herz mit Sehnsucht erfüllt. Heimat kann das alte Land der Vorfahren sein oder ein neuer Ort, den man dazu gemacht hat. Heimat kann selbst in den Augen eines geliebten Wesens gefunden werden. Aber wir alle brauchen sie, verlangen danach, wissen, dass wir ohne ein Heim auf irgendeine Art unvollständig sind.

Viele Jahre lang hatte jeder Clan seine eigene Heimat, ein eigenes heiliges Land, seine eigenen Geister der Erde, der Luft, des Wassers, des Feuers und die Geister der Wildnis. Doch wir wurden entwurzelt, waren heimatlos, bis wir schließlich nach Kalimdor kamen. Hier fand ich eine neue Heimat für unser umherziehendes Volk. Einen Ort des Friedens und eine heilige Stätte, wo wir wieder zu uns finden und uns erholen können.

Meine Heimat ist jetzt nach meinem Vater benannt: das Land Durotar.


Durotan hob den Kopf und schnupperte in den Wind. Der Geruch, der seine Nüstern füllte, schmeckte nach Staub und Trockenheit, aber da war auch ein beißender Gestank – nicht der Geruch von etwas Verbranntem, aber es war nahe dran. Drek’Thar hätte diesen Geruch damals erkennen können, aber diese Tage waren vorbei. Er war kein Schamane mehr, sondern ein Hexenmeister. Die Luft würde ihn nicht kühlen, wenn er sie darum bat, oder Botschaften übermitteln, als wären sie auf Pergament geschrieben. Noch schlimmer aber war, dass Drek’Thar und die anderen Hexenmeister des Frostwolf-Clans dies nicht im Geringsten zu kümmern schien.

Es hatte seit einiger Zeit nicht mehr geregnet, und der Sommer schien heißer als sonst. Es war schon der zweite Sommer in Folge, in dem der Regen knapp gewesen war, und aus einer Laune heraus kniete sich Durotan nieder und grub seine Finger in den Boden. Einst war es fruchtbarer Lehm gewesen, dunkelbraun und von einem vollen erdigen Geruch. Nun aber gruben sich seine Finger mit Leichtigkeit durch den Staub, der weder Gras noch Getreide noch irgendetwas anderes nährte. Er rieselte wie Wasser durch Durotans Finger.

Er spürte, dass Draka kam, drehte sich aber nicht zu ihr herum. Ihre Arme griffen von hinten um seine Taille, und sie presste sich an ihn. Für einen langen Moment blieben sie einfach so stehen, dann, mit einem letzten Seufzen, ließ sie ihn los und ging um ihn herum. Durotan klatschte sich den Staub von den Händen.

„Wir haben uns ohnehin nie wirklich auf den Ackerbau verlassen“, sagte er leise.

Draka sah ihn mit ihren wissenden dunklen Augen an. Ihm schmerzte das Herz, wenn er sie ansah. Sie war so viel besser als er. Aber sie war die Gefährtin des Häuptlings, nicht der Häuptling selbst, und sie musste nicht die Entscheidungen treffen, die er zu fällen hatte.

„Wir haben uns stattdessen auf die Jagd verlassen“, antwortete sie. „Aber die Tiere, die wir jagen, leben von dem, was die Erde gibt. Alles ist miteinander verbunden. Die Schamanen wussten das.“

Sie verstummte, als einer der jüngeren Hexenmeister vorbeischritt, ein kleines hüpfendes Wesen an seiner Seite. Als sie an ihnen vorbeikamen, drehte sich das kleine Ding um, sah Draka an, lächelte und zeigte dabei einen Mund voll spitzer Zähne. Draka konnte einen Schauder nicht unterdrücken.

