5

Im Nachhinein, wie mir Drek’Thar erzählte, war diese Zeit in der Geschichte unseres Volkes wie ein perfekter Tag im Frühsommer. Wir Orcs hatten alles, was wir brauchten: eine herrliche Welt, die Ahnen, die uns leiteten, und die Elemente, die uns halfen. Es gab genug zu Essen, unsere Feinde waren grimmig, aber nicht unbesiegbar, und wir waren alle gesegnet. Die Draenei waren zwar keine direkten Verbündeten, aber auch nicht unsere Feinde. Sie teilten ihr Wissen und ihre Beute, wann immer sie danach gefragt wurden. Wir, die Orcs, waren es, die zurückhaltend waren. Und wir, die Orcs, waren es, die unwissentlich verderbt wurden, um jemand anderem zu dienen.

Hass ist machtvoll. Hass kann ewig sein. Hass kann ein Wesen von Grund auf verändern.

Und Hass kann willentlich erzeugt werden.


Kil’jaeden lebte in der Dunkelheit, alterslos, zeitlos. Die Macht brandete und pulsierte durch ihn, nährte ihn besser als Blut, war gehaltvoller als Fleisch oder Trank, erhitzte und beruhigte ihn gleichermaßen. Er war nicht allmächtig, noch nicht, sonst wären ganze Welten kraft eines Gedankes von ihm gefallen statt durch aufwendigen Kampf und Zerstörung. Aber alles in allem war er zufrieden.

Und dennoch lebten sie noch, die Exilanten. Kil’jaeden konnte sie durch die Jahrhunderte spüren, doch Velen und der Rest der Narren blieben versteckt. Zu feige, sich ihm und Archimonde entgegenzustellen, der als sein Freund und Verbündeter auch nach dieser... Veränderung mit ihm zusammengearbeitet hatte, so wie zu der Zeit, als sie noch einfache Wesen waren.

Er, Archimonde und die anderen dachten von sich selbst nicht mehr als „Eredar“. Velen nannte sie „Man’ari“, aber sie selbst nannten sich die Brennende Legion. Sargeras’ Armee. Die Auserwählten.

Er streckte seine rote Hand mit den langen biegsamen Fingern und den Krallen in das Nichts aus, das alles war, und fühlte, wie sich etwas darin tat. Kundschafter waren in der Sekunde losgeschickt worden, als der Feind entkommen war. Kundschafter, die nichts als Versagen meldeten. Archimonde wollte sie wegen dieses Versagens töten, aber Kil’jaeden entschied sich anders. Die, die sich fürchteten, würden fliehen, so nahm er an. Die, die eine Belohnung erwarteten und die Anerkennung ihres Herrn, gierten regelrecht danach. Deshalb gab Kil’jaeden denen, die versagt hatten, ein zweite Chance. Oder eine dritte, wenn er ihnen glaubte, dass sie ihr Bestes gaben und nicht einfach auf seinen guten Willen hofften.

Archimonde war anderer Meinung.

„Es gibt ein Menge Welten, die wir für unseren Herrn Sargeras erobern und unterwerfen können“, sagte er. Die Schwärze glühte um sie herum, als seine Stimme sie durchdrang. „Lass den Narren gehen. Wir würden es spüren, wenn er seine Talente irgendwo eingesetzt hätte, dass eine Bedrohung für uns entstünde. Lass ihn auf irgendeiner Welt verrotten, allem beraubt, was ihm wichtig war.“

Kil’jaeden wandte langsam seinen massigen Kopf und sah den anderen Dämonenlord an.

„Es geht nicht darum, ob er machtlos ist oder nicht“, zischte Kil’jaeden. „Ich will ihn vernichten und alle die, die ihm gefolgt sind. Ihn vernichten wegen seiner mangelnden Loyalität. Für seine Sturköpfigkeit. Für seine Weigerung, das zu akzeptieren, was für uns alle das Beste wäre.“

Die große Klauenhand ballte sich zur Faust, und die scharfen Krallen drangen in die Handfläche. Flüssiges Feuer drang daraus hervor, erkaltete in der kühlen Luft und formte einen dicken Wulst, der wie eine Narbe aussah. Kil’jaedens Körper war mit vielen solcher Beulen übersäht, auf die er stolz war.

