3

Drek’Thar hatte in Zeiten des Friedens die Städte der Draenei nie gesehen. Er sah sie erst, als... nun, ich greife mir selbst vor. Aber er erzählte mir, dass mein Vater über ihre erleuchteten Straßen gegangen war, ihr Essen gegessen, in ihren Gebäuden geschlafen und mit ihnen gesprochen hatte. Er hatte einen Blick in eine Welt geworfen, die so anders war als – unsere eigene, dass es noch immer schwerfällt, sie sich vorzustellen. Sogar die Länder der Kaldorei sind mir nicht so fremd wie all das, was ich von den Draenei gehört habe. Drek’Thar sagte, dass Durotan nicht die passenden Worte kannte, um zu beschreiben, was er sah. Vielleicht könnte er es heute, würde er in dem Land leben, das seinen Namen trägt.

Aber das tut er nicht, und das hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack bei der Geschichte.


Durotan konnte sich nicht rühren. Es war, als hätte sich ein rätselhaftes Netz aus strahlender Energie um ihn gezogen, und er konnte sich nicht dagegen wehren. Er beobachtete, während sein Mund leicht offen stand, und versuchte zu verstehen, was seine Augen ihm offenbarten.

Die Stadt der Draenei war herrlich. Sie lag an der Flanke des Berges, als wäre sie daraus entsprungen. Für Durotans Augen war es die perfekte Verbindung von Stein und Metall, von Natur und Künstlichem. Er wusste nicht genau, was er sah, aber er erkannte es als harmonisch. Nachdem der Tarnzauber aufgehoben war, zeigte sich die Stadt in ihrer ruhigen Großartigkeit. Alles, was er sah, zog das Auge an. Massive Steinstufen, weit und stumpf an der Basis und sich nach oben hin verjüngend, führten zu kugelförmigen Bauten. Einer dieser Bauten erinnerte Durotan an ein Schneckenhaus, ein anderer an einen Pilz. Die Kombination war umwerfend. Gebadet in den Farbtönen der untergehenden Sonne, wirkten die harten Linien der Stufen sanfter, und die Rundungen der Kuppeln erschienen einladend.

Er drehte sich um und sah einen Ausdruck auf Orgrims Gesicht, der dem seinen sicherlich ähnelte. Und dann sah er ein leichtes Lächeln auf Restalaans Lippen.

„Ihr seid uns willkommen, Durotan und Orgrim“, sagte Restalaan. Die Worte schienen den Bann zu brechen, und Durotan trat linkisch vor. Die Steine auf der Straße waren gerundet, ob von der Zeit oder der Hand der Draenei, konnte er nicht sagen. Als sie näher kamen, erkannte Durotan, dass sich die Stadt in die Berge hinein fortsetzte. Das architektonische Muster der großen Stufen, die zu sanft geschwungenen Gebäuden führten, setzte sich dort fort. Es gab lange Straßen, die aus demselben weißen Stein bestanden, der irgendwie nie schmutzig wurde, obwohl mindestens zehn Generationen in dieser Stadt gelebt und gestorben waren, seit die Draenei in diese Gegend gekommen waren. Statt der Häute und Hörner von erlegten Tieren benutzten die Draenei die Geschenke der Erde. Überall sah er glühende Edelsteine, und es gab eine merkwürdige Fülle von hellbraunem Metall, wie Durotan es noch nie gesehen hatte. Die Orcs kannten Metall und verarbeiteten es auch. Durotan selbst hatte auf der Jagd Axt und Schwert getragen. Aber dieses hier...

„Woraus ist eure Stadt erbaut?“, fragte Orgrim. Es war das Erste, das er sagte, seit die beiden ihre merkwürdige Reise in der Gesellschaft der Draenei angetreten hatten.