Durotan seufzte und gab ihr eine Schriftrolle. „Ich habe gerade dies hier erhalten. Wir müssen uns auf einen langen Marsch vorbereiten. Wir müssen unser Land verlassen.“

„Was?“

„Befehl von Schwarzfaust. Er lebt jetzt in dieser neuen Zitadelle, die extra für ihn gebaut wurde, und er will seine Armee dort haben. Es reicht nicht mehr, dass wir uns immer nur für einen Angriff zusammenschließen. Wir müssen zusammenleben und allzeit bereit sein, Schwarzfaust sofort zu folgen.“

Draka schaute ihn ungläubig an, dann richtete sie den Blick auf die Rolle, die er ihr hinhielt. Sie überflog die Botschaft, rollte das Pergament dann zusammen und gab es ihm zurück.

„Wir bereiten uns besser vor“, sagte sie leise, drehte sich um und ging zurück zu ihrem Zelt. Er sah ihr nach und fragte sich, was genau bei diesem Anblick sein Herz brechen ließ.


Die Zitadelle war noch nicht fertig. Aber als sie in Durotans Blickfeld geriet, blieb er beeindruckt stehen. Neben ihm erklang Gemurmel.

„So mächtig!“

„So groß!“

„Eines Kriegshäuptlings würdig!“

Durotan sagte nichts, aber er dachte: Blasphemisch! Eine Verschandelung der Landschaft. Ohne jede Harmonie!

Der reisende Frostwolf-Clan war immer noch mehrere Meilen weit entfernt, aber die Zitadelle am Horizont erschien ihnen wie ein lauernder Bussard. Nichts wies auf orcische Bauart hin. Diese Struktur, dieser architektonische Albtraum, diese Beleidigung von Auge und Geist wich noch mehr von jeder orcischen Baukunst ab als jedes Draenei-Gebäude. Durotan wusste natürlich, warum das so war. Die Zitadelle musste derart gigantisch sein, wenn dort auf Dauer eine Elitetruppe orcischer Krieger untergebracht werden sollte. Trotzdem hatte er etwas anderes erwartet.

Statt der sanften, glatten Linien, die die Gebäude der Draenei auszeichneten, wirkten die Mauern der Festung scharf und gezackt. Anstatt sich in die Landschaft einzufügen, dominierte die Zitadelle sie. Aus schwarzem Stein, kantigem Holz und Metall gefertigt, erhob sie sich trotzig zum Himmel. Durotan wusste, dass er von seiner Position nur den Hauptturm sehen konnte. Aber das reichte; er stand da wie angewurzelt, nicht gewillt, sich dieser Monstrosität auch nur noch einen Schritt zu nähern.

Er wechselte einen Blick mit Draka. Waren sie die Einzigen, die das bemerkten?

Der Rest des Frostwolf-Clans ging weiter, überholte seinen Häuptling. Widerwillig trieb Durotan sein Reittier an und folgte ihnen.

Dass sie sich der Festung näherten, machte sie nicht attraktiver, aber Durotan konnte andere Gebäude erkennen: Unterkünfte, Vorratsspeicher. Überall standen große Kriegsmaschinen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie wirkten ebenfalls düster, gefährlich und tödlich.

Mitglieder des Schwarzfels-Clans und andere grüßten eifrig. Durotan grüßte oberflächlich zurück und schickte die Frostwölfe zu einem flachen Platz im Westen, wo sie ihre Zelte errichteten. Es ging auf den Abend zu, als Durotan den Befehl erhielt, sich im Hauptgebäude der Zitadelle mit einigen anderen seines Clans einzufinden. Die zwanzigköpfige Gruppe gehorchte der Anweisung und wartete.

Durotan hörte die Trommeln zuerst aus der Ferne. Er straffte sich. Man hatte ihnen befohlen, keinerlei Waffen mitzubringen, sie sollten nur einfach kommen und warten; ihnen war nicht mal gesagt worden, worauf. Draka sah ihn besorgt an, aber Durotan wusste auch nichts Genaueres. Er tappte genauso im Dunkeln wie sie alle.

Der Trommelschlag näherte sich, und die Erde begann unter Durotans Füßen zu vibrieren. Das war nichts Ungewöhnliches. Er kannte es, wenn die Trommeln an ihrer heiligen Stätte geschlagen worden waren. Aber aus dieser Entfernung? Er hörte andere besorgt flüstern und wusste, dass er nicht der Einzige war, den eine düstere Vorahnung plagte. Der Boden zitterte weiter, die Schwingungen wurden stärker.