Archimonde war machtvoll, elegant, glatt, intelligent. Aber ihm fehlte die brennende Begierde zu vernichten, die Kil’jaeden antrieb. Kil’jaeden hatte es ihm häufig genug erklärt, doch nun seufzte er einfach nur und entschied sich, das Thema nicht weiter zu erörtern. Seit Jahrhunderten stritten sie sich schon darüber; wahrscheinlich würden sie es auch weitere Jahrhunderte lang tun. Oder bis Kil’jaeden es schaffte, das Wesen zu vernichten, das einst sein bester Freund gewesen war.

Vielleicht lag es daran, dachte Kil’jaeden in einer plötzlichen Eingebung. Archimonde hatte niemals etwas an Velen gelegen. Kil’jaeden hingegen hatte ihn geliebt wie einen Bruder, sogar noch mehr, fast wie einen Teil seiner selbst.

Und dann...

Wieder verkrampften sich die großen Hände, und wieder strömte Feuer daraus hervor.

Nein.

Es war nicht genug, wenn er sich vorstellte, wie Velen auf einer Hinterwäldlerwelt hockte, in einer Höhle, seinen verletzten Stolz pflegend und davon lebend, was das Land ihm bot. Kil’jaeden sagte oft, dass es ihm nach seinem Blut gelüstete. Aber Blut, so machtvoll das seiner eigenen Art auch war, würde ihn nicht mehr befriedigen. Er wollte den ehemaligen Bruder vollständig demütigen und brechen, bevor er ihn auslöschte. Das wäre süßer als der kupferne Geschmack des Lebens, wenn es aus Velen und seinen dummen Gefolgsleuten strömte.

Archimonde schüttelte seine Hand, eine Geste, die Kil’jaeden kannte: Einer seiner eigenen Diener sprach zu ihm. Archimonde hatte seine eigenen Möglichkeiten, die so wie die Kil’jaedens einzig und allein dazu dienten, ihren dunklen Herrn bei seinem ultimativen Feldzug zu unterstützen. Ohne ein Wort zu sagen richtete sich Archimonde auf und ging. Trotz seiner Größe waren seine Bewegungen weich und geschmeidig.

Im selben Moment fühlte Kil’jaeden ein leichtes Kratzen in seinem Kopf. Er erkannte es sofort. Es war Talgath, immer noch seine rechte Hand, der um Kontakt ersuchte. Und das Gefühl, das von seinen Gedanken aufstieg, war das der vorsichtigen Hoffnung.

Was gibt es, mein Freund? Sprich!, forderte Kil’jaeden in seinem Geist.

Mein großer Herr, ich möchte Euch keine falschen Versprechungen milchen, aber... ich habe sie vielleicht gefunden.

Milde Freude stieg in Kil’jaeden auf. Talgath war der Vorsichtigste seiner Untergebenen. Nur ein wenig niedriger im Rang als Kil’jaeden selbst hatte er seine Loyalität über die Jahrhunderte bewiesen. Er würde so etwas nicht ohne guten Grund behaupten.

Wo? Und wie hast du sie aufgestöbert?

Es ist eine kleine Welt, primitiv und unwichtig. Und ich habe die spezielle Aura ihrer Magie gespürt, die ihre Umgebung durchzieht. Es ist möglich, dass sie da waren und schon wieder weg sind. Das ist vorher schon passiert.

Kil’jaeden nickte, obwohl Talgath die Geste nicht sehen konnte. Ein paar Eigenheiten aus der Vergangenheit hatte er behalten, dachte er, und lächelte ein wenig über die alte Geste, die Zustimmung bei so ziemlich jeder Spezies, der er begegnet war, ausdrückte.

Du sprichst wahr, stimmte er zu. Viele Male zuvor waren Kil’jaedens Streitkräfte auf eine Welt gestoßen, angezogen durch die süße Essenz der Magie, nur um festzustellen, dass Velen und seine erbärmlichen Gefolgsleute ihre Annäherung gespürt hatten und auf und davon waren. Aber ich bleibe hoffnungsvoll. Ich werde sie finden und sie für meine Zwecke benutzen, und ich habe eine Ewigkeit Zeit dafür.

