Ner’zhul... Gul’dan. Zwei der finstersten Namen, die jemals die Geschichte meines Volkes beschmutzten. Allerdings erzählte mir Drek’Thar, dass Ner’zhul einst hoch geschätzt war und geliebt wurde. Nach seinen Worten war er jemand, der sich wirklich um die Belange seines Volkes kümmerte, dessen geistiger Führer er war. Mir fällt es schwer, dies mit dem in Einklang zu bringen, was aus Ner’zhul wurde. Aber ich versuche es, versuche es immer wieder, weil ich es verstehen will.
Und doch, so sehr ich es auch versuche, es gelingt mir nicht.
„Was?“
Gul’dan zuckte unter Ner’zhuls Wutschrei zusammen, während Durotan nicht einmal blinzelte.
„Ich habe den Propheten Velen freigelassen“, wiederholte der Häuptling des Frostwolf-Clans ruhig.
„Deine Befehle lauteten, ihn und die anderen gefangen zu nehmen!“ Ner’zhul wurde mit jedem Wort lauter. Was hatte sich Durotan nur dabei gedacht! Wie viele Informationen hätten sie Velen entreißen können! Was für Vorteile den Draenei gegenüber hätten sie erlangen können!
Doch viel wichtiger war, wie Kil’jaeden reagieren würde, wenn er erfuhr, dass Velen nicht gefangen genommen worden war. Er war offensichtlich von der Aussicht, den Draenei in seine Gewalt zu bekommen, sehr angetan gewesen. Und Ner’zhul hatte auch felsenfest mit dem Erfolg gerechnet und dem hohen Wesen Velen als Geschenk angeboten. Der Schamane erkannte, dass er weniger Wut empfand als vielmehr Angst davor, Kil’jaeden die schlechte Nachricht zu überbringen.
„Du hast mir befohlen, ihn gefangen zu nehmen, und das habe ich getan“, antwortete Durotan. „Aber es ist keine Ehre, wenn sich derjenige freiwillig ergibt. Du willst, dass wir ein Volk sind statt einzelner Clans. Doch das erreichen wir nicht ohne einen Ehrenkodex, der unverletzlich ist...“
Durotan sprach mit seiner rauen, tiefen Stimme weiter, aber Ner’zhul hörte ihm nicht mehr zu. In diesem Moment, in diesem gefrorenen Raum in der Zeit, erkannte Ner’zhul plötzlich, dass Kil’jaeden vielleicht nicht der wohlwollende Geist war, als der er sich ihm präsentiert hatte.
Währenddessen legte Durotan die Gründe für seine Entscheidung dar; dass der Schamane sich geistig irgendwo anders befand, bemerkte er gar nicht. Aber Ner’zhul spürte Gul’dans Blick, und eine neue Furcht stieg in ihm auf. Was, wenn Gul’dan die Zweifel seines Meisters erkannt hatte?
Was ist das Richtige? Wie kann ich am besten dienen?
Warum kommt Rulkan nicht mehr zu mir?
Er blinzelte und erwachte aus seinen Gedanken. Durotan redete nicht mehr; der große Häuptling beobachtete ihn eindringlich und wartete darauf, dass der Schamane das Wort ergriff.
Was sollte er nur tun? Durotan genoss hohes Ansehen unter den Clans. Wenn Ner’zhul ihn für seine Entscheidung bestrafte, würde der Frostwolf-Clan ihm – Ner’zhul – die Gefolgschaft verweigern, und viele der anderen Clans würden sich den Frostwölfen anschließen. Es würde einen tiefen Riss unter den Orcs geben. Wenn er aber Durotan die Befehlsverweigerung durchgehen ließ, war das ein schwerer Schlag gegen seine Autorität.
Er konnte sich nicht entscheiden. Er schaute Durotan an, der seine Stirn runzelte.