Zwei Schwarzfelsreiter erschienen und wirkten erfreut. „Fürchtet euch nicht, stolze Mitglieder der Horde!“, rief einer. „Unsere neuen Verbündeten, die der mächtige Schwarzfaust mitgebracht hat, kommen. Heißt sie willkommen.“

Etwas war vertraut an der Art, wie der Boden bebte. Das einzige andere Mal, da Durotan jemals so etwas erlebt hatte, war gewesen, als er...

„Oger!“, schrie jemand. Und tatsächlich, auch Durotan konnte sie sehen. Dutzende, riesig und grimmig, stapften heran, auf die Gruppe der wartenden Orcs zu. Mehr Wolfsreiter des Schwarzfels-Clans kamen hinzu, riefen und bliesen ihre Hörner.

Das waren die neuen Verbündeten? Durotan konnte es nicht fassen. Während er unbewegt dastand, unfähig, Worte zu finden, erschien der größte Oger, den er je gesehen hatte. Schwarzfaust persönlich schritt neben ihm her, die Bewegungen so geschmeidig und stolz, als würde er neben dem Koloss nicht wie ein Spielzeug wirken.

„Wir werden die Draenei vernichten!“, rief Schwarzfaust, und als ob sie darauf gewartet hatten, fielen die Oger ein: „Vernichten! Vernichten! Vernichten!“

Einen kranken, verwirrenden Moment lang floh Durotan, wieder ein Kind, vor solch einem Monster. Er blinzelte, und vor seinem inneren Auge sah er den Körper seines erschlagenen Vaters. Garads Schädel war wie eine Nussschale zerbrochen durch den einzigen Treffer eines Oger-Knüppels.

Orcs sollten Seite an Seite kämpfen mit dummen, hirnlosen Kreaturen, um ein intelligentes und friedfertiges Volk auszulöschen!

Die Welt war verrückt geworden.


Velen erschauderte. Sein Assistent berührte seinen Ellbogen, bot ihm ein warmes, beruhigend wirkendes Getränk an. Aber der Prophet lehnte ab. Kein Trost konnte von einem Getränk kommen. Es würde überhaupt keinen Trost mehr geben.

Er hatte sich gegrämt, als ihn die Nachricht erreichte, dass Telmor gefallen war. Und mit der Stadt sein lieber Freund Restalaan. Noch qualvoller war es gewesen, als er erfuhr, wie der Angriff stattgefunden hatte. Velen hatte in dem jungen Durotan etwas Besonderes gesehen, und was dieser für ihn getan hatte, als sich Velen in der Gewalt der Orcs befand, hatte das Vertrauen in den Häuptling der Frostwölfe noch bestärkt. Und nun dies! Durotan und Orgrim waren die einzigen Orcs, die jemals erfahren hatten, dass der grüne Stein die Stadt schützte. Einer von ihnen musste sich den Spruch gemerkt haben, der die Tarnfunktion des Steins aufhob. Einer Handvoll war die Flucht in den Tempel von Karabor gelungen. Ihre Wunden waren behandelt worden, doch es gab nichts, dass Velen oder irgendjemand sonst tun konnten, um ihre geschundenen Seelen zu heilen.

Aber es wurde noch schlimmer. Die Flüchtlinge erzählten nicht von simplen Bögen und Pfeilen, Speeren, Äxten und Hämmern, die die Orcs eingesetzt hatten. Sie sprachen mit leisen, gehauchten Stimmen von grünlich-schwarzen Blitzen, von schrecklicher Qual und Folter, jenseits von allem, was die Schamanen bislang ihren Feinden angetan hatten. Sie sprachen von schnatternden, hüpfenden Kreaturen, die eine Magie des Leids und der Qual anwendeten.

Sie sprachen von den Man’ari.