Ein Gedanke kam ihm. So oft schon war Kil’jaeden auf eine Welt gekommen, auf der Velen hatte sein sollen, nur um festzustellen, dass er bereits geflohen war. Kil’jaeden hatte seinen verletzten Stolz dadurch kompensiert, dass er diese Welten zerstörte. Aber das Abschlachten der primitiven Rassen, obwohl angenehm, stillte nicht seinen dämonischen Durst nach der vollständigen und kompletten Rache.

Diesmal würde er etwas anderes machen. Er würde nicht Talgath an der Spitze der Brennenden Legion dorthin schicken. Velen war der Stärkste von ihnen gewesen, der Weiseste und in Magie und Wissenschaften am versiertesten. Kil’jaeden konnte nicht glauben, dass sein alter Freund in seiner Wachsamkeit nachgelassen hatte. Nicht nach einer solch kurzen Zeit. Velen würde permanent in einer Art Alarmzustand sein, bereit zur Flucht, sobald eine Gefahr zu erkennen war.

Aber... was, wenn sich diese Gefahr nicht so leicht erkennen ließ?

Talgath... Ich möchte, dass du diese Welt für mich erforschst.

Mein Herr? Talgaths mentale Stimme war weich und klang ausgeglichen, aber zugleich auch verwirrt.

Wir haben schon so viele Welten heimgesucht – ohne Erfolg. Dieses Mal werde ich nur einen schicken. Aber einen, dem man vertrauen kann.

Kil’jaeden spürte, wie Unbehagen und Stolz in Talgaths Gedanken gegeneinander rangen.

Es gibt andere Möglichkeiten, einen Feind zu bezwingen, als ihn mit einer Armee anzugreifen. Manchmal sind diese Wege besser.

Ihr... ihr wünscht, dass ich einen besseren Weg finde?

Genau. Suche diesen Ort allein auf. Bringe alles über ihn in Erfahrung. Sag mir, ob die Exilanten dort sind, und wenn es so ist, wie sie sich eingerichtet haben, wie sie leben, ob sie inzwischen fett und gesetzt wie gezähmte Rinder sind oder schlank und agil wie Beutetiere. Erzähl mir, wie ihre Welt ist, welche anderen Völker dort leben, welche Tiere, welche Jahreszeiten es gibt. Erforsche, Talgath. Tu nichts ohne ausdrückliche Anweisung von mir.

Jawohl, mein Herr, ich werde sofort entsprechende Vorbereitungen treffen. Er war immer noch verwirrt, aber loyal und klug hatte Talgath dem Man’ari-Meister in der Vergangenheit gut gedient, und das würde er auch diesmal tun.

Kil’jaedens Gesicht, von dem wenig übrig geblieben war, seit er seinen Handel mit dem großen Lord Sargeras eingegangen war, war immer noch in der Lage, so etwas wie ein Lächeln zu imitieren.


Wie alle Orcs begann Durotan im Alter von sechs Jahren mit dem Waffentraining. Sein Körper war bereits groß, und der Gebrauch von Waffen fiel seinem Volk leicht. Mit zwölf ging er mit auf die Jagd. Und nachdem er den Erwachsenenritus bestanden hatte, nahm er auch an der Jagd nach Ogern und ihren ekelerregenden verrückten Meistern, den Gronn, teil.

In diesem Jahr, als das Herbst-Kosh’harg kam, begleitete er die Erwachsenen in den Kreis, nachdem die Kinder zum Schlafen geschickt worden waren. Und wie er und Orgrim schon Jahre zuvor erfahren hatten, war das Erwachsenensein und die Teilnahme am Lagerfeuerkreis nicht sehr interessant.