„Mein Herr ist derart erzürnt, dass ihm die Worte fehlen“, erklang Gul’dans glatte Stimme. Durotan und Ner’zhul richteten ihre Blicke auf den jungen Schamanen. „Du hast einen direkten Befehl unseres geistigen Oberhaupts missachtet, Durotan. Geh zurück in dein Lager, Durotan, Sohn des Garad. Mein Herr wird dir in Kürze einen Mitteilung zukommen lassen und dir seine Entscheidung verkünden.“
Durotan schaute wieder Ner’zhul an; seine Abscheu Gul’dan gegenüber stand deutlich in seinem Gesicht zu lesen. Ner’zhul riss sich zusammen, straffte sich, und als er dieses Mal das Wort ergriff, klang seine Stimme fest und entschieden. „Geh, Durotan. Du hast mich verärgert. Schlimmer noch, du hast das Wesen enttäuscht, dass uns seine Gunst erweist. Du wirst früh genug von mir hören.“
Durotan verneigte sich, ging aber nicht sofort. „Ich habe hier etwas für dich“, sagte er. Er überreichte Ner’zhul ein kleines Bündel.
Der Schamane nahm es mit zitternden Händen entgegen und hoffte verzweifelt, dass sowohl Durotan als auch Gul’dan das Zittern als Wut und nicht als Furcht auslegten.
„Die haben wir den Gefangenen abgenommen“, erklärte Durotan. „Unser Schamane glaubt, dass sie Kräfte enthalten, die nützlich im Kampf gegen die Draenei sein könnten.“
Er zögerte einen Moment, als wartete er darauf, dass Ner’zhul etwas darauf erwiderte. Als dieser nichts sagte und das Schweigen allmählich peinlich wurde, verneigte er sich erneut und ging. Für einen langen Moment sprachen weder Meister noch Schüler.
„Mein Herr, bitte vergib mir, dass ich das Wort für dich ergriff. Ich sah, dass du überwältigt warst und nicht sprechen konntest, und ich fürchtete, dass der Frostwolf-Junge deine Wut als Zögern missverstehen könnte.“
Ner’zhul schaute ihn misstrauisch an, aber seine Worte klangen aufrichtig, und Gul’dans Gesicht wirkte ehrlich. Und dennoch...
Es gab eine Zeit, da hätte Ner’zhul seinem Schüler seine Zweifel anvertraut. Seit Jahren bildete er ihn aus. Aber in diesem Moment, von Unsicherheiten zerrissen, wollte Ner’zhul nicht, dass Gul’dan irgendeine Schwäche an ihm bemerkte.
„Ich war tatsächlich von Wut überwältigt“, log er deshalb. „Ehre ist nichts wert, wenn sie sich gegen unser Volk stellt.“ Er bemerkte, dass er das Bündel tätschelte, das Durotan ihm gegeben hatte.
Gul’dan starrte es begierig an. „Was hat Durotan dir gegeben, um deine Wut aufzuwiegeln?“
Ner’zhul sah ihn überheblich an. „Ich werde es zuerst untersuchen und dann mit Kil’jaeden darüber sprechen, Schüler“, sagte er kühl. Er wartete auf eine Reaktion und hatte zugleich Angst vor ihr.
Für einen sehr kurzen Moment war Ärger in Gul’dans Gesicht zu erkennen. Dann verbeugte sich der jüngere Orc und sagte zerknirscht: „Selbstverständlich, mein Herr. Es war anmaßend von mir zu erwarten... Ich bin nur neugierig, ob der Frostwolf-Häuptling irgendetwas von Wert überbracht hat.“
Ner’zhul entspannte sich ein wenig. Gul’dan hatte ihm viele Jahre lang gut gedient und war in dieser Zeit immer loyal gewesen. Wenn die Zeit kam, würde er Ner’zhuls Nachfolger sein. Offenbar sah er – Ner’zhul – Gespenster.
„Natürlich“, sagte er deshalb freundlicher. „Ich werde es dir berichten, wenn ich etwas herausfinde. Immerhin bist du mein Schüler.“
Gul’dan strahlte. „Ich diene dir in allen Dingen, mein Herr.“ Er verneigte sich erneut und ließ Ner’zhul dann allein.
