Ich erinnere mich daran, wie wir das erste Mal auf die Tauren trafen. Ich erinnere mich an Cairne Bluthufs dunkle Stimme und sein ruhiges Gesicht. Ich erinnere mich, auf dem Boden gesessen zu haben, in einem Zelt, das in Windeseile abgerissen und wieder aufgebaut werden konnte, und dass ich mich dort seltsamerweise zu Hause fühlte. Wir rauchten Pfeife, teilten Essen und Trinken und redeten. Anfangs wirkten die Tauren wie Tiere auf mich. Aber sie waren voller Weisheit und Humor. Und als die erste Runde der Verhandlungen vorbei war, wusste ich, dass die Orcs in diesen Halbrindern einen ihrer wenigen Verbündeten gefunden hatten.
Es war Nacht geworden, während wir sprachen, eine sanfte Nacht, die zu diesem schönen Land passte. Wir verließen das Zelt und schauten empor zu den Sternen, die zu zahlreich waren, um sie zu zählen. Der Wind strich sanft über unsere Gesichter. Ich wandte mich Drek’Thar zu, um ihn um Rat zu fragen. Zu meinem Erstaunen sah ich Tränen in seinem Gesicht, die im Mondlicht glitzerten.
„So waren auch wir einst, mein Häuptling“, sagte er mit gebrochener Stimme. Er hob die Arme, warf den Kopf in den Nacken und rief während ihn der Wind umarmte und die Tränen auf seinem grünen Gesicht trocknete: „Verbunden mit der Erde, verbunden mit den Geistern. Stark auf der Jagd, gut zu unseren Kindern. Wir kannten unseren Platz in der Welt und achteten das Gleichgewicht von Geben und Nehmen. Die einzige Magie, die die Tauren praktizieren, ist die gute, die saubere Magie der Erde, und das sieht man dem Land an, so wie man Draenor einst ansah, wie sehr wir mit unserem Land verbunden waren.“
Ich dachte an die Bitte der Tauren, sie im Kampf gegen die bösen Zentauren zu unterstützen.
„Ja, ich fühle mit ihnen“, sagte ich. „Und es ist gut, wenn wir ihnen helfen können.“
Drek’Thar lachte, richtete seine blinden Augen auf mich und sah dabei mehr als jemand mit gesunden Augen. „Oh mein junger Thrall“, sagte er und lachte erneut, „du verstehst es noch nicht: Sie helfen uns.“
Durotan rannte so schnell er konnte mit seinen kraftvollen jungen Beinen. Er atmete hastig, Schweiß lief über seine rötlich-braune Haut, aber er zwang sich selbst, immer weiter zu rennen. Es war Sommer, und seine großen, breiten Füße waren nackt. Das Gras darunter war weich, und gelegentlich zertrat er eine grell-purpurne Blüte der Dassanblume. Der Geruch der zertretenen Pflanze, die als altes Heilmittel galt, stieg auf wie ein Segen und spornte ihn noch an, immer weiter und schneller zu laufen.
Er erreichte den Wald von Terokkar und drang in seine kühle graugrüne Tiefe ein. Er musste auf die Schlingwurzeln der edlen Bäume achten, um nicht darüber zu stolpern, und verlangsamte deshalb sein Tempo. Sanfte Lichter glühten im grünen Herzen dieses Forsts, und die Ruhe, die er ausstrahlte, stand im scharfen Kontrast zu Durotans Siegeswillen. Er lief wieder schneller, sprang über umgefallene Baumstämme, die mit Moos bedeckt waren, duckte sich unter Ästen mit der Eleganz eines Talbuks. Sein schwarzes Haar, lang und dick, flatterte hinter ihm her. Seine Lungen brannten, und seine Beine flehten ihn an aufzuhören, aber er biss die Zähne zusammen und ignorierte die Bitten seines Körpers. Er war ein Frostwolf, der Erbe des Clanhäuptlings, und kein Schwarzfels würde ihn...
Durotan hörte den Kriegsruf hinter sich, und sein Herz sank. Orgrims Stimme wurde so wie die von Durotan derzeit immer noch tiefer, bis sie irgendwann zu dem dunklen Grollen eines Erwachsenen werden würde, und Durotan musste zugeben, dass sie bereits recht beeindruckend klang. Er wollte seine Beine zwingen, sich noch schneller zu bewegen, aber sie waren so steif und schwer, als wären sie aus Stein. Bestürzt sah er aus dem Augenwinkel heraus, wie Orgrim in Sichtweite kam und dann, mit einem restlichen Energieschub, an ihm vorbeirannte.
