14

Drek’Thar weint, während er mir von diesen Dingen erzählt. Tränen fließen aus seinen Augen, die die Gegenwart nicht mehr sehen können, aber mit voller Schärfe die Vergangenheit erkennen. Ich kann ihm keinen Trost bieten. Dass die Elemente wieder seinem Ruf folgen, meinem und dem jedes Schamanen, ist ein Zeichen ihres Mitgefühls und ihrer Vergebung, ihrem Bestreben, das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Der Berg, der immer noch die Dunkelheit beherbergt, befindet sich nicht auf diesem Kontinent. Wir sind weit weg von seiner Bösartigkeit, aber seinen Schatten haben wir noch nicht verlassen. Der Schatten, der vor so langer Zeit beschworen wurde, an dem Tag nach der Besudelung des Ortes, der einst unsere heiligste Stätte war.

Der Schatten der schwarzen Hand.


Es fiel Durotan schwer einschlafen. Ähnlich erging es Draka, wie er feststellte, da sie sich immer wieder herumwarf, drehte und seufzte. Schließlich gab er auf, lag wach und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Alles in ihm schrie, dass es falsch war, diese Magie zu benutzen, die so offensichtlich vom Leiden anderer Wesen lebte. Aber was konnte er tun? Die Elemente hatten die Schamanen verlassen, obwohl die Ahnen selbst es gewesen waren, die den Orcs diesen Auftrag gegeben hatten. Ohne Magie als zusätzliche Waffe würde die überlegene Technologie der Draenei die Orcs auslöschen.

Er stand auf und verließ das Schlafzeit. Er machte ein Feuer, um die Kälte am frühen Morgen zu vertreiben, und aß kaltes rohes Fleisch. Als er fertig war und der Himmel allmählich heller wurde, sah er einen Kurier eintreffen. Ohne anzuhalten warf er Durotan eine Schriftrolle zu und ritt weiter. Durotan entrollte das Pergament und schloss die Augen angesichts ihres Inhalts.

In zwei Tagen würde ein neues Treffen stattfinden, und die Häuptlinge würden einen Anführer wählen, der für sie alle sprechen sollte und der in ihrem Namen Entscheidungen traf. Sie würden jemanden wählen, der fortan den Titel „Kriegshäuptling“ trug.

Eine weiche Hand strich ihm durchs Haar. Er schaute auf und sah Draka.

„Du könntest genauso gut zu Hause bleiben“, sagte sie rau. „Der Ausgang ist schon längst entschieden.“

Sie hatte ihm über die Schulter geschaut und den Inhalt der Botschaft gelesen.

Er lächelte sie traurig an. „Du warst früher doch nicht so zynisch, Geliebte.“

„Da lebte ich auch noch nicht in solchen Zeiten.“ Das war alles, was sie sagte. In seinem Herzen wusste er, dass sie recht hatte. Es gab nur einen Orc, der bekannt und charismatisch genug war, um diese Wahl zu gewinnen. Grom Hellschrei mochte Schwarzfaust ein wenig Paroli bieten, aber Hellschrei war zu impulsiv, als dass man ihn zum Kriegshäuptling wählen konnte. Schwarzfaust hatte von Anfang an im Zentrum der Geschehnisse gestanden, zuerst als Gegner und dann als Ner’zhuls Unterstützer. Seine Schamanen waren es gewesen, die zuerst Hexenmeister wurden, und er hatte mehr Siege gegen die Draenei errungen als jeder andere.

Draka hatte wie so oft recht. Und zwei Tage später beobachtete Durotan gelangweilt, wie die Stimmen der Häuptlinge ausgezählt wurden und wie Schwarzfaust vom Schwarzfels-Clan zum Kriegshäuptling ernannt wurde. Er spürte mehrere Blicke auf sich gerichtet, als Gul’dan Schwarzfausts Namen verkündete. Er sah, wie der große Orc aufstand und mit falscher Bescheidenheit die Wahl annahm. Durotan dachte gar nicht daran, seinen Protest kundzutun. Was hätte er auch vorbringen können? Er stand bereits unter Beobachtung, weil man ihn verdächtigte, seinem Volk gegenüber nicht ausreichend loyal zu sein. Sein Wort würde kaum etwas ändern.