„Aus vielen Dingen“, sagte Restalaan freundlich. Sie gingen durch die Tore und wurden von den Bewohnern neugierig, aber keineswegs feindselig beäugt. „Wir sind Reisende, die in eurer Welt noch relativ neu sind.“

„Neu?“, sagte Durotan. „Es ist über zweihundert Sommer her, dass euer Volk hierherkam. Wir waren damals anders, als wir jetzt sind.“

„Nein, wart ihr nicht“, widersprach Restalaan. „Wir haben die Orcs beobachtet, wie sie an Stärke, Können und Talent gewannen. Ihr habt uns beeindruckt.“

Durotan wusste, dass es als Kompliment gemeint war, aber irgendwie klang es in seinen Ohren abfällig. Als wenn... als wenn die Draenei dachten, sie wären irgendwie besser als die Orcs. Der Gedanke kam und ging, flüchtig wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels. Er sah sich um und fragte sich, ob es nicht auch tatsächlich stimmte. Keine orcische Behausung war so prächtig, so erhaben. Aber... die Orcs waren ja schließlich auch keine Draenei. Sie mussten nicht wie die Draenei leben.

„Die Antwort auf deine Frage, Orgrim, lautet: Als wir hier ankamen, benutzten wir alles, was wir mitgebracht hatten. Ich weiß, dass dein Volk Boote baut, um auf Flüssen und Seen zu reisen. Nun, wir kamen in einem Boot, dass durch den Himmel reisen kann, und das brachte uns hierher. Es bestand aus Metall und... anderen Dingen. Nachdem wir erkannt hatten, dass dieser Platz hier unsere Heimat werden würde, nahmen wir Teile von dem Boot und benutzten sie als Baumaterial.“

Daher kam also das viele matte, geschwungene Metall, das aussah wie eine Mischung aus Kupfer und Haut. Durotans Atem stockte.

Neben ihm schnaufte Orgrim. „Du lügst! Metall kann nicht schwimmen!“

Ein Orc hätte geknurrt und Orgrim auf die Ohren geschlagen, und zwar ziemlich hart für solch eine Frechheit. Der Draenei lächelte nur sanft. „Das möchte man meinen. Genauso wie man meinen möchte, dass es nicht möglich ist, die Elemente zu beschwören, um einen Oger zu bekämpfen.“

„Das ist etwas anderes“, schnaubte Orgrim. „Das ist Magie.“

„Genau wie dies hier, auf seine eigene Art“, sagte Restalaan. Er winkte einen seiner Leute heran und sagte etwas in seiner eigenen Sprache. Der andere Draenei nickte und entfernte sich.

„Da ist jemand, den ich euch gern vorstellen möchte, wenn er nicht zu beschäftigt ist“, sagte Restalaan, dann wurde er still.

Durotan hatte tausend Fragen, traute sich aber nicht, sie zu stellen, denn er fürchtete, sich damit zu blamieren. Orgrim schien Restalaans Antwort die Magie betreffend akzeptiert zu haben. Dennoch schauten sich beide Jungen immer noch interessiert um.

Sie kamen an vielen Draenei vorbei, und einmal sah Durotan ein Mädchen, das wohl in seinem Alter war. Sie war fein gebaut, aber groß, und als Durotan ihren Blick auffing, schien sie erschreckt. Dann zog ein sanftes Lächeln über ihre Lippen, und sie senkte schüchtern den Kopf.

Durotan bemerkte, wie er zurücklächelte. Ohne nachzudenken sagte er: „In unserem Lager gibt es viele Kinder. Wo sind eure?“

„Wir haben nicht viele“, sagte Restalaan. „Unser Volk ist sehr langlebig, deshalb haben wir nicht so viele Kinder.“

„Wie langlebig?“, fragte Orgrim.

„Sehr langlebig“, antwortete Restalaan ausweichend. „Es genügt zu sagen, dass ich mich noch an unsere Ankunft hier erinnern kann.“

Orgrim starrte seinen Begleiter ungeniert an. Durotan wollte ihn mit dem Ellbogen anstoßen, aber er war zu weit weg. Ihm wurde auf einmal bewusst, dass das Mädchen, das sie gerade gesehen hatten und das so jung gewirkt hatte, vielleicht gar nicht in seinem Alter war.

In diesem Moment kam der Kundschafter, den Restalaan ausgeschickt hatte, zurück. Er sprach ein paar hastige Worte, und Restalaan schaute zufrieden und wandte sich dann lächelnd den beiden Orcs zu.