Plötzlich fügte sich alles mit furchtbarer Logik zusammen. Die plötzlichen unverständlichen Angriffe der Orcs. Ihre unglaublichen Fortschritte in der Technologie. Die Tatsache, dass sie sich vom Schamanentum abgekehrt hatten, einer Religion, die, wie Velen es verstand, eine Geben-und-Nehmen-Beziehung zwischen den Elementarkräften und denen, die sie nutzten, voraussetzte. Wer die Man’ari befehligte, suchte weder Gleichgewicht noch Harmonie, er wollte herrschen!

So wie Kil’jaeden und Archimonde!

Die Orcs waren nichts anderes als bloße Werkzeuge in den Händen der Eredar; Velen und der Rest der Draenei waren ihre wahren Ziele. Die orcische Horde war vergrößert worden um Kreaturen, die extrem mächtig waren – so also wollte Kil’jaeden sie, die Draenei, vernichten. Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob der Anführer der Horde vielleicht für vernünftige Argumente zugänglich war, ob man ihm erklären konnte, was wirklich geschah, und ob er dann vielleicht Kil’jaeden bekämpfen würde, gemeinsam mit den Draenei, wenn er erfahren hatte, wie der ihn benutzt hatte. Er verwarf den Gedanken gleich wieder. Es war durchaus möglich, dass diejenigen, die Kil’jaeden als seine Werkzeuge gebrauchte, die wahre Natur und die Absichten des Eredars längst kannten. Er versprach ihnen Macht, und Velen wusste, wie glaubhaft dieses Angebot erscheinen konnte und wie verführerisch es war. Durch diese Versprechungen waren Archimonde und Kil’jaeden auch Sargeras erlegen, und sie waren weit älter, standhafter und weiser gewesen als jeder Orc.

Hinzu kam diese Vision, die ihn nicht nur zutiefst schmerzte, sondern auch demütigte. Eine Vision von schwerfälligen Ogern, die sich mit den Orcs verbündeten. Etwas, das er einst als Traum abgetan hätte, der verursacht worden war durch ein allzu reichhaltiges Mahl. Jetzt wusste er, dass es die Wahrheit war. Etwas hatte die Natur der Orcs so nachhaltig geändert, so unwiderruflich, dass sie sich mit Kreaturen verbündeten, die sie seit Generationen hassten. Und zwar gegen die Draenei, ein Volk, mit dem sie ebenso lange befreundet gewesen waren.

Wäre dies anderswo geschehen wäre, wäre die Folgerung einfach gewesen: Velen hätte sein Volk versammelt, und sie wären geflohen, beschützt von den Naaru. Aber das Schiff war abgestürzt, K’ure lag im Sterben, und es gab keinen anderen Weg, als gegen die Horde zu kämpfen und zu beten, dass sie irgendwie, auf irgendeine Art überleben würden.

Ah, K’ure, alter Freund. Wie ich deine Weisheit vermisse, und wie bitter es ist, dass du dich direkt beim Feind befindest, der nicht mal begreifen will, dass du überhaupt existierst.

Er drückte den Stein, den er Geisterlied nannte, fest an sein Herz. Er fühlte das leise Flackern des sterbenden Naaru. Velen schloss die Augen und neigte den Kopf.


Gul’dan schaute sich im Raum um und war sehr zufrieden. Alles lief wie geplant. Der Schattenrat traf sich nun seit einiger Zeit, und Gul’dan war der Meinung, die Mitglieder gut ausgewählt zu haben. Sie waren alle bereit... nein, begierig darauf, ihrem Volk den Rücken zu kehren, um der Macht näher zu kommen. Sie hatten schon so viel erreicht durch ihr Werkzeug, das glaubte, der wahre Herr des Rats zu sein und nicht sein Sprachrohr, wie es in Wirklichkeit der Fall war. Es war leicht gewesen, ihn zum Kriegshäuptling zu machen. Und solange der Rat lächelte und nickte, wenn er an den Treffen teilnahm – was selten genug vorkam –, hinterfragte er seine Position nicht. Von den eigentlich wichtigen Zusammenkünften bekam er nichts mit, denn sie schickten ihn auf eine Mission nach der anderen, wodurch seine Brust vor Stolz noch mehr anschwoll.