Er schaute zu Orgrim hinüber. Auf alle anderen musste es so wirken, als würde der Stellvertreter des Schwarzfels-Clans Schwarzfaust unterstützen. Aber Durotan kannte Orgrim besser. Seine aufeinander-gepressten Lippen zeugten davon, dass Orgrim genauso wie Durotan nicht mit der Entscheidung einverstanden war. Aber auch er konnte nichts gegen Schwarzfaust vorbringen. Durotan hoffte, dass vielleicht Orgrims Nähe zu Schwarzfaust helfen würde, den Schaden, den der Häuptling der Schwarzfels-Orcs anrichten konnte, zu begrenzen.

Schwarzfaust stand vor der Versammlung und lächelte der jubelnden Menge zu. Durotan konnte nichts gegen ihn unternehmen, aber genauso wenig konnte er sich überwinden, einem Orc zuzujubeln, der all das darstellte, was er verachtete.

Orgrim stand links hinter seinem Anführer. Gul’dan, der, da war sich Durotan sicher, die Dinge irgendwie manipulierte, trat zurück und blickte Schwarzfaust respektvoll an.

„Meine orcischen Brüder und Schwestern!“, rief Schwarzfaust. „Ihr ehrt mich mit eurer Wahl. Ich werde mich als würdiger Kriegshäuptling erweisen. Tag für Tag verbessern wir unsere Waffen und unsere Rüstungen. Und jetzt weisen wir die unverlässlichen Elemente zurück und heißen die wahre Macht willkommen Macht, die unsere Hexenmeister kontrollieren und ohne Bitten oder Betteln einsetzen können. Das ist wahre Befreiung! Das ist Stärke! Wir haben ein klares Ziel. Wir werden die Draenei vernichten. Sie werden sich den Kriegern und Hexenmeistern nicht widersetzen können, der alles mit sich reißenden Horde. Wir sind ihr schlimmster Albtraum. Auf in den Kampf!“ Er hob die Arme und brüllte: „Für die Horde!“

Und tausende Stimmen riefen: „Für die Horde! Für die Horde! Für die Horde!“


Durotan und Draka kehrten kurz nach Schwarzfausts Wahl nach Hause zurück. Die Schamanen blieben, um die Ausbildung zu absolvieren. Als sie einige Tage später nachkamen, sah Durotan ihren Stolz; diese neue Magie hatte ihnen ihr Selbstvertrauen zurückgegeben. Dafür war Durotan dankbar. Er liebte seinen Clan und wusste, dass es alles gute Orcs waren. Er wollte nicht, dass sie verzweifelten.

Sie übten ihr Können zuerst an Tieren, begleiteten die Jagdgruppen und hetzten ihre merkwürdigen Kreaturen auf Spalthufe und Talbuks. Durotan war immer noch betrübt wegen der Qualen, welche die angegriffenen Tiere erlitten. Mit der Zeit litten die Tiere weniger, nicht weil die Qualen erträglicher wurden, sondern weil die Hexenmeister lernten, schneller und effektiver zu töten. Die seltsamen „Helfer“ oder „Haustiere“, wie einige Hexenmeister ihre Wesen liebevoll nannten, schienen sich zu bewähren.

Schwarzfaust genoss seine neue Position. Beinahe täglich brachten Kuriere neue Schriftrollen ins Lager. Als sich erneut ein Reiter auf einem Wolf näherte, erkannte ihn Durotan schon von Weitem an der Kleidung: Der strahlende schwarze Umhang war so etwas wie ein Kennzeichen von Kur’kul, einem von Schwarzfausts persönlichen Hexenmeistern. Er hielt seinen Wolf an, stieg ab und verneigte sich vor Durotan.