„Derjenige, der uns auf diese Welt gebracht hat, unser Prophet Veten, befindet sich für einige Tage hier. Ich habe mir gedacht, er würde euch gern treffen. Wir bekommen nicht oft Besuch.“ Restalaans Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Ich bin sehr stolz darauf, euch verkünden zu können, dass Velen einem Treffen mit euch zugestimmt hat. Er hat euch eingeladen, den Abend mit ihm zu verbringen. Ihr werdet mit ihm essen und im Haus des Meisters schlafen. Das ist eine sehr große Ehre.“

Beide Jungen waren wie vor den Kopf geschlagen. Essen mit dem Propheten, dem Anführer aller Draenei?

Durotan kam es allmählich so vor, als wäre es doch besser gewesen, hätte sie der Knüppel des Ogers erschlagen.

Sie folgten Restalaan, der sie gewundene Treppen hinabführte, dann über Straßen durch die Berge und schließlich zu einem großen Gebäude auf einem Bergrücken. Die Stufen dorthin bestanden aus perfekten Quadraten und schienen sich endlos hinzuziehen. Durotan atmete hastig, während sie die steile Treppe emporstapften. Oben angekommen besah er sich mit großem Interesse die Schneckenhausstruktur, bis Restalaan von ihnen forderte: „Dreht euch um!“

Durotan und Orgrim gehorchten, und Durotan verschlug es die Sprache. Unter ihnen erstrecke sich die Stadt der Draenei und wirkte dabei wie verstreut liegende Juwelen auf einer Wiese. Der Rest des Sonnenlichts tauchte sie in flammende Farben. Dann versank die Sonne hinter dem Horizont, und alles war in Purpur und Grau gebadet. In den Häusern wurden Lichter entzündet und erinnerten Durotan an Sterne, die auf die Erde schienen.

„Ich will nicht angeben, aber ich bin stolz auf mein Volk und unsere Stadt“, sagte Restalaan. „Wir haben hier hart gearbeitet. Wir lieben Draenor. Nun, ich habe nie geglaubt, dass ich diesen erhabenen Anblick einmal mit einem Orc teilen kann. Die Wege des Schicksals sind oft merkwürdig.“

Als er das sagte, schien sich ein alter Schmerz auf seinen starken blauen Gesichtszügen abzuzeichnen. Er schüttelte die Bedrückung ab und lächelte wieder. „Tretet ein, und man wird sich um euch kümmern.“

So still, als wären sie unfähig zu sprechen und ihre jungen Geister allem gegenüber geöffnet, betraten Durotan und Orgrim den Sitz des Magistrats. Man zeigte ihnen prachtvoll eingerichtete Räume, in denen sie jedoch trotzdem das Gefühl hatten, eingesperrt zu sein. Die gebogenen Wände, so einladend sie von innen und außen auch wirken mochten, schienen sie einzuengen. In einem Zimmer standen Schüsseln mit Früchten zum Verzehr, merkwürdige Kleidung lag bereit, die sie tragen sollten, und eine Wanne mit Wasser, so heiß, dass es dampfte, stand in der Mitte des Raums.

„Das Wasser ist zu heiß zum Trinken und zu viel, um Blätter darin ziehen zu lassen“, sagte Durotan.

„Es ist zum Baden“, erklärte der Draenei.

„Baden?“

„Um sich den Schmutz vom Körper zu waschen“, sagte Restalaan.

Orgrim schaute ihn misstrauisch an, aber Restalaan schien es ernst gemeint zu haben.

„Wir baden nicht“, grummelte Orgrim.

„Wir schwimmen im Sommer in den Flüssen“, sagte Durotan. „Das ist vielleicht ähnlich.“

„Ihr müsst nichts tun, was euch unangenehm ist“, entgegnete Restalaan. „Das Bad, das Essen und die Kleidung sind dazu da, damit ihr euch wohl fühlt. Prophet Velen erwartet euch in einer Stunde. Ich werde euch dann holen. Braucht ihr noch etwas?“

Sie schüttelten die Köpfe. Restalaan nickte und schloss die Tür.

Durotan wandte sich Orgrim zu. „Glaubst du, wir sind in Gefahr?“

Orgrim beäugte die merkwürdigen Dinge und das heiße Wasser. „Nein“, meinte er. „Aber... ich fühle mich wie in einer Höhle. Ich wäre lieber in einem Zelt.“

„Ich auch.“ Durotan ging zur Wand und berührte versuchsweise die gekrümmte Oberfläche. Sie fühlte sich kühl und weich an unter seinen Fingern. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie warm und... irgendwie lebendig wäre.