Obwohl er es schon recht spannend fand, mit denjenigen zu reden, deren Namen er zwar seit Jahren kannte, die aber wegen seiner Jugend nie mit ihm gesprochen hatten. Mutter Kashur war von seinem eigenen Clan. Er wusste, dass sie ein hohes Ansehen unter den Schamanen der anderen Clans genoss, und er war stolz auf sie. Am ersten Abend sah er sie zusammengekauert am Feuer und in ein gewobenes Tuch gewickelt. Sie war wenig mehr als Haut und Knochen. Er wusste, ohne zu ahnen woher, dass dieses ihre letzte Kosh’harg-Feier sein würde. Und dieser Gedanke machte ihn trauriger, als er gedacht hätte.

Neben ihr, jünger als sie, aber noch älter als Durotans Eltern, saß Kashurs Lehrling Drek’Thar. Durotan hatte bisher nicht viel mit Drek’Thar gesprochen, aber des älteren Orcs scharfe Zunge und sein scharfer Blick verdienten Respekt. Durotans braune Augen suchten weiter die Versammlung ab. Morgen würden die Schamanen weg sein, zu ihrem Treffen mit den Ahnen in der Höhle im heiligen Berg. Durotan fröstelte, als er an seinen Besuch dort dachte und an den kalten Luftzug, den er verspürt hatte und der weitaus mehr gewesen war.

Gegenüber saß Grom Hellschrei, der junge und leicht verrückte Häuptling des Kriegshymnen-Clans. Nur ein paar Jahre älter als Durotan und Orgrim, war er neu in seiner Position. Es gab Gerede über die merkwürdigen Umstände, unter denen der vorherige Häuptling gestorben war. Aber der Kriegshymnen-Clan bestritt Groms Führungsanspruch nicht. Durotan wunderte es nicht. Obwohl noch jung, war Grom bereits ein einschüchternder Bursche. Der tanzende, flackernde Feuerschein ließ ihn nur noch verrückter erscheinen. Dickes schwarzes Haar floss über seinen Rücken. Nach seinem Aufstieg zum Häuptling war Groms Gebiss schwarz tätowiert worden. Um seinen Hals hing eine Kette aus Knochen. Durotan wusste, was das bedeutete: Unter den Mitgliedern des Kriegshymnen-Clans war es Tradition, dass ein junger Krieger die Knochen seines ersten selbst erlegten Wilds trug, verziert mit seinen eigenen Runen.

Neben Grom saß gewaltig und imposant Schwarzfaust vom Schwarzfels-Clan. Neben Schwarzfaust, still kauend, hockte der Häuptling vom Clan der Zerschmetterten Hand, Kargath Messerfaust. An Stelle der Hand hatte er ein Sensenblatt im Handgelenk, und selbst als Erwachsenem war es Durotan unangenehm zu sehen, wie die Klinge im Feuerschein glänzte. Daneben hockte Kilrogg Totauge, Häuptling des Clans des Blutenden Auges. Ein Auge glitt über die versammelte Gesellschaft, das andere saß verschrumpelt und tot in seiner Höhle. Während Grom recht jung war für einen Häuptling, war Kilrogg fast zu alt. Aber – das war Durotan klar – trotz seines Alters und seines zottigen Aussehens hatte Kilrogg sein Ende seiner Stammesherrschaft noch lange nicht erreicht, und das traf sowohl für sein Leben als auch für die Führerschaft seines Clans zu.

Unbehaglich richtete Durotan seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes.

Zu Drek’Thars Linken lehnte der berühmte Ner’zhul vom Schattenmond-Clan. Solange Durotan sich erinnern konnte, hatte Ner’zhul die Schamanen angeführt. Einmal, als Durotan an einer Jagd hatte teilnehmen dürfen, war Ner’zhul dabei gewesen, und Durotan hatte dabei die Meisterschaft des Schamanen in seiner Kunst erlebt. Während andere sich grunzend abmühten, die Elemente zu beschwören und sie kraftvoll, aber ohne Eleganz leiteten, war Ner’zhul ganz ruhig geblieben, doch die Erde bebte, wenn er es ihr gebot, Blitze stießen aus dem Himmel, um dort einzuschlagen, wo er es befahl. Feuer, Luft, Wasser, Erde und der Geist der Wildnis nannten ihn alle Begleiter und Freunde. Durotan hatte nicht erlebt, wie Ner’zhul mit den Ahnen sprach, natürlich sah das nie jemand anderes als nur ein Schamane selbst, aber es war Durotan klar, dass, wenn die Ahnen ihn nicht begünstigt hätten, er niemals mit derartiger Leichtigkeit seine Macht hätte ausüben können.