„Häuptling, eine Nachricht für dich vom Kriegshäuptling“, sagte er mit überraschend angenehmer Stimme.

Durotan nickte und bedeutete dem Hexer, ihm zu folgen. Sie gingen ein Stück, bis er sicher war, dass niemand sie hören konnte.

„Was ist passiert, dass Schwarzfaust mir einen seiner wichtigsten Hexenmeister schickt?“, fragte er.

Kur’kul lächelte eisig. „Ich reite zu allen Clans.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er Durotan auf seinen Platz verweisen wollte, denn was er sagte, war keine besondere Ehre für die Frostwölfe.

Durotan grunzte und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

„Am wichtigsten für einen Sieg über die Draenei ist unsere Anzahl“, fuhr Kur’kul fort. „Sie sind wenige, wir sind viele. Aber wir müssen noch mehr werden.“

„Was wünscht Schwarzfaust denn?“, knurrte Durotan. „Sollen wir das Kämpfen zugunsten der Paarung aufgeben?“

Kur’kul lächelte nicht. „Nicht weniger kämpfen, aber... ja, ermutige deine Krieger, sich fortzupflanzen. Für jedes Kind, das in deinem Clan geboren wird, erhältst du eine Belobigung. Aber unglücklicherweise brauchen wir jetzt mehr Krieger und nicht in sechs Jahren.“

Durotans Blick gefror. Er hatte seine Bemerkung als Witz gemeint. Was geschah hier?

„Die Kinder beginnen ihr Training mit sechs Jahren“, sagte Kur’kul. „Sie sind mit zwölf stark genug zum Kämpfen. Ruf all deine Jünglinge zusammen.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Durotan. „Für was soll ich sie zusammenrufen?“

Kur’kul seufzte. „Ich habe die Fähigkeit, ihr Wachstum zu fördern“, erklärte er dann. „Wir werden... sie ein wenig entwickeln. Wenn wir das mit allen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren so machen, werden wir die Zahl der Krieger im Feld um fast fünfzig Prozent erhöhen.“

Durotan konnte nicht glauben, was er hörte. „Ganz sicher werdet ihr das nicht!“

„Es tut mir leid, aber das ist nicht deine Entscheidung. Es ist ein Befehl. Jeder Clan, der sich dem widersetzt, begeht Verrat an der Horde und wird ins Exil geschickt, und der Anführer und seine Gefährtin werden exekutiert.“

Durotan war fassungslos.

Kur’kul übergab ihm ein Schreiben. Durotan las es und schüttelte sich vor Wut, als er bestätigt bekam, dass der Hexer die Wahrheit sagte. Er und Draka würden getötet und der Frostwolf-Clan ins Exil geschickt werden, wenn er sich weigerte.

„Du stiehlst ihnen die Kindheit!“, warf er dem Hexer vor.

„Im Austausch für ihre Zukunft, ja. Ich ziehe etwas Leben aus ihnen heraus, nur sechs Jahre. Ihnen wird nichts geschehen. Den Schwarzfelskindern ist auch nichts geschehen. Schwarzfaust hat darauf bestanden, dass seine eigenen drei die Ersten sind, die derart geehrt werden. Und im Gegenzug können sie jetzt für den Ruhm der Horde kämpfen.“

Durotan war nicht im Mindesten überrascht darüber, dass Schwarzfaust seinen Kindern das angetan hatte. Zum ersten Mal war Durotan dankbar, dass es nur so wenige Kinder in seinem Clan gab. Es waren nur fünf, die älter als sechs Jahre waren und jünger als zwölf. Er las die Nachricht erneut, war zugleich wütend und angewidert. Diese Kinder sollten die Möglichkeit haben, einfach Kinder zu sein.