Er drehte sich um und zeigte auf das Wasser. „Willst du es versuchen?“

„Nein“, antwortete Orgrim, und beide Orcs lachten, bespritzten sich dann gegenseitig die Gesichter und empfanden das warme Wasser angenehmer als erwartet. Sie aßen die Früchte, tranken das Wasser und entschieden, dass die bereitliegende Kleidung angemessener war als ihre verschmutzten, verschwitzten Hemden; ihre Hosen aus Leder behielten sie aber an.

Die Zeit verging schneller, als sie gedacht hatten, und sie waren gerade dabei, aus Jux eines der metallenen Beine des Stuhls zu verbiegen, als es leise an der Tür klopfte. Sie sprangen schuldbewusst auf; Orgrim war es gelungen, das Bein ein wenig zu biegen, und es stand daraufhin ein wenig schief.

„Der Prophet ist nun bereit, euch zu empfangen“, sagte Restalaan.

Er ist einer der Ältesten!

Das war das Erste, was Durotan durch den Kopf ging, als er den Prophet Velen sah.

Den anderen Draenei so nah zu sein, war verwirrend genug gewesen, doch Velen zu sehen war noch etwas ganz anderes.

Der Prophet der Draenei war einen halben Kopf größer als der Größte der Stadtwache, aber er wirkte nicht so kräftig. Sein Körper, in weiche, leichte Gewänder gehüllt, war weniger muskulös als ihrer. Und erst seine Haut – sie war von einem warmen alabasternen Farbton.

Seine Augen lagen tief, glühten in einem strahlenden Blau und waren umgeben von scharfen Falten, was auf jemanden hindeutete, der uralt war. Das silberne Haar floss ihm nicht über den Rücken, sondern war schmuckvoll geflochten und ließ seine Haut noch bleicher erscheinen, während sein Bart, der wie eine silberne Welle wirkte, ihm fast bis zur Hüfte reichte.

Kein Ältester, nicht mal ein Ahne... Durotan betrachtete diese intensiven blauen glühenden Augen, deren Blick sich in die Tiefe seiner Seele zu bohren schien. Nein, kein Ältester, sondern fast außerhalb der Zeiten.

Er dachte über Restalaans Bemerkung nach, dass er selbst über zweihundert Sommer alt war. Velen war ein ganzes Stück älter.

„Willkommen“, sagte der Prophet mit sanfter Stimme, während er aufstand und seinen Kopf neigte. Das geflochtene Haar tanzte in der Bewegung. „Ich bin Velen. Und ich bin froh, dass meine Leute heute auf euch trafen. Obwohl ich nicht bezweifle, dass ihr in ein paar Jahren durchaus in der Lage seid, einen Oger oder gar einen Gronn allein zu erlegen.“

Wieder wusste Durotan nicht, ob es sich bei den Worten um ein Kompliment handelte oder nicht. Orgrim erging es wohl nicht anders, denn seine Haltung straffte sich, und er erwiderte den Blick des Draenei.

Velen bedeutete ihnen, sich zu setzen, und sie folgten der Einladung. Durotan fühlte sich linkisch und unbeholfen in den mit Verzierungen versehenen Stühlen, doch als das Essen kam, entspannte er sich. Talbuk-Lende, geröstete Weißfeder, große runde Brote und Teller voller Gemüse – das war Nahrung, die er kannte. Irgendwie hatte er etwas völlig anderes erwartet. Aber warum? Ihre Gebäude und ihre Lebensart mochten unterschiedlich sein, aber wie die Orcs lebten die Draenei von dem, was das Land ihnen gab. Die Zubereitung war ein wenig ungewöhnlich – die Orcs kochten ihr Essen entweder oder brieten es über einer offenen Flamme, wenn sie überhaupt kochten. Hin und wieder aßen sie das Fleisch auch roh, aber im Prinzip war Essen eben Essen, und dieses hier war lecker.

Velen war ein exzellenter Gastgeber. Er stellte Fragen und schien an den Antworten interessiert. Wie alt die Jungen sein mussten, damit sie Oger jagen durften. Wann sie sich ein Weib aussuchten. Was ihr Lieblingsessen war, ihre bevorzugte Waffe. Orgrim taute bei dem Gespräch noch mehr auf als Durotan und erzählte, wie tapfer er wäre. Zu seiner Verteidigung sei gesagt, dass er seine Geschichten nicht groß ausschmücken musste.