Der Schamane saß auf den Fellen, die ihm als Schlafstatt dienten, betrachtete das Bündel in seiner Hand und dankte seinen Ahnen, dass Durotan, obwohl er versagt hatte, dennoch etwas von Wert erbeutet hatte.
Er atmete tief durch, schlug das Bündel auseinander und sog dann scharf die Luft ein. In weiches Fell gehüllt waren zwei glühende Edelsteine. Behutsam berührte Ner’zhul den roten und schnappte erneut nach Luft.
Energie, Erregung und ein Gefühl der Macht durchflossen ihn. Auf einmal wollte er eine Waffe ergreifen, wollte ein Schwert oder eine Axt führen, obwohl er das als Schamane schon lange nicht mehr nötig hatte. Doch dieser Kristall erfüllte ihn mit bloßer Kampfeslaune. Was für ein Geschenk für die Orcs. Er musste erfahren, wie er diesen Kampfeswillen, der im Innern des Steins wohnte, für seine Zwecke nutzen konnte.
Es bedurfte einer großen Willensanstrengung, den roten Kristall wieder loszulassen. Er atmete tief, beruhigte sich selbst, bis sich sein Geist klärte.
Ner’zhul umfasste den gelben Kristall. Dieses Mal war er vorbereitet, denn wieder fühlte er die Wärme und ein Gefühl der Macht. Aber diesmal war da keine Erregung, kein Drang. Als er den gelben Kristall hielt, klärte sich sein Geist, und er erkannte, dass er bislang die Dinge nur durch einen Nebel gesehen hatte. Er wäre nicht in der Lage gewesen, es mit Worten zu beschreiben, aber auf einmal sah er mit einer Reinheit, einer Klarheit, einer Präzision, so eindringlich, so klar, dass Ner’zhul diese Offenbarung beinahe als Qual empfand.
Er warf den Kristall zurück in den Beutel. Die strahlende Klarheit verschwand wieder.
Ner’zhul lächelte. Wenn er Kil’jaeden schon nicht Velen persönlich übergeben konnte, so doch wenigstens diese wertvollen Dinge.
Kil’jaeden war außer sich.
Ner’zhul zitterte, warf sich vor ihm zu Boden und murmelte: „Vergib mir...“ Er schloss die Augen, erwartete, dass jeden Moment Schmerzen durch seinen Körper rasen würden, wie er sie noch nie verspürt hatte.
Doch plötzlich hörte Kil’jaeden auf zu wüten.
Ner’zhul wagte einen vorsichtigen Blick auf seinen Wohltäter. Kil’jaeden sah wieder ruhig aus und badete in dem strahlenden Licht.
„Ich bin... enttäuscht“, sagte das schöne Wesen. Es verlagerte das Gewicht von einem Huf auf den anderen. „Aber ich weiß zwei Dinge. Der Anführer des Frostwolf-Clans ist für dieses Versagen verantwortlich. Und: Du wirst ihn niemals wieder mit einer wichtigen Aufgabe betrauen.“
Ner’zhul war so erleichtert, dass er fast ohnmächtig wurde. „Natürlich nicht, mein Herr. Niemals wieder. Und... wir haben diese Kristalle für dich gefunden.“
„Die sind mir nur von geringem Nutzen“, entgegnete Kil’jaeden, und Ner’zhul zuckte erneut zusammen. „Aber ich glaube, dein Volk wird sie in seinem Kampf gegen die Draenei gut brauchen können. Es ist euer Kampf, nicht wahr?“
Die Angst sorgte dafür, dass sich Ner’zhuls Herz zusammen-krampfte. „Natürlich, mein Herr! Es ist der Wille der Ahnen.“
Kil’jaeden schaute ihn einen Moment lang an, seine leuchtenden Augen versprühten Flammen. „Es ist mein Wille“, sagte er nur, und Ner’zhul nickte eifrig.