Der Schwarzfels-Orc streckte seinen Arm aus, sprang nach vorn und berührte den vereinbarten Baumstumpf knapp vor Durotan. Orgrim lief noch ein Stück weiter, weil seine kraftvollen Beine, einmal in Bewegung, nicht so schnell stoppen konnten. Durotans Füße kannten diese Probleme nicht, der Erbe des Frostwolf-Clans fiel vornüber und konnte sich nicht mehr abfangen. Dann lag er mit dem Gesicht in der kühlen moosigen Erde und schnappte nach Luft. Er wusste, dass er hätte aufstehen müssen, um Orgrim erneut herauszufordern. Aber er war zu erschöpft, um irgendetwas anderes zu tun, als auf dem Waldboden zu liegen und sich zu erholen.
Neben sich hörte er, wie Orgrim dasselbe tat, und dann rollte der junge Orc auf seinen Rücken und begann zu lachen. Durotan fiel mit ein. Die Vögel und kleinen Tiere, die den Wald von Terokkar bewohnten, verhielten sich ganz still, während zwei Orcs fröhlich und laut herumalberten. Durotan dachte, während sich seine Lippen hinter den sich noch ausbildenden Hauern verzogen, dass das Gebrüll wahrscheinlich mehr wie der grimmige Kriegsschrei klang, mit dem eine Jagd angekündigt wurde.
„Ha!“, grunzte Orgrim, setzte sich auf und knuffte Durotan spielerisch. „Es ist zu einfach, ein Bürschchen wie dich zu schlagen.“
„Du hast so viele Muskeln, dass dein Hirn völlig verkümmert sein muss“, antwortete Durotan. „Können ist wichtiger als Kraft. Aber der Schwarzfels-Clan hat davon natürlich keine Ahnung.“
In ihren Sticheleien lag keine Bosheit. Die Clans waren zuerst besorgt gewesen über die Freundschaft der beiden Jungen. Aber Durotans trotziges Argument, dass nur, weil etwas noch nie getan worden war, es nicht doch trotzdem getan werden konnte, hatte die Anführer beider Clans tief beeindruckt. Dabei half, dass die Frostwölfe und die Schwarzfelsen traditionell vom selben Temperament waren. Hätte Durotan eine solche Freundschaft mit einem Mitglied des Kriegshymnen-Clans oder den Knochenmalmern angestrebt, die für ihren enormen Stolz und das Misstrauen anderen gegenüber bekannt waren, wäre die kleine Flamme der Freundschaft sicherlich früh erloschen. So aber schauten die Älteren zu und warteten darauf, dass der Reiz des Neuen abstarb und jeder der Jungen wieder an seinen alten Platz zurückkehrte. Womit die Familienordnung wieder hergestellt wäre, die es gab, solange sich irgendjemand erinnern konnte.
Doch sie wurden enttäuscht.
Der Frost des letzten Winters war dem Frühling gewichen, mittlerweile herrschte die Wärme des Sommers, und ihre Freundschaft bestand noch immer. Durotan wusste, dass sie beobachtet wurden, aber solange sich niemand einmischte, störte er sich nicht daran.
Durotan schloss die Augen und ließ seine Finger über das Moos streifen. Der Schamane sagte, dass alle Dinge Leben enthielten, Kraft und einen Geist. Sie waren tief durchdrungen von den Geistern der Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser und dem Geist der Wildnis. Angeblich konnten die Schamanen die Lebenskraft in der Erde und auch in totem Stein erkennen. Alles, was Durotan fühlte, war die leicht feuchte Kühle des Mooses und der Erde unter seinen Händen.
Doch die Erde zitterte!
Er riss die Augen auf, sprang auf, und seine Hände griffen instinktiv zu dem gespickten Stock, den er immer mit sich herumtrug. Orgrim bevorzugte einen schweren Hammer aus Holz und Metall, die traditionelle Waffe der Schwarzfelskrieger und eine vereinfachte Version des legendären Hammers, den er eines Tages erhalten sollte.
Die beiden Jungen tauschten einen Blick. Sie mussten nicht miteinander reden, um sich zu verständigen. War das, was die Erde zum Zittern brachte, vielleicht ein großer Spalthuf? Einer mit einem struppigen Pelz, aus dem man wundervolle Decken machen konnte, und aus herrlichem roten Fleisch, mit dem man fast den ganzen Clan ernähren konnte? Oder war es etwas Gefährlicheres?