Der Hexenmeister wartete ruhig. Schließlich sagte Durotan mit einer Stimme, die absichtlich schroff klang, um seine Qual zu verbergen: „Tu, was du tun musst!“

„Für die Horde!“, sagte Kur’kul.

Durotan antwortete nicht.

Was als Nächstes geschah, war barbarisch.

Durotan zwang sich, ruhig zu bleiben, während Kur’kul den magischen Spruch über die fünf Frostwolfkinder sprach. Sie wanden sich vor Qual, schrien und wälzten sich auf dem Boden, während ihre Knochen gestreckt wurden, als Haut und Muskeln in unnatürlichem Wachstum gezerrt wurden. Ein schimmernder grüner Strahl verband den Hexer mit den Kindern, als würde er ihnen ihr Leben aussaugen. Der Ausdruck auf Kur’kuls Gesicht war ekstatisch. Die Kinder litten, doch er auf jeden Fall nicht. Einen schrecklichen Moment lang dachte Durotan, dass der Hexenmeister nicht beim Alter von zwölf aufhören würde, sondern weitermachte, bis sie alt und völlig ausgelaugt waren.

Aber dann hörte Kur’kul doch rechtzeitig auf. Die jungen Orcs, nun keine Kinder mehr, lagen am Boden. Eine Weile lang wollten sie nicht erwachen, und als sie dann endlich wieder zu sich kamen, weinten sie leise und schnauften, als würde keine Kraft mehr in ihnen stecken.

Durotan wandte sich an den Hexenmeister. „Du hast getan, weswegen du gekommen bist. Und jetzt geh!“

„Häuptling Durotan“, wollte Kur’kul widersprechen, „du...“

Durotan fasste ihn vorn an seinem roten Gewand. Angst flackerte in den Augen Kur’kuls.

„Weg mit dir! Sofort!“

Durotan ließ ihn los, und Kur’kul stolperte rückwärts, fiel fast hin. Er schaute Durotan finster an.

„Schwarzfaust wird nicht erfreut sein, das zu hören“, knurrte er.

Durotan sagte nichts. Jedes weitere Wort hätte seinen Clan verdammen können, das wusste er. Stattdessen drehte er sich um, schüttelte sich vor Wut und ging zu den Kindern, die keine mehr waren.

Einige Zeit lang danach wurde nichts mehr vom Frostwolf-Clan verlangt, außer intensiver Ausbildung und regelmäßiger Berichte darüber. Durotan war darüber genauso erleichtert wie besorgt. Er wusste, dass Schwarzfaust und Gul’dan es auf ihn abgesehen hatten, und sie würden ihm dann das Leben schwer machen, in dem sie ihm einen entsprechenden Auftrag erteilten.

Er wurde nicht enttäuscht.

Durotan begutachtete gerade neue Rüstungen, die der Schmied hergestellt hatte, als der Wolfsreiter ins Lager der Frostwölfe kam. Ohne anzuhalten warf er Durotan ein Pergament zu, riss sein Reittier herum, und weg war er. Durotan entrollte das Schreiben, und während er las, weiteten sich seine Augen. Er sah den sich entfernenden Boten nach, der kein offizieller Kurier war.

Alter Freund,

ich bin mir sicher, es wird Dich nicht überraschen zu erfahren, dass man dich beobachtet. Sie werden Dir eine Aufgabe geben, eine, von der sie wissen, dass Du sie schaffen wirst. Und Du musst den Auftrag ausführen! Ich weiß nicht, was sie machen, wenn Du ablehnst, aber ich befürchte das Schlimmste!

Es gab keine Unterschrift, und die Botschaft brauchte auch keine. Durotan kannte Orgrims klobige Schrift. Er zerknüllte das Pergament, warf es ins Feuer und sah zu, wie es sich rollte und drehte wie ein lebendes Ding, während das Feuer es fraß.