„Wenn mein Vater stirbt, werde ich den Schicksalshammer erben“, sagte Orgrim stolz. „Es ist eine alte, ehrenvolle Waffe, die seit Generationen vom Vater an sein ältestes Kind gegeben wird.“

„Du wirst ihn gut handhaben, Orgrim“, gab sich Velen überzeugt. „Aber ich vertraue darauf, dass noch viele Jahre vergehen werden, bevor du den Namen Schicksalshammer übernehmen wirst.“

Die Tatsache, dass sein Vater erst sterben musste, bevor der Schicksalshammer Orgrim gehören würde, schien dem jungen Orc für einen Moment entfallen zu sein, und er verstummte augenblicklich.

Velen lächelte, mit einer Spur von Bedauern, wie Durotan glaubte. Dabei erschienen feine Risse auf Velens Gesicht, wie ein feines Spinnennetz auf der weißen Oberfläche. „Aber beschreib mir diesen Hammer. Er muss eine mächtige Waffe sein.“

Orgrim bekam wieder Farbe im Gesicht. „Er ist gigantisch. Der Stein ist schwarz und stumpf und mächtig. Und der Schaft ist aus sorgsam bearbeitetem Holz gefertigt. Über die Jahre musste der Schaft ausgetauscht werden, aber der Stein hat nicht einen einzigen Kratzer. Er wird Schicksalshammer genannt, weil jeder Gegner seinem Schicksal begegnet, wenn sein Besitzer ihn mit in die Schlacht nimmt.“

„Ich verstehe“, sagte Velen und lächelte immer noch.

Orgrim erwärmte sich für das Thema. „Und es gibt da noch eine Prophezeiung“, fuhr er fort. „Man sagt, dass der Letzte aus der Familie des Schicksalshammers ihn dazu benutzen wird, um zuerst Erlösung und dann Vernichtung über das Volk der Orcs zu bringen. Dann wird er in die Hände eines anderen übergehen, in die Hände von jemanden, der nicht vom Schwarzfels-Clan ist, und erneut wird sich alles ändern, und man wird ihn wieder einsetzen für die gerechte Sache.“

„Das ist eine machtvolle Prophezeiung“, sagte Velen. Er sagte nichts mehr, aber Durotan spürte einen Schauder. Dieser Mann wurde von seinem Volk „Prophet“ genannt. Wusste er, dass die Schicksalshammer-Prophezeiung die Wahrheit verkündete? Durotan traute sich nicht, eine entsprechende Frage zu stellen.

Orgrim fuhr fort und beschrieb den Schicksalshammer in liebevollen Details. Durotan, der die Waffe gesehen hatte, hörte nicht mehr auf Orgrims Geschwafel und konzentrierte sich auf Velen. Warum war der an dem Thema so interessiert?

Durotan war ein sensibler Junge. Er hatte ein paar Gesprächsfetzen seiner Eltern aufgeschnappt, die wegen dieser Sensibilität sehr besorgt waren. Sie hatten mit Mutter Kashur darüber gesprochen, die sich darüber lustig gemacht und ihnen gesagt hatte, sie sollten sich über wichtigere Dinge Gedanken machen und den Jungen „seinen Weg gehen lassen“.

Durotan jedenfalls erkannte vorgeheucheltes Interesse und war überzeugt, es selbst bei einem Draenei ausmachen zu können. Aber Velens helle blaue Augen strahlten, sein freundliches, wenngleich hässliches Gesicht war offen, seine Fragen aufrichtig. Er wollte etwas von den Orcs erfahren. Und je mehr er zuhörte, desto trauriger wurde er.

Ich wünschte, Mutter Kashur wäre an meiner Stelle hier, dachte Durotan auf einmal. Sie würde dies hier eher zu schätzen wissen als Orgrim oder ich.

Als Orgrim die Beschreibung des Schicksalshammer beendet hatte, fragte Durotan: „Kannst du uns von deinem Volk erzählen, Prophet? Wir wissen so wenig darüber. In den letzten Stunden habe ich mehr erfahren als alle Orcs in den letzten hundert Jahren, schätze ich.“

Velen richtete seine glühenden blauen Augen auf Durotan. Der junge Orc wollte dem Blick ausweichen. Nicht, weil er sich fürchtete, sondern weil er sich noch nie so... beobachtet gefühlt hatte.