Was lebte überhaupt im Wald von Terokkar? Sie waren hier erst einmal gewesen...
Gleichzeitig sprangen sie auf, und ihre kleinen dunklen Augen starrten in die auf einmal bedrohlich wirkende Düsternis zwischen den dicht beieinanderstehenden Bäumen, nach dem Tier Ausschau haltend, das dieses Geräusch verursacht haben könnte.
Bumm. Die Erde wurde wieder erschüttert. Durotans Herz schlug schneller. Wenn es ein kleiner Spalthuf war, konnten sie ihn vielleicht gemeinsam erlegen und die Beute mit ihren beiden Clans teilen. Er schaute zu Orgrim und sah die Augen des anderen vor Erregung leuchten.
Bumm.
Bumm.
Krach.
Beide Jungen schnappten nach Luft und zogen sich zurück, während sich das Geräusch näherte. Ein Baum, der nur wenige Yards von ihnen entfernt stand, zersplitterte direkt vor ihren Augen, und dann sahen sie das Ding, das die Geräusche verursachte und den uralten Baum ganz beiläufig zerschmettert hatte.
Es war gigantisch, hielt einen Knüppel, der so groß war wie die beiden Orcs, und es war definitiv kein Spalthuf.
Und es hatte sie gesehen.
Es öffnete das Maul und brüllte etwas, das kaum verständlich war, aber Durotan wollte auch keine Zeit darauf verschwenden herauszufinden, was das Ding wohl meinte.
Gleichzeitig wirbelten die beiden Jungen herum und flohen. Durotan wünschte sich sehnlichst, das Rennen nicht gelaufen zu sein, weil sich seine Beine noch nicht vollständig wieder erholt hatten. Doch sie bewegten sich, und der Drang zu überleben verlieh ihm zusätzliche Energie.
Wie konnten sie nur so tief in das Territorium der Oger geraten sein? Und wo war der Gronn? Durotan stellte sich vor, wie sich der Herr des Ogers seinen Weg durch die Bäume erzwang, so wie es vorhin der Oger getan hatte. Ein Gronn überragte einen normalen Oger, wie der wiederum einen Orc überragte. Er sah noch scheußlicher als ein Oger aus, als würde er aus Erde und nicht aus Fleisch bestehen.
Der Gronn war da, und er sah Durotan und Orgrim mit seinem blutunterlaufenen Auge. Dann schickte er ihnen den Oger hinterher.
Durotan und Orgrim waren noch nicht in dem Alter, in dem es ihnen erlaubt war, mit den Kriegern ihrer Clans auf Ogerjagd zu gehen, von der Jagd auf Gronns ganz zu schweigen. Sie waren nur dabei, wenn es sich um eine weniger gefährliche Beute handelte, zum Beispiel um einen Talbuk. Aber Durotan hatte sich immer nach dem Tag gesehnt, wenn er endlich eine dieser schrecklichen Kreaturen jagen durfte und diese Ehre für sich und seinen Clan erringen konnte.
In diesem Fall aber empfand er anders. Die Erde vibrierte weiterhin, und die Schreie des Ogers erklangen dicht hinter ihnen.
„Kleine Orcs zerschmettern! Ich zerschmettern!“ Das Brüllen, das folgte, ließ Durotans Ohren fast bluten.
Das Ding holte auf. Entgegen der panischen Anweisung seines Hirns, das seinem Körper befahl, schneller zu laufen – schneller, verdammt noch mal! –, konnte Durotan den Abstand nicht vergrößern. Das Wesen war schon so nahe, dass sein riesiger Schatten in dem letzten Rest Licht, das durch die Bäume drang, auf die beiden Orcs fiel.
Die Bäume standen an dieser Stelle weiter auseinander. Sie näherten sich dem Waldrand. Durotan lief weiter, erreichte eine Wiese und hatten wieder weiches Gras unter den Füßen. Orgrim war ein kleines Stück vor ihm. Verzweiflung durchfuhr Durotan, gefolgt von einer dunklen Welle der Wut.
Sie waren noch keine Erwachsenen! Sie waren noch nicht auf ihrer ersten richtigen Jagd gewesen, sie hatten noch nicht am Feuer mit den Mädchen getanzt, hatten ihre Gesichter noch nicht im Blut ihrer ersten selbst erlegten Beute gebadet. Es gab so vieles, was sie noch nicht gemacht hatten. In einem glorreichen Kampf zu sterben war eine Sache. Aber sie waren der schrecklichen Kreatur derart unterlegen, dass ihr Tod eher mitleideregend statt glorreich sein würde.