Orgrim hatte die Warnung noch gerade rechtzeitig geschickt. Am selben Nachmittag erschien eine Reiterin, die den offiziellen Waffenrock der Kuriere trug, und übergab dem Häuptling der Frostwölfe ein weiteres Pergament. Durotan nickte, als er es entgegennahm, und legte es beiseite. Er wollte es nicht sofort lesen.

Doch die Kurierin schaute unbehaglich. Sie stieg nicht ab, aber sie riss ihren Wolf auch nicht herum und verließ das Frostwolf-Lager.

„Mir wurde aufgetragen, auf eine Antwort zu warten“, sagte sie nach einer Weile peinlichen Schweigens.

Durotan nickte erneut, dann entrollte er das Pergament. Die Schrift war exzellent, und er wusste, dass Schwarzfaust die Botschaft diktiert hatte. Der Kriegshäuptling, so intelligent und schlau er auch war, war alles andere als ein Literat.

Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Durotan versuchte sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er aus dem Augenwinkel heraus sah, dass Draka ihn aufmerksam betrachtete.

An Durotan, Sohn des Garad, Häuptling des Frostwolf-Clans, Schwarzfaust, Kriegshäuptling der Horde, entsendet Dir seine Grüße. Du hattest Gelegenheit, Dich von den Fähigkeiten meiner neu ausgebildeten Hexenmeister zu überzeugen. Es ist an der Zeit, unsere Feinde anzugreifen. Telmor, die Stadt der Draenei, liegt nahe an Eurem Gebiet. Du wirst angewiesen, eine Kriegsgruppe zu bilden und die Stadt anzugreifen. Orgrim hat mir erzählt, dass Ihr beiden als Jungen in der Stadt wart. Und dass Du das Geheimnis kennst, wie die Draenei ihre Stadt unsichtbar machen. Orgrim sagte mir auch, dass Du ein exzellentes Gedächtnis hättest und dass Du dich daran erinnern würdest, wie man die Stadt unseren Kriegern für einen Angriff sichtbar macht.

Ich bin mir sicher, dass ich Dir nicht zu sagen brauche, was die Zerstörung dieser Stadt für die Horde bedeutet. Und auch für den Frostwolf-Clan. Antworte unverzüglich auf diesen Brief, und wir werden mit den Vorbereitungen für den Angriff beginnen.

Für die Horde!

Die Unterschrift war ein Abdruck von Schwarzfausts rechter Hand, die mit Tinte überzogen war.

Durotan war außer sich. Wie hatte Orgrim dem Kriegshäuptling das alles nur verraten können? Folgte er Schwarzfaust wirklich so bedingungslos, dass er ihm von der Sache erzählt hatte? Der Ärger ebbte ab, als er erkannte, dass die Informationen, auf die sich Schwarzfaust bezog, im Laufe der letzten Jahre leicht in ganz normalen Unterhaltungen gefallen sein konnten. Schwarzfaust war intelligent genug, er sammelte solches Wissen und benutzte es dann, wenn er es brauchte.

Durotan überlegte, ob er einfach lügen sollte und behaupten, dass er sich nicht an die Worte erinnern konnte, mit denen Restalaan die Illusion aufgelöst hatte, die die Stadt sicher und verborgen vor den Augen der Oger hielt und inzwischen auch vor denen der Orcs. Es war lange her, und er hatte sie nur einmal gehört. Jeder andere hätte sie längst vergessen.

Aber die Drohung in dem Brief war offensichtlich. Wenn Durotan den Angriff ermöglichte, würde er seine Loyalität der Horde gegenüber unter Beweis stellen. Wenn er ablehnte, selbst wenn er behauptete, sich nicht mehr an die Worte zu erinnern, so musste er, so wie Orgrim es ausgedrückt hatte, das Schlimmste fürchten.

Die Kurierin wartete.

Durotan traf die einzige mögliche Entscheidung.