„Grüße“, sagte Gul’dan, als er sich auf den Stuhl am Kopf des Tisches niederließ. Wie immer hockte Ner’zhul in einer Ecke; niemals wurde er aufgefordert, sich zu den anderen zu setzen. Es war ihm aber erlaubt, ihrer Sitzung beizuwohnen. Kil’jaeden hatte es so angeordnet, und obwohl Gul’dan nicht klar war, was sein Wohltäter damit bezweckte, wollte er Kil’jaedens Wohlwollen unbedingt behalten und widersprach deshalb nicht.

Der Rat erwiderte seinen Gruß nur beiläufig, und Gul’dan begann mit der Tagesordnung. „Wie reagieren die einzelnen Clans auf das Bündnis mit den Ogern? Kargath, beginnen wir mit dir.“

Der Häuptling des Clans der Zerschmetterten Hand grinste und grunzte: „Sie sind bereit, möglichst viel Blut zu vergießen, und es ist ihnen egal, wer ihnen dabei hilft, die Kehlen der Draenei aufzuschlitzen.“

Raues Gelächter füllte den Raum. Im schwachen Licht der Fackeln kam es Gul’dan so vor, als würden die Augen der Anwesenden orange leuchten. Ein paar aber schauten finster und wirkten alles andere als belustigt.

„Ein paar vom Whiteclaw-Clan haben protestiert“, sagte einer. „Und Durotan vom Frostwolf-Clan steht immer noch unter Beobachtung, obwohl er den Angriff auf Telmor erfolgreich durchgeführt hat.“

Gul’dan hob die Hand. „Sorge dich nicht. Mit Durotan habe ich noch etwas vor.“

„Warum wird er nicht einfach beseitigt?“, knurrte Kargath wütend. „Es wäre leicht, ihn durch jemanden zu ersetzen, der besser in unsere Pläne passt. Es ist bekannt, dass er Schwarzfausts Entscheidungen in Frage stellt, und deine auch.“

„Genau deshalb brauche ich ihn lebend“, sagte Gul’dan und sah, dass einige ihn sehr wohl verstanden, während andere verwirrt und wütend schauten. „Gerade weil er für seinen moderateren Standpunkt bekannt ist“, fügte er eine Erklärung hinzu. „Denn da er uns trotz seiner Zweifel folgt, folgen uns auch die anderen Zweifler. Er spricht für viele, die sich nicht trauen, selbst die Stimme zu erheben. Aber solange Durotan dennoch tut, was wir sagen, erscheint alles in Ordnung. Wie Kargath erwähnte, ist der Frostwolf-Clan nicht der Einzige, der uns gegenüber Vorbehalte hat.“

„Aber... was ist, wenn er uns auf einmal den Gehorsam verweigert? Wenn er an eine Grenze stößt, die er nicht überschreiten kann?“

Gul’dan lächelte frostig. „Dann werden wir mit ihm auf eine Weise verfahren, die unsere Macht noch steigern wird. So wie wir das immer machen.“ Gul’dan beschloss, das Thema zu wechseln. Er beugte sich vor und legte die Hände auf den Tisch. „Reden wir von den anderen, die uns gegenüber Vorbehalte haben. Ich hörte, es gibt Orcs, die weiterhin versuchen, wieder mit den Elementen und den Ahnen in Kontakt zu treten.“

Eines der Mitglieder zeigte einen missmutigen Ausdruck. „Ich habe versucht, sie davon abzubringen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie dafür bestrafen soll. Immerhin glauben noch immer alle, dass es die Ahnen waren, die uns auftrugen, die Draenei anzugreifen, dass sie uns vor der Bedrohung durch die Draenei warnten.“ Seine Worte klangen nach einer Verteidigung.