„Natürlich, natürlich, es ist dein Wille, und ich werde ihm stets gehorchen.“
Kil’jaeden schien zufrieden mit der Antwort und nickte. Dann war er verschwunden, und Ner’zhul sank zurück und wischte sich den Angstschweiß vom Gesicht.
Am Rande seines Blickfeldes sah er etwas Weißes blitzen. Gul’dan hatte alles beobachtet.
Wir hatten den Angriff schon seit einiger Zeit geplant, und letzte Nacht, als die bleiche Dame nicht schien, fielen wir über die schlafende kleine Stadt her. Niemanden ließen wir am Leben, nicht einmal die Kinder. Ihre Vorräte, Nahrung, Rüstungen, Waffen und einige merkwürdige Gegenstände, die wir nicht kennen, wurden als Beute zwischen den beiden verbündeten Clans aufgeteilt. Ihr Blut, blau und dick, trocknet auf unseren Gesichtern, und wir feiern den Sieg mit einem Tanz.
Es stand noch mehr in der Nachricht, aber Ner’zhul las es nicht. Obwohl sich die Details unterschieden, war der Inhalt der Briefe immer der gleiche. Ein erfolgreicher Angriff, Ehre beim Töten, die Ekstase beim Blutvergießen. Ner’zhul warf einen Blick auf einen Stapel Briefe, die er am Morgen erhalten hatte. Es waren insgesamt sieben.
Mit jedem Monat, der verging, selbst während des langen, harten Winters, wurden die Orcs immer geübter im Töten der Draenei. Mit jedem Sieg hatten sie mehr über ihren Feind erfahren. Die Steine, die Durotan dem Schamanen gegeben hatte, erwiesen sich als äußerst wertvoll. Ner’zhul arbeitete mit ihnen, zuerst alleine, dann zusammen mit anderen Schamanen. Den roten Stein nannten sie das Herz der Wut. Wenn der Anführer eines Überfalls ihn trug, kämpfte nicht nur er selbst besser und mit mehr Wut, sondern auch jeder einzelne Krieger, der unter seinem Befehl stand. Der Stein wurde bei jedem neuen Mond von Clan zu Clan weitergereicht und war sehr begehrt.
Trotzdem wusste Ner’zhul, das niemand es wagen würde, ihn zu behalten.
Den zweiten Stein nannte er Leuchtender Stern. Trug ein Schamane den Kristall, erhöhten sich seine geistigen Fähigkeiten. Während das Herz der Wut Emotionen aufwallen ließ und sie noch erhöhte, hatte der Leuchtende Stern eine beruhigende Wirkung. Die Gedanken liefen schneller ab und waren präziser, und man konnte sich länger konzentrieren. Das Ergebnis war machtvolle Magie, vollkommen kontrolliert ein weiterer Schlüssel zum Sieg der Orcs. Die köstliche Ironie, dass sie die Magie der Draenei gegen sie selbst einsetzten, hob die Moral unter den Orcs zusätzlich an.
Aber all diese Dinge ermutigten Ner’zhul nicht. Die plötzlichen Zweifel, die ihm während des Gesprächs mit Durotan gekommen waren, fraßen sich bis in seine Knochen. Er versuchte sie niederzuzwingen. Gleichzeitig hatte er Angst, dass Kil’jaeden vielleicht seine Gedanken lesen konnte. Aber die Zweifel waren wie Maden, die sich von seinem Körper nährten und im Schlaf und wachen Zustand an ihm nagten. Kil’jaeden sah den Draenei sehr, sehr ähnlich. Konnte es sein, dass sie von derselben Art waren? Und wurde er, Ner’zhul, nur benutzt für etwas wie einen Bürgerkrieg?
In einer Nacht konnte er es nicht länger aushalten. Leise zog er sich an und kletterte auf seinen Wolf Skychaser, der sich streckte und ihn schläfrig anblinzelte.
„Komm, mein Freund“, sagte Ner’zhul liebevoll, als er sich auf den Rücken des großen Tiers setzte. Er war vorher noch nie zum heiligen Berg geritten. Immer war er, wie es die Tradition gebot, gelaufen. Aber er musste zurück sein, bevor er vermisst wurde, und er war sicher, dass die Dringlichkeit seiner Mission diesen Verstoß rechtfertigte.