„Die Draenei haben niemals etwas über sich verheimlicht, junger Durotan. Aber... ich glaube, du bist der Erste, der fragt. Was möchtest du wissen?“

Alles, wollte Durotan sagen. Stattdessen antwortete er: „Die Orcs haben die Draenei niemals vor den zweihundert Sommern gesehen. Rastalaan sagte, ihr seid hier mit einem großen Schiff angekommen, das den Himmel bereisen konnte. Erzähl mir mehr davon.“

Velen trank einen Schluck von dem Getränk, das für Durotan nach Sommer schmeckte, und lächelte. „Ich beginne damit: Draenei ist nicht unser richtiger Name. Es ist ein Begriff unserer Sprache und bedeutet: Verbannte.“

Durotan schnappte nach Luft.

„Wir hatten eine Auseinandersetzung mit anderen in unserer Welt. Wir entschieden uns gegen die Sklaverei und wurden dafür verbannt. Wir haben lange nach einem Platz zum Leben gesucht, einem Ort, der zu unserer neuen Heimat werden sollte. Wir verliebten uns in dieses Land, und wir nannten es Draenor.“

Durotan nickte. Er hatte den Begriff schon zuvor gehört. Er mochte dieses Wort, wie es auf seiner Zunge klang, wenn er es aussprach. Die Orcs hatten keinen anderen Begriff für diesen Ort. Sie nannten ihn Welt.

„Es ist ein Begriff aus unserer Sprache, daher sind wir nicht so eingebildet zu glauben, die Orcs benützten ihn auch. Doch so haben wir das Land genannt, und wir lieben Draenor innig. Es ist eine schöne Welt, und wir haben schon viele Welten gesehen.“

Orgrim schnappte nach Luft. „Ihr habt andere Welten gesehen?“

„In der Tat, das haben wir. Und wir haben viele Völker getroffen.“

„Völker wie die Orcs?“

Velen lächelte sanft. „Es gibt nichts, das mit den Orcs vergleichbar wäre“, sagte er, und Respekt klang in seiner Stimme. „Ihr seid einzigartig auf unseren Reisen.“

Durotan und Orgritn schauten einander an und richteten sich in den Stühlen ein wenig auf.

„Aber ja, wir reisten eine ganze Weile lang, bevor wir dieses Land fanden. Hier sind wir nun, und hier werden wir sterben.“

Durotan brannte darauf, mehr zu erfahren. Er wollte fragen, wie lange sie gereist waren, wie ihre Heimatwelt gewesen war, warum sie sie verlassen hatten. Aber da war etwas in Velens zeitlosem Gesicht, das ihm sagte, dass der Anführer der Draenei ihm diese speziellen Fragen nicht beantworten würde, auch wenn er ihm zu fragen erlaubt hatte.

Stattdessen fragte er, wie ihre Waffen und ihre Magie funktionierten.

„Unsere Magie entspringt der Erde“, erklärte Durotan. „Die Schamanen und die Ahnen entlocken sie ihr.“

„Unsere Magie entspringt einer anderen Quelle“, entgegnete Velen. „Ich glaube aber nicht, dass ihr sie verstehen würdet, würde ich sie erklären.“

„Wir sind nicht dumm!“, sagte Orgrim entrüstet.

„Vergebt mir, wenn ich den Eindruck erweckte, dies zu glauben“, sagte Velen sofort, und er sagte es so offen und ehrlich, dass Durotan erneut beeindruckt war. „Euer Volk ist weise, und ihr beiden seid intelligent. Aber... ich glaube nicht, dass ich die passenden Worte in eurer Sprache kenne. Ich bezweifle nicht, dass ihr es verstehen würdet, hätte ich genügend Zeit und wüsste das entsprechende Vokabular, aber...“

Selbst in der Erklärung schien er nach Worten zu suchen. Durotan dachte an diese Magie, die ganze Städte verbergen konnte, dachte an das unheimliche weiche Metall, das irgendwie mit Edelsteinen und Stein verschmolzen war, und erkannte, dass Velen recht hatte: Es gab keinen Orc, der das alles innerhalb eines einzigen Abends begriffen hätte. Obwohl er vermutete, dass Mutter Kashur mehr Verständnis würde aufbringen können als jeder andere Orc, und er fragte sich, warum die beiden Völker nicht miteinander redeten.