Gul’dan lächelte. „Ja, stimmt. Damit haben wir sie alle eingefangen und auf unsere Seite gebracht.“ Er schaute zu Ner’zhul herüber. Der alte Schamane bemerkte seinen Blick und schlug die Augen nieder.

„Aber das ist nicht länger nötig“, sagte Gul’dan. „Wir müssen sicherstellen, dass es kein Zurück mehr zu den alten Traditionen gibt. Bisher war uns das Kriegsglück hold, und mit den Ogern wird es weiterhin auf unserer Seite sein. Aber wenn es Rückschläge gibt, wenn eine Schlacht mal nicht zu unseren Gunsten ausgeht, dann wird man denen, die immer noch dem Schamanentum anhängen, ein offenes Ohr schenken. Das darf auf keinen Fall passieren.“ Er rieb sich gedankenvoll das Kinn. „Wir müssen mehr tun, als die Hexenmeister zu ermutigen. Wir müssen das Schamanentum unterbinden. Es wäre von Vorteil, würden die Ahnen tatsächlich mit ihren Nachfahren reden.“

Wieder schaute er Ner’zhul an. Erst als er zum heiligen Berg gereist war, hatte er mit den Ahnen sprechen können und entdeckt, was wirklich geschah. Bis dahin war Ner’zhul, so machtvoll er auch gewesen war, auch nur ein Werkzeug Kil’jaedens gewesen.


Tief in körperlosen Träumen schwammen die Wesen, die aus Licht bestanden. Sie hatten Erinnerungen an das, was gewesen war, und sie hatten Einblicke in die Zukunft. Lange hatten sie an diesem Ort verweilt, genährt von dem Anderen, der wie sie war und doch nicht war wie sie. Und der, wie sie spürten, langsam schwand. Bisher hatten sie Friede und Ruhe gehabt. Aber Schändung, Hass und Gefahr hatten diesen Frieden zunichte gemacht. Sie konnten die geliebten Lebenden, wenn diese schliefen, nicht mehr erreichen. Und die geliebten Lebenden kamen nicht mehr, um das heilige Becken aufzufüllen, womit sie, ohne es zu wissen, den Anderen am Leben hielten. Nur der Betrogene war gekommen, hatte geweint und gebettelt, aber er war zu tief in den Betrug verwickelt gewesen, um ihnen zu helfen.

Plötzlich wurde ihr tiefer Traum unterbrochen. Eine Erschütterung durchlief sie, Schmerz quälte sie, und sie riefen den Anderen um Hilfe an. Aber er konnte ihnen nicht helfen, er konnte sich nicht einmal selbst helfen. Die dunklen unheiligen Kreaturen, die einst Geschöpfe der Schönheit gewesen waren, kamen. Die Ahnen spürten ihre Nähe. Sie kamen, unaufhaltsam, vereinten ihre Kräfte und schufen einen Ring aus Dunkelheit um den Fuß des Berges. Sichtbare Dunkelheit ging von den verderbten Kreaturen aus, die Sargeras verfallen waren, angezogen von dem Versprechen der Macht, genährt von dem Versprechen ewiger Vernichtung. Die Ahnen spürten das Aufschäumen konzentrierten Hasses, der sich in eine Erscheinung aus grünlichschwarzer Energie bündelte. Sie peitschte um sich wie ein abgeschlagener Tentakel und suchte eine grauenhafte Vereinigung. Langsam, aber unaufhaltsam wuchs ihr Würgegriff, bis ein Band aus dunkler Energie den Berg versiegelte und jeden Orc daran hinderte, hineinzukommen, und jede Seele, den Berg zu verlassen.

Da schrie der Andere auf. Ohne die Schamanen, die ihm das Wasser brachten, war er nicht in der Lage, sich selbst zu heilen. Und ohne den Anderen würde es wahrscheinlich keine Ahnen mehr geben.

Weit entfernt zuckten einige Orcs, die sich selbst als Schamanen sahen, im Schlaf und begannen zu weinen. Ihre Träume wurden zu Albträumen von endloser Qual und unentrinnbarem Untergang.

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