Er schaute in das unbeteiligt wirkende Gesicht der Reiterin. „Ich werde tun, was der Kriegshäuptling verlangt. Für die Horde.“

Die Kurierin schaute sowohl erleichtert als auch überrascht. „Der Kriegshäuptling wird zufrieden sein, das zu hören. Ich wurde angewiesen, dir auch dies hier zu geben.“ Sie griff in ihren ledernen Rucksack und holte einen kleinen Beutel heraus, den sie Durotan reichte. „Deine Krieger und deine Hexenmeister werden damit üben müssen.“

Durotan nickte. Er wusste, was sich in dem Beutel befand: das Herz der Wut und der Leuchtende Stern, die er Velen abgenommen hatte. Diese Steine waren vielleicht das Einzige, das ihn gerettet hatte, als er Ner’zhuls Wut heraufbeschwor. Er würde sie gegen ebenjene Leute einsetzen, denen er sie weggenommen hatte.

„Der Kriegshäuptling wird dich bald kontaktieren“, sagte die Kurierin, hob die Hand und trieb dann ihren Wolf an. Durotan sah ihr nach, während sie aus dem Lager ritt. Draka trat neben ihn. Er gab ihr den Brief und ging ins Zelt.

Kurz darauf kam sie zu ihm, schlang die Arme um ihn, während er das Gesicht in die Hände legte. Die Entscheidung, die er hatte treffen müssen, war fürchterlich.


Ein paar Tage später sammelte sich die Kriegsgruppe im Lager der Frostwölfe. Die meisten Krieger und Hexenmeister waren vom Schwarzfels-Clan, aber es fand sich mehr als ein Kriegshymnen-Gesicht in der Menge und mehrere vom Clan der Zerschmetterten Hand. Selbst der Begriffsstutzigste der Frostwölfe konnte das Mistrauen und die Verachtung der anderen spüren. Durotan wusste, dass es kein Zufall war, dass die anderen Orcs von den kriegerischsten Clans stammten. Sie sollten sicherstellen, dass die Frostwölfe in ihrer Kriegswut nicht wankten. Durotan fragte sich, wer wohl den Befehl hatte, ihm die Kehle beim geringsten Zweifel an seiner Loyalität aufzuschlitzen. Er hoffte, dass es nicht Orgrim war. Die beiden alten Freunde tauschten nur ein paar Worte, und Durotan erkannte, dass Orgrim litt. Dafür war er dankbar.

Ein Kurier war vorausgeschickt worden, deshalb brannten ausreichend Lagerfeuer, und es gab Essen und Trinken für die hungrigen „Gäste“. Viele der Frostwölfe gaben ihr eigenes Lager für die Besucher her, damit die, die am nächsten Morgen in den Kampf zogen, gut schliefen. Durotan traf sich mit Orgrim und den anderen, die den Angriff leiten sollten, und sie zeichneten die Umrisse der Stadt auf, so gut sie sich daran erinnern konnten.

Bei Tagesanbruch war der Kriegstrupp, eine kleine Armee von Orcs, unterwegs. Er zog über die Wiesen, die den Wald von Terokkar umgaben, wo vor so langer Zeit Orgrim und Durotan als Jugendliche von den Ogern überrascht worden waren.

Keiner der schwerfälligen Riesen ließ sich blicken, während sich die Orcs zügig ihrem Ziel näherten. Durotan war ganz vorn und ritt neben Orgrim auf Nightstalker. Sie waren still, aber Durotan entging nicht, dass der Blick von Orgrims grauen Augen für eine Weile an der Stelle verweilte, wo zwei Jungen dereinst von Draenei Kriegern gerettet worden waren.

„Es sind viele Jahre vergangen, seit wir diesen Weg gegangen sind“, sagte Durotan.