Ner’zhuls Schüler dagegen mochte Durotan nicht.

Orgrim saß neben seinem Freund, und als er sah, wohin Durotans Blick führte, beugte er sich herüber und flüsterte: „Ich glaube, Gul’dan würde seinem Volk besser dienen, würde man ihn als Köder aussetzen.“

Durotan schaute weg, damit niemand sein Grinsen sah. Er wusste nicht, wie erfahren Gul’dan bereits als Schamane war, doch sicherlich musste er einige Fähigkeiten haben, sonst hätte Ner’zhul ihn sicher nicht als Schüler akzeptiert. Aber er war kein sonderlich einnehmender Orc. Kleiner als viele, weicher als die meisten, mit einem kurzen buschigen Bart, stellte er nicht gerade das Sinnbild für einen Orc-Krieger dar. Aber Durotan vermutete, dass man nicht unbedingt ein Held sein musste, um seinen Teil beizutragen.

„Sieh dir die an, das ist die geborene Kriegerin!“

Durotan schaute in die Richtung, in die Orgrim wies, und seine Augen weiteten sich. Orgrim hatte die Wahrheit gesagt. Groß und hoch aufgerichtet saß sie da, und ihre Muskeln wogten unter der weichen braunen Haut im Feuerschein, als sie nach vorn griff und ein Stück Fleisch aus dem gebratenen Talbuk riss. Das Mädchen erschien Durotan wie die Idealisierung aller orcischen Werte. Sie bewegte sich mit der wilden Anmut eines schwarzen Wolfs, und ihre Hauer waren klein, aber ungemein scharf. Ihr Haar hatte sie zurückgekämmt und zu einem praktischen, aber attraktiven Zopf geflochten.

„Wer... wer ist sie?“, murmelte Durotan. Sicherlich war diese tolle Frau das Mitglied eines anderen Clans. Er hätte sie wiedererkannt, hätte solch eine Schönheit, stark, geschmeidig, anmutsvoll, zu seinem eigenen Clan gehört.

Orgrim lachte laut und schlug Durotan auf die Schulter. Das Geräusch und die Geste brachten viele dazu, sich zu ihnen umzudrehen, einschließlich – wie Durotan bemerkte – des lieblichen Mädchens. Orgrim beugte sich vor, um Durotan zuzuflüstern: „Du unachtsamer Hund. Sie ist eine Frostwölfin. Ich hätte sie für mich selbst beansprucht, wäre sie von meinem Clan.“

Eine Frostwölfin? Wie, in aller Welt, hatte Durotan solch einen Schatz in seinem eigenen Clan übersehen können? Er wandte seinen Blick von Orgrims grinsendem Gesicht und schaute sie wieder an. Und sie schaute zurück. Ihre Blicke trafen sich.

„Draka!“

Das Mädchen stand auf und ging davon. Durotan blinzelte, als müsste er zu sich selbst finden.

„Draka“, sagte er ruhig. Kein Wunder, dass er sie nicht erkannt hatte. „Nein, Orgrim. Sie wurde nicht als Kriegerin geboren. Sie wurde zur Kriegerin gemacht.“

Draka war krank, als sie geboren wurde. Ihre Haut war von blassem Beige statt von dem gesunden Borkenbraun, das die meisten Orcs kennzeichnete. Die meiste Zeit ihrer Kindheit, daran erinnerte sich Durotan, sprachen die Erwachsenen von ihr in leisem Flüsterton, als wenn jemand bereits auf dem Weg zu den Ahnen war. Ihre Eltern fragten sich, was die Familie nur getan hatte, dass die Geister sie mit diesem gebrechlichen Kind straften.