Er wusste, es würde ihn wertvolle Sekunden kosten, aber er konnte dem Drang nicht widerstehen, und so wandte Durotan den Kopf und schrie dem Oger einen Fluch zu, bevor der ihn mit seinem Knüppel platt schlug.
Was er sah, ließ ihm den Mund offen stehen.
Ihre Retter verursachten nicht mal ein Geräusch. Sie bewegten sich absolut leise, eine ruhige Flut von Blau, Weiß und Silber, die scheinbar aus der Luft kam. Durotan hörte das vertraute Geräusch von Pfeilen, die durch die Luft sirrten, und einen Herzschlag später klangen die Schreie des Ogers nicht mehr wütend, sondern gequält. Dutzende Pfeile, die auf seinem massigen bleichen Körper klein und unbedeutend wirkten, schienen ihm aus dem Leib zu sprießen und stoppten seinen tödlichen Vormarsch. Er brüllte und versuchte, die Pfeile abzuwischen.
Eine klare Stimme erklang. Obwohl er die Sprache nicht verstand, erkannte Durotan Worte der Macht, wenn er sie hörte, und seine Haut prickelte. Plötzlich war die Luft voller Blitze. Aber die waren anders als alle Blitze, die Durotan zuvor gesehen hatte, wenn ein Schamane sie erzeugte. Blaue, weiße und silberne Energie zuckte um den Oger, umwirbelte ihn und zog sich wie ein Netz zusammen. Das Monster brüllte wieder und fiel dann um, dass die Erde bebte.
Dann sah Durotan die Draenei. Ihre Körper wurden von einer Art Metallrüstung bedeckt, die die kühlen Farbtöne der magischen Energie widerspiegelte. Durotans Blick wurde davon verwirrt. Sie stürzten sich auf den Oger, Klingen blitzten, mehr Worte der Macht wurden gerufen, und Kommandos wurden erteilt. Durotan war gezwungen, die Augen zu schließen, um bei dem Anblick nicht den Verstand zu verlieren.
Schließlich wurde alles still, und Durotan öffnete wieder die Augen. Der Oger war tot. Seine Augen starrten ins Leere, seine Zunge quoll aus einem Maul hervor, dessen Lippen man abgeschnitten hatte, und sein Körper war mit rotem Blut und schwarzen Verbrennungen bedeckt.
Die Stille war so intensiv, dass Durotan seinen eigenen Atem und den von Orgrim hörte. Die beiden schauten sich an, erstarrt von dem, was sie gerade miterlebt hatten.
Beide hatten schon vorher Draenei gesehen, aber nur aus der Ferne. Sie kamen hin und wieder zu jedem Clan, um ihre sorgfältig gefertigten Werkzeuge, Waffen und Dekorationsgegenstände gegen die dicken Pelze von Waldtieren, grell gewobene Tücher und Rohmaterialien, die die Orcs herstellten, zu tauschen. So ein Treffen war immer interessant für die Clans, aber der Handel dauerte nie länger als ein paar Stunden. Die Draenei, blauhäutig, mit sanfter Stimme und zurückgezogen lebend, ließen niemanden an sich heran, und kein Clanführer hatte sie je in sein Zelt eingeladen. Die Beziehungen waren freundlich, aber distanziert, und jeder schien es dabei belassen zu wollen.
Der Anführer der Gruppe, die so unerwartet aufgetaucht war, kam auf Durotan zu. Vom Boden aus sah er, was ihm nie aufgefallen war, wenn er die Draenei aus der Ferne beobachtet hatte.
Ihre Beine verliefen nicht direkt senkrecht von ihrem Körper bis zum Boden, sondern bogen sich nach hinten, und sie endeten in gespaltenen Hufen, die in Metall eingeschlossen waren. Und sie hatten einen haarlosen dicken Schweif, der hin- und herfegte.
Der Anführer beugte sich über ihn und bot Durotan die starke blaue Hand an. Der blinzelte, blickte noch einen Moment auf die behuften Füße und den Reptilienschwanz und stand dann ohne Hilfe auf.
Er schaute in ein Gesicht, das mit merkwürdigen Plättchen belegt war, wie eine Rüstung. Schwarzes Haar und ein schwarzer Bart flossen über einen Waffenrock, und die stechenden, glühenden Augen hatten die Farbe eines Wintersees.