Es war beinahe schon Frühling, fast schon Zeit für das Kosh’harg-Fest. Aber der Frühling erschien ihm trotzdem weit weg, als der kalte Wind in Ner’zhuls Nase biss. Er hüllte sich in seinen Mantel, dankbar für die Wärme des massigen Wolfs, und schützte sich so gut es ging vor dem Wind und dem Schnee.
Der Wolf hastete durch das Gestöber und kam dennoch nur langsam voran. Schließlich sah Ner’zhul auf und sah vor sich das perfekte Dreieck des heiligen Berges. Eine große Last fiel ihm vom Herzen. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er das Gefühl, das Richtige zu tun.
Skychaser würde beim Klettern Schwierigkeiten haben, deshalb befahl er ihm stehen zu bleiben, sich in eine Wehe einzugraben und dort eng einzurollen. Ner’zhul glaubte nicht, dass er länger als ein paar Stunden weg sein würde, und er beeilte sich, den Berg zu erklimmen. Sein Rucksack wog durch die Wasserschläuche schwer, doch sein Herz war leicht vor Erwartung.
Er hätte es schon vor langer Zeit machen sollen. Er hätte direkt zur Quelle der Weisheit gehen sollen, wie es die Schamanen vor ihm getan hatten. Er wusste nicht, warum er nicht schon vorher daran gedacht hatte.
Schließlich gelangte er an den Eingang und machte vor dem perfekten Oval eine Pause. So begierig er auch war, die Ahnen zu kontaktieren, er wusste, dass das Ritual eingehalten werden musste. Er entzündete das Bündel getrockneten Grases, das er bei sich trug, und ließ sich von dem süßen Geruch beruhigen und seine Gedanken reinigen. Dann schritt er voran, murmelte einen Spruch, um die Fackeln zu entzünden, die den Weg säumten. Ner’zhul war den Weg öfter gegangen, als er sich erinnern konnte. Seine Füße bewegten sich gleichmäßig wie zu einem stillen Rhythmus. Sanft führte der Weg nach unten, und Ner’zhuls Herz raste vor Hoffnung, während er in die Dunkelheit ging.
Es erschien ihm, als dauerte es diesmal länger, bis er wahrnahm, wie das Licht heller wurde. Ner’zhul betrat die Höhle und meinte, dass das Licht aus dem Becken dennoch schwächer leuchtete als in der Vergangenheit. Der Gedanke beunruhigte ihn.
Er nahm einen tiefen Atemzug und schalt sich dafür, dass er seine eigenen Ängste zu diesem heiligen Ort brachte. Er ging zum Becken, holte die Wasserschläuche aus seinem Rucksack und goss ihren Inhalt hinein. Das sanfte Plätschern war das einzige Geräusch und hallte als Echo in der Höhle wieder.
Ner’zhul setzte sich ans Becken, wartete und schaute in die leuchtende Tiefe.
Nichts geschah.
Das beunruhigte ihn nicht. Manchmal nahmen sich die Ahnen Zeit für eine Antwort.
Aber als immer mehr Zeit verging, begann er sich zu sorgen. Bewegt sagte er laut: „Ahnen, geliebte Tote! Ich, Ner’zhul, Schamane des Schattenmond-Clans, Führer eurer Kinder, flehe um eure Weisheit. Ich... ich habe den Weg des Lichts verloren. Die Zeiten sind dunkel, obwohl wir jetzt als Volk vereint sind und immer mehr an Stärke gewinnen. Ich stelle den Pfad, auf dem ich wandle, in Frage und suche eure Führung. Bitte, wenn ihr uns jemals geliebt habt und euch um die kümmert, die euch folgten, kommt zu mir und erteilt mir einen Rat, damit ich sie gut führen kann.“
Seine Stimme zitterte. Er wusste, wie pathetisch er klang, und einen Moment lang schämte er sich aus falschem Stolz. Aber dann wurde dieses Gefühl von dem Wissen weggefegt, dass er sich um sein Volk sorgte. Er wollte tun, was gut für seine Leute war. Nur wusste er nicht, was das sein sollte.