Kurz danach war Drakas Familie in die Außenbereiche des Lagers gezogen. Er hatte sie nicht mehr oft gesehen, beschäftigt wie er mit seinen eigenen Aufgaben gewesen war.

Draka hatte mehrere Stücke Fleisch aufgespießt und brachte sie zu ihrer Familie. Durotan bemerkte zwei Kinder, die mit jenen Orcs zusammen saßen, die vermutlich ihre Eltern waren. Beide sahen kräftig und gesund aus. Seinen Blick auf sich spürend, drehte Draka den Kopf und schaute ihn direkt an. Ihre Nüstern bebten, und sie setzte sich gerader hin, damit Durotan sie nicht mit Mitleid und Mitgefühl ansah, sondern mit Bewunderung und Respekt.

Nein, sie brauchte kein Mitleid. Durch die Gnade der Geister, die Heilkraft der Schamanen und die Macht des Willens, den er in ihren braunen Augen brennen sah, hatte sie die Zerbrechlichkeit ihrer Kindheit abgelegt, um sich in diese... Vision weiblicher orcischer Perfektion zu verwandeln.

Sein Atem entfuhr ihm schnaubend, als Orgrim ihm seinen Ellenbogen in die Seite stieß. Durotan sah seinen Freund an.

„Mach den Mund zu, oder ich stopf dir was rein“, grummelte Orgrim.

Durotan begriff, dass er tatsächlich mit offenem Mund gestarrt hatte. Er konzentrierte sich wieder auf das Fest. Und schaute für den Rest der Nacht nicht mehr zu Draka.

Aber er träumte von ihr. Und als er erwachte, wusste er, dass sie es sein sollte. Er war der Erbe des Häuptlings von einem der stolzesten Clans.

Welche Frau konnte ihm da widerstehen?


„Nein“, sagte Draka.

Durotan stand da wie erstarrt. Er war am nächsten Morgen zu ihr gegangen und hatte sie zur Jagd für den nächsten Tag eingeladen. Allein. Beide wussten, was das bedeutete: Mann und Frau, die als Paar jagten – das war ein Werberitual. Und sie hatte ihn zurückgewiesen.

Es kam so unerwartet, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte. Sie sah ihn fast geringschätzig an, und die Lippen um ihre perfekten Hauer verzogen sich zu einem selbstgefälligen Grinsen.

„Warum nicht?“, fragte Durotan.

„Ich bin noch nicht im richtigen Alter“, antwortete sie. So wie sie das sagte, klang es eher nach einer Ausrede als einem echten Grund.

Aber Durotan würde nicht so leicht aufgeben. „Es war als Werbung gedacht, das ist klar“, sagte er schroff. „Aber wenn du noch nicht im richtigen Alter bist, werde ich das respektieren. Dennoch würde ich deine Gesellschaft schätzen. Also lass uns auf die Jagd gehen, begleitet von zwei stolzen Kriegern.“

Daraufhin war sie erschrocken. Offenbar hatte sie erwartet, dass er seinen Standpunkt durchzusetzen versuchen oder in Wut geraten würde.

„Ich...“

Sie unterbrach sich, ihre Augen weit aufgerissen. Dann grinste sie. „Gut, auf so eine Jagd werde ich mitgehen, Durotan, Sohn von Garad, Anführer des Frostwolf-Clans.“


Durotan hatte sich nie glücklicher gefühlt. Das war etwas völlig anderes als eine gewöhnliche Jagd. Er und Draka hatten ein schnelles Tempo vorgelegt und die beiden Krieger, die sie eigentlich hätten begleiten sollen, abgehängt. All die Wettbewerbe mit Orgrim hatten Durotan zu einem ausdauernden Läufer gemacht, und einen Moment lang befürchtete er, sein Tempo wäre zu hoch. Aber Draka, die so zerbrechlich geboren und so stark geworden war, hielt mit.

Sie redeten nicht viel, es gab nichts zu sagen. Sie waren auf der Jagd, und es gab Beute zu machen, um diese zurück zu ihrem Clan zu bringen. Die Stille war sogar angenehm.