„Bist du verletzt?“, fragte der Draenei in gebrochenem Dialekt der Gemeinsamen Sprache der Orcs. Seine Zunge hatte offenbar Probleme, sich so zu schlängeln, dass sie die gutturalen Silben der Sprache erzeugte.
„Nur in meinem Stolz“, hörte Durotan Orgrim in seinem Clandialekt murmeln. Er wusste, dass sie sich blamiert hatten. Die Draenei hatten ihnen das Leben gerettet, und er war natürlich dankbar. Aber sie waren zwei stolze Jugendliche, die vor der Gefahr weggelaufen waren. Zugegeben, die Gefahr war äußerst ernst gewesen. Ein Treffer von dem riesigen Knüppel hätte ihn und Orgrim glatt zermatscht. Aber dennoch...
Durotan war nicht klar, ob der Draenei seinen Gefährten verstanden hatte. Aber er glaubte, ein Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen. Der Draenei schaute zum Himmel, und zu seiner Bestürzung erkannte Durotan, dass sich die Sonne dem Horizont näherte.
„Ihr beiden seid weit weg von zu Hause, und die Sonne geht unter“, sagte der Draenei. „Zu welchem Clan gehört ihr?“
„Ich bin Durotan vom Frostwolf-Clan und das ist Orgrim vom Schwarzfels-Clan.“
Der Draenei schaute verwundert. „Zwei verschiedene Clans? Habt ihr einander herausgefordert, dass ihr so weit weg von zu Hause seid?“
Durotan und Orgrim tauschten einen Blick. „Ja und nein“, sagte Durotan. „Wir sind Freunde.“
Die Augen des Draenei weiteten sich. „Freunde? Von zwei verschiedenen Clans?“
Orgrim nickte. „Ja“, bestätigte er und ergänzte verteidigend: „Es entspricht nicht der Tradition, ist aber auch nicht verboten.“
Der Draenei nickte, aber er schaute immer noch überrascht. Er musterte die beiden einen Moment lang, dann wandte er sich an zwei seiner Gefolgsleute und flüsterte etwas in seiner eigenen Sprache. Durotan empfand die Laute als sehr musikalisch, wie Wasser, das über Steine plätschert, oder wie den Ruf eines Vogels. Die anderen beiden Draenei hörten zu, dann nickten sie. Einer nahm einen Wasserbeutel von seinem Gürtel, trank einen tiefen Schluck und lief so geschmeidig und schnell wie ein Talbuk in Richtung Südwesten, wo das Land des Frostwolf-Clans lag. Der andere rannte nach Osten zum Schwarzfels-Clan.
Der Draenei, der gesprochen hatte, drehte sich wieder um. „Sie werden euren Familien sagen, dass ihr wohlauf und in Sicherheit seid. Ihr werdet morgen nach Hause zurückkehren. In der Zwischenzeit würde ich euch gern die Gastfreundschaft der Draenei anbieten. Mein Name ist Restalaan. Ich bin der Anführer der Wachen von Telmor, jener Stadt, mit der eure beiden Clans regelmäßig Handel treiben. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich keinen von euch beiden kenne, aber die jungen Orcs scheinen uns gegenüber auch ein wenig ängstlich zu sein.“
Orgrim brüstete sich. „Ich fürchte mich vor nichts und niemandem.“
Restalaan lächelte ein wenig. „Du bist vor dem Oger davongelaufen.“
Orgrims braunes Gesicht lief dunkel an, und in seinen Augen funkelte es ärgerlich. Durotan hingegen senkte leicht den Kopf. Wie er es befürchtet hatte, hatten Restalaan und seine Leute ihre Schmach mitbekommen und würden sie wohl damit aufziehen.
„Das“, fuhr Restalaan so ruhig fort, als hätte er nicht bemerkt, welche Reaktion seine Worte ausgelöst hatte, „war sehr weise von euch. Wart ihr nicht geflohen, würden wir zwei Leichen heim zu ihren Familien schicken statt zweier gesunder, kräftiger Jungen. Furcht ist keine Schande, Orgrim und Durotan. Nur wenn Angst euch davon abhält, das Richtige zu tun, müsst ihr euch schämen. In eurem Fall war Wegrennen eindeutig das Richtige.“
Durotan streckte sein Kinn vor. „Eines Tages werden wir ausgewachsen und stark sein. Dann werden die Oger uns fürchten.“
Restalaan bedachte sie mit einem nachsichtigen Ausdruck im Gesicht, und zu Durotans Überraschung nickte er. „Dem kann ich nur zustimmen“, sagte er. „Orcs sind hervorragende Jäger.“
Orgrim runzelte die Stirn und suchte in diesen Worten nach einer Beleidigung, fand aber keine.