Die Unterhaltung wandte sich gewöhnlicheren Dingen zu. Die beiden Jungen erfuhren, dass tief im Wald von Terokkar ein Ort lag, der den Draenei heilig war und den sie Auchindoun nannten. Dort wurden die Toten bestattet, im Boden vergraben, anstatt sie auf Scheiterhaufen zu verbrennen. Durotan hielt das für merkwürdig, doch er hielt seine Zunge im Zaum. Telmor lag dieser „Stadt der Toten“ am nächsten, und Velen war gekommen, um jemanden zu beerdigen, der im Kampf gegen jenen Oger gefallen war, der Orgrim und Durotan last getötet hatte.

Normalerweise, so erklärte Velen, lebte er an einem schönen Ort, genannt „Tempel von Karabor“. Es gab noch andere Draenei-Städte; die größte davon lag im Norden und hieß Shattrath.

Schließlich war das Mahl beendet. Velen seufzte. Sein Blick ruhte auf den leeren Tellern. Aber Durotan war sicher, dass der Prophet sie nicht sah.

„Ihr müsst mich entschuldigen“, sagte Velen und stand auf. „Es war ein langer Tag; ich muss meditieren, bevor ich schlafen gehe. Es war mir eine Ehre, euch kennengelernt zu haben, Durotan vom Frostwolf-Clan und Orgrim vom Schwarzfels-Clan. Ich hoffe, ihr schlaft gut und tief. Ihr seid sicher innerhalb dieser Mauern, wo niemand von eurem Volk je zuvor war.“

Durotan und Orgrim standen ebenfalls auf und verneigten sich. Velen lächelte mit dem seltsamen Anflug von Leid, das Durotan vorher schon bei dem Anführer der Draenei gesehen hatte.

„Wir werden uns wiedersehen, junge Freunde. Gute Nacht.“

Die beiden Orcs verließen kurz nach ihm den Raum. Sie wurden zu ihren Zimmern gebracht und schliefen tatsächlich tief und fest. Durotan hatte einen Traum von einem alten Orc, der still neben ihm saß, und fragte sich, was das wohl bedeuten konnte.


„Bring ihn her!“, sagte der alte Orc zu Mutter Kashur.

Mutter Kashur war die älteste Schamanin des Frostwolf-Clans. Sie schlief fest. Wegen ihres hohen Rangs war ihr Zelt das Zweitbeste in Sachen Ausstattung, nur knapp hinter dem von Garad, dem Anführer des Clans. Dicke Decken aus Spalthufpelz schützten ihre alten Knochen vor der Kälte des Bodens. Und eine liebende und sorgende Enkeltochter kümmerte sich um ihre Bedürfnisse. Sie kochte und putzte und sorgte dafür, dass an kalten Tagen das Feuer für die Mutter des Clans nicht ausging.

Mutter Kashurs Aufgabe war es, dem Wind, dem Wasser, dem Feuer und dem Gras zuzuhören, und jeden Abend trank sie den bitteren Kräutersaft, der ihren Geist für Besuche der Ahnen offen hielt. Sie sammelte Informationen für ihren Clan, so wie andere Früchte oder Feuerholz sammelten, und diese Gabe nährte sie genauso.

Der alte Orc war nicht anwesend, und doch wusste sie, dass er real war. Er war in ihrem Traum, und das reichte ihr. In ihrem Traumzustand war sie jung und lebendig, ihre rote Haut strahlte vor Gesundheit, und sie wusste, dass ihr Körper geschmeidig war, mit starken Muskeln.

Der alte Orc behielt stets das Alter, in dem er gestorben war. Das Alter, in dem seine Weisheit ihren Höhepunkt erreicht hatte. Im Leben war sein Name Tal’kraa gewesen. Aber sie, obwohl er viele Generationen von ihr entfernt war, nannte ihn nur Großvater.

„Du hast die Nachricht erhalten“, sagte Großvater zu der jungen, blühenden Traum-Kashur.