Das Becken begann zu leuchten. Ner’zhul beugte sich vor und schaute auf die Oberfläche, und im Wasser erkannte er ein Gesicht, das ihn ansah.
„Rulkan“, hauchte er. Tränen der Dankbarkeit verwischten ihr Bild. Er blinzelte, und ein heftiger Schmerz durchfuhr sein Herz, als er den Blick in ihren geisterhaften Augen sah.
Sie waren voller Hass.
Ner’zhul zuckte zurück, als hätte man ihn geschlagen. Andere Gesichter erschienen im Wasser, Dutzende. Alle zeigten sie den gleichen Ausdruck. Ihm wurde übel, und er schrie: „Bitte helft mir! Gewährt mir eure Weisheit, damit ich in euren Augen wieder würdig bin!“
Rulkans ernste Miene wurde etwas sanfter, und eine Spur Mitleid klang in ihrer Stimme mit, als sie sagte: „Du kannst nichts tun, nicht jetzt, nicht in hundert Jahren, um in unseren Augen wieder würdig zu werden. Du bist nicht der Erretter der Orcs, sondern ein Verräter an unserem Volk.“
„Nein!“, kreischte er. „Nein, sagt mir, was ich tun muss, und ich werde es tun. Es ist noch nicht zu spät! Sicherlich ist es noch nicht zu spät...“
„Du bist nicht stark genug“, sagte eine andere grollende Stimme. „Wenn du es wärst, du wärst nie so weit auf diesem Pfad gegangen. Du hättest dich nicht so leicht verleiten lassen, den Willen dessen zu erfüllen, der unserem Volk keine Liebe entgegenbringt.“
„Aber... ich verstehe nicht“, murmelte Ner’zhul. „Rulkan, du bist zu mir gekommen. Ich habe dich gehört. Du, Grekshar, hast mich unterwiesen. Ihr wart es, die wollten, dass ich Kil’jaeden diene.“
Sie antworteten nicht, sie brauchten es nicht. Als die Worte über seine Lippen kamen, verstand er, wie grundlegend er in die Irre geführt worden war.
Die Ahnen waren ihm nie erschienen. Es war alles eine List von Kil’jaeden gewesen, wer immer oder was immer er auch war. Sie hatten recht, Ner’zhul zu misstrauen. Einem Schamanen, der sich so leicht hinters Licht führen ließ, konnte man kein Vertrauen schenken. Es war ein einziges Netz aus Lügen, Täuschung und Manipulation, in dem sich Ner’zhul wie ein Insekt verfangen hatte.
Fast hundert Draenei waren tot. Es gab kein Zurück mehr, und die Ahnen würden ihnen nicht mehr helfen. Er konnte den Visionen nicht mehr trauen, denn sehr wahrscheinlich war alles, was er in ihnen sah, Lüge. Das Schlimmste dabei war, dass er sein Volk demjenigen ausgeliefert hatte, der trotz seines schönen Äußeren und seiner süßen Worte nicht ihr Freund war.
Als er in die Geisteraugen seiner Geliebten starrte, wandte sie sich von ihm ab. Jedes Einzelne der unzähligen Gesichter, die sich im Wasser spiegelten, tat dies.
Ner’zhul schwindelte angesichts der Erkenntnis, was er angerichtet hatte. Es gab nichts, was er noch tun konnte. Nichts außer auf dem Weg weiterzugehen, den Kil’jaeden für ihn angelegt hatte. Und er konnte zu den Ahnen beten, auch wenn sie ihm nicht länger zuhörten, dass die Dinge irgendwie doch noch in Ordnung kamen. Er vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.
Im Dunkeln hinter einer Biegung des Tunnels hörte Gul’dan, wie sein Herr schluchzte, und er lächelte.
Kil’jaeden würde dankbar für diese Nachricht sein.