„Kommt“, sagte Restalaan. „Im Wald von Terokkar gibt es bei Nacht Gefahren, denen sich auch die Wache von Telmor nicht unbedingt stellen möchte. Lasst uns gehen.“
Obwohl sie erschöpft waren, schaffte es Durotan, das Lauftempo mitzuhalten. Er wollte sich nicht zweimal an einem Tag blamieren. Sie liefen einige Zeit, und die Sonne versank hinter dem Horizont in einem herrlichen Schein von Rot, Gold und schließlich Violett. Er sah hin und wieder auf; er wollte nicht unhöflich wirken, war aber erpicht darauf, diese Fremden aus der Nähe zu betrachten statt wie sonst aus der Ferne. Er wartete darauf, die Anzeichen einer Stadt zu erblicken, Straßen, die von zahlreichen Füßen geschaffen waren, Feuer, die den Pfad beleuchten, die Silhouetten von Gebäuden gegen den dunklen Himmel – doch da war nichts. Und als sie weiterliefen, spürte er Angst in sich aufsteigen.
Was, wenn die Draenei gar nicht vorhatten, ihm und Orgrim zu helfen? Was, wenn sie sie gefangen nehmen wollten, um sie gegen ein Lösegeld eintauschen? Was, wenn sie sogar noch Schlimmeres vorhatten, sie einem dunklen Gott opfern oder...
„Da sind wir!“, sagte Restalaan und kniete sich nieder, wobei er ein paar Blätter und Tannennadeln beiseite schob. Orgrim und Durotan tauschten verwirrte Blicke. Sie waren immer noch mitten im Wald. Keine Stadt, keine Straßen, gar nichts. Die Orcs stellten sich dichter zusammen. Sicherlich waren sie unterlegen, aber sie würden nicht kampflos sterben.
Immer noch auf dem Nadelteppich kniend, legte Restalaan einen schönen grünen Kristall frei, der sorgfältig unter gewöhnlichem Geröll verborgen gewesen war. Durotan schaute fasziniert zu. Die Schönheit des Steins nahm ihn völlig gefangen. Er passte genau in seine Handflächen, und er brannte darauf, ihn zu berühren, die Glätte zu spüren, das seltsame Pulsieren auf seiner Haut. Irgendwie wusste er, dass der Stein eine Ruhe verströmte, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte.
Restalaan sprach eine Reihe von Lauten, die sich in Durotans Hirn einbrannten. „Kehla men samir, solay lamaa kahl.“
Der Wald begann zu schimmern, als wäre er nur eine Spiegelung auf der Oberfläche eines Sees, in den ein Stein geworfen worden war. Unvermittelt schnappte der junge Orc nach Luft. Das Leuchten wurde intensiver, und auf einmal gab es keinen Wald, keine Bäume mehr, dafür aber eine große gepflasterte Straße, die an einer Seite des Berges hinaufführte.
„Wir sind hier im Herzen des Ogerlandes, obwohl es das noch nicht war, als die Stadt vor langer Zeit erbaut wurde“, sagte Restalaan. „Wenn uns die Oger nicht sehen können, können sie uns auch nicht angreifen.“
Durotan fand endlich seine Sprache wieder. „Aber... wie?“
„Eine einfache Illusion, mehr nicht. Eine Lichtspiegelung.“
Irgendetwas an der Art, wie er das sagte, ließ Durotans Haut prickeln.
Als er den verwirrten Gesichtsausdruck des Orcs sah, ergänzte Restalaan: „Dem Auge kann man nicht immer trauen. Wer kann schon davon ausgehen, dass alles, was er sieht, auch so ist? Dass ihm das Licht alles offenbart, zu jeder Zeit? Denn Licht und Schatten können manipuliert werden, verändert, von denen, die wissen, wie es geht. Durch die magischen Worte und das Berühren des Kristalls habe ich den Lichtfall auf die Steine, die Bäume und die Landschaft geändert.
Und so entdeckt das Auge plötzlich etwas völlig anderes, als es zuvor zu sehen meinte.“
Durotan wusste, dass er immer noch dümmlich starrte. Restalaan lachte leicht. „Kommt, meine neuen Freunde. Kommt dorthin, wo noch niemand eures Volkes zuvor war. Begeht die Straßen meiner Heimat.“