„Ja, er und der Schwarzfelsjunge sind bei den Draenei“, antwortete sie. „Sie sind in Sicherheit. Das kann ich spüren.“

Großvater Tal’kraa nickte, und seine dicken Hängebacken wippten dabei. Seine Hauer waren gelb vom Alter, und einer war in einem lange vergangenen und vergessenen Kampf abgebrochen. „Ja, sie sind in Sicherheit. Bring ihn her.“

Es war schon das zweite Mal, dass er das forderte, und Kashur war sich nicht sicher, was das bedeutete.

„Er wird in ein paar Monaten in die Berge kommen, wenn die Bäume die Blätter abwerfen, um zu schlafen“, sagte sie. „Dann werde ich ihn zu dir bringen.“

Tal’kraa schüttelte vehement den Kopf, und seine braunen Augen zogen sich ärgerlich zusammen. Kashur unterdrückte ein Grinsen. Von all den Geistern, die sie mit ihrer Gegenwart ehrten, war Großvater der Ungeduldigste.

„Nein, nein“, knurrte Tel kraa. „Bring ihn zu uns. Bring ihn in die Höhlen von Oshu’gun. Ich werde dort auf ihn warten.“

Kashur atmete tief ein. „Du... willst, dass ich ihn zu den Ahnen bringe?“

„Habe ich das nicht gerade gesagt? Törichtes Mädchen! Was ist uns den Schamanen nur geworden?“

Das sagte er regelmäßig, deshalb machte sich Kashur keinerlei Gedanken mehr darum. Dennoch war sie von seinen Worten, seiner Forderung wie gebannt. Manchmal wollten die Ahnen ein Kind sehen. Das geschah unregelmäßig, aber es kam vor. Normalerweise bedeutete es, dass das fragliche Kind für den Weg des Schamanen vorgesehen war. Sie hatte nicht geglaubt, dass das Durotans Weg war. Es geschah nur selten, dass ein Schamane einen Stamm anführte, denn es gab zu vieles, womit er sich beschäftigen musste, um ein guter Anführer zu sein. Gleichzeitig den Geistern lauschen und seinen Clan leiten war mehr, als die meisten Orcs bewältigen konnten. Einer, der beides konnte, war in der Tat sehr selten.

Als Kashur nicht antwortete, knurrte Großvater und schlug mit seinem Stab auf den Boden.

Kashur zuckte zusammen. „Ich bringe ihn an seinem Inititationstag“, versprach sie ihrem Ahnen.

„Du hast es also endlich begriffen!“, grollte Tal’kraa und gestikulierte mit seinem Stab. „Wenn du versagst, werde ich dir meinen Stab auf den Kopf hauen anstatt auf die unschuldige Erde.“ Er konnte ein Lächeln nicht vollständig unterdrücken, als er das sagte.

Kashur lächelte zurück, während ihre Traumgestalt die Augen schloss. Trotz all seines Wütens und der Ungeduld war Tal’kraa weise und gutmütig, und er liebte sie inniglich. Sie wünschte sich, sie hätte ihn zu seinen Lebzeiten kennengelernt. Aber er war schon vor hundert Jahren gestorben.

Kashur schlug die Augen auf, und sie seufzte, als ihr Geist wieder vollständig in ihren richtigen Körper zurückgekehrt war. Sie war so alt wie Tal’kraa, als er gestorben war. Hände und Füße schmerzten vor Rheuma. Der Körper war schwach, das Haar schneeweiß. Sie wusste in ihrem Herzen, dass bald die Zeit kommen würde, da sie diesen Körper, diese Hülle das letzte Mal verlassen würde, um danach mit den Ahnen in dem heiligen Bergen zusammen zu sein. Drek’Thar, ihr Lehrling, würde dann der Ratgeber für Garad und den Rest des Frostwolf-Clans werden. Sie hatte Vertrauen in ihn, und sie freute sich eigentlich auf den Tag, an dem sie sich in pure Energie verwandeln würde.

Allerdings, grübelte sie, als das Sonnenlicht durch die Ritzen des Zelts drang und das Lied der Vögel ihre Ohren liebkoste, ein paar Dinge würde sie schon vermissen, die das Leben ihr schenkte. Einfache Dinge wie Vogelgesang, warmes Essen und die liebevolle Berührung ihrer Enkeltochter.

Bring ihn her!, hatte Großvater gesagt.

Und das würde sie tun.

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