Orgrim nickte. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir in die richtige Richtung reiten. Der Wald und die Felder haben sich verändert, und es gibt herzlich wenige Landschaftsmerkmale.“

Durotan sagte schwer: „Ich erinnere mich an den Weg.“ Er wünschte, es nicht zu tun. Ein Haufen Steine hier, ein merkwürdig gewachsenes Gewächs dort – es reichte ihm aus, um den Weg zu finden. Für die anderen sah es nach nichts aus. Schwarzfaust hatte seinen Truppen gesagt, dass die Draenei ihre Städte perfekt verbargen. Trotzdem hörten Durotans scharfe Ohren leicht besorgtes Murmeln. Er fröstelte.

„Wir nähern uns“, sagte er. „Wir müssen leise sein. Es ist gut möglich, dass wir bereits gesehen wurden.“

Die Orcs des Kriegstrupps verstummten. Orgrim schickte einige Leute als Kundschafter aus. Durotan dachte an jenen fernen Tag; da war er ebenfalls besorgt gewesen, wohin sie gingen und was die Draenei mit ihnen tun würden.

Er hielt seinen Wolf an und stieg ab. Nightstalker schüttelte den Kopf und strich sich über die Ohren. Es war hier oder ganz nah hier. Durotan spürte eine verzweifelte Hoffnung, dass sich auch die Draenei daran erinnerten, dass sie ihm ihr Geheimnis offenbart hatten, und dass sie deshalb den magischen Stein anderswo versteckt hatten.

Durotan konzentrierte sich, bewegte sich langsam, hörte das Klirren des Zaumzeugs und das sanfte Klappern der Rüstungen, während die anderen ihn beobachteten und warteten. Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, sah wieder Restalaan, der auf dem Boden kniete, Blätter beiseite schob und Tannennadeln...

Durotan öffnete die Augen, bewegte sich ein paar Schritte nach links. Er sandte ein schnelles Gebet an die Ahnen. Ob er dabei um Hilfe beim Finden bat oder um genau das Gegenteil, wusste er nicht. Gepanzerte Hände griffen nach unten, schoben Geröllschichten weg und berührten dann etwas Kühles und Hartes.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Durotan schloss die Finger um den Edelstein und nahm ihn auf.

Selbst in seinem geistesabwesenden Zustand konnte er die tröstende Energie spüren, die der Stein ausstrahlte. Er schmiegte sich in seine Hand, als gehörte er dorthin. Durotan strich mit seinem rechten Zeigefinger darüber, zögerte den Moment hinaus, bevor sich alles unwiderrufbar ändern würde.

„Du hast ihn gefunden“, hauchte Orgrim, der leise neben seinen Freund getreten war. Durotan war von seinen Gefühlen überwältigt und konnte einen Moment lang nicht sprechen. Er nickte nur, nahm dann seinen Blick von dem schönen pulsierenden Stein und sah in die ehrfürchtigen Gesichter derer, die ihn anstarrten, während er den Schatz hielt.

Orgrim nickte knapp. „Geht auf eure Position.“

Es war beruhigend, den Stein zu halten. Durotan wollte nichts anderes, als einfach stehen zu bleiben und in die Tiefen des Steins zu schauen. Aber er hatte seine Entscheidung längst gefällt. Er atmete tief ein und sprach die Worte, die Restalaan vor so langer Zeit an diesem Ort gesprochen hatte.

„Kehla men samir, solay lamaa kahl.“

Er hoffte, dass sein starker orcischer Akzent den Stein nicht aktivieren würde. Dass er dadurch seiner Verpflichtung seinem Volk gegenüber gerecht wurde, ohne dafür eine kleine Stadt voller Zivilisten stürmen zu müssen. Aber offensichtlich wurden die Worte von der Macht verstanden, die den grünen Edelstein kontrollierte. Die Illusion verschwand bereits, die Bäume und Felsen wurden feinstofflich, und vor den Orcs erstreckte sich auf einmal einladend eine breite befestigte Straße.

Die herrliche Stadt der Draenei lag vor ihnen, und mit dem Kriegsgebrüll aus über hundert Kehlen fielen die Orcs über sie her.

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