Er wurde langsamer, als sie in offenes Gelände kamen, und begann, den Boden abzusuchen. Es lag kein Schnee, deshalb war das Spurenlesen nicht so leicht wie in den Wintermonaten. Aber Durotan wusste, worauf er achten musste. Zertretenes Gras, abgebrochene Zweige, ein Abdruck, wenn auch schwach, auf der Erde.

„Spalthufe“, sagte er. Er stand auf und suchte den Horizont ab, in jener Richtung, in die sie sich bewegten. Draka kroch immer noch auf dem Boden, ihre Finger bewegten sich fein über die Blätter.

„Eins ist verletzt“, verkündete sie.

Durotan sah sie an. „Ich habe kein Blut gesehen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Kein Blut, aber das Muster der Spur sagt mir, dass es so ist.“ Sie zeigte dorthin, wo er zuvor den Boden untersucht hatte. Er sah nichts, das auf ein verletztes Tier hingewiesen hätte.

„Nein, nicht dieser Abdruck der andere und der daneben.“

Sie erhob sich und ging vor, achtsam darauf bedacht, wo sie hintrat, und plötzlich erkannte Durotan, was sie meinte. Der Abdruck eines Hufs war leicht weniger tief als die anderen drei.

Das Tier lahmte.

Er bedachte sie mit einem bewundernden Blick, und sie errötete leicht. „Es war leicht zu sehen“, sagte sie. „Du hättest es auch entdeckt.“

„Nein“, gab er ehrlich zu, „hätte ich nicht. Ich habe die Abdrücke gesehen, aber ich habe mir nicht die Zeit genommen, sie mir genauer anzuschauen. Du hast es getan. Du wirst eines Tages eine ausgezeichnete Jägerin.“

Sie straffte sich und sah ihn stolz an. Etwas Warmes, das ihn gleichzeitig stärkte und schwächte, durchlief ihn. Er war nicht besonders fleißig, wenn es darum ging, die Ahnen anzurufen, aber als er Draka vor sich stehen sah, sandte er ihnen ein schnelles Gebet. Lasst diese Frau mich mögen.

Sie folgten der Fährte wie Wölfe einem Geruch. Durotan führte nicht mehr, diese Frau war ihm beim Spurensuchen ebenbürtig. Sie ergänzten einander gut. Er hatte die schärferen Augen, aber sie sah genauer auf das, was sie fanden. Er fragte sich, wie es sein würde, neben ihr zu kämpfen. Die Augen auf den Boden vor sich gerichtet, liefen sie um eine scharfe Biegung. Er fragte sich, wie es sein würde...

Der große Schwarzwolf kauerte über dem Tier, das sie verfolgt hatten, und wirbelte knurrend herum. Eine endlos lange Zeit belauerten sich die drei Jäger. Aber noch bevor das mächtige Biest zum Sprung ansetzte, griff Durotan an.

Die Axt wog nichts in seinen Händen, als er sie hob und zuschlug. Sie sank tief in den Körper des Tiers, aber Durotan spürte den vergeltenden Biss der gelben Zähne, die sich knirschend um seinen Arm schlossen. Stechender Schmerz brandete durch ihn. Mühsam befreite er seinen Arm. Diesmal war es schwerer, die Axt zu heben, während sein Arm Blut verlor, aber er tat es. Der Wolf hatte sich voll auf Durotan konzentriert, seine gelben Augen bohrten sich in seine, sein Mund stand offen, und sein heißer Atem stank nach verwestem Fleisch.

In der Sekunde, bevor die großen Zähne in sein Gesicht hacken konnten, hörte Durotan einen Kriegsschrei. Da war eine unscharfe Bewegung am Rande seines Blickfelds. Draka sprang die Bestie an, ihren langen verzierten Speer nach vorn gerichtet. Der Kopf des Wolfs zuckte zurück, als der Speer seinen Leib durchbohrte. In einem Augenblick der Unachtsamkeit hob Durotan erneut die Axt und schlug so fest zu, wie er konnte. Er fühlte, wie sie den Körper des Tiers durchschnitt und sich sogar in die Erde unter ihm bohrte, so tief, dass er sie nicht sofort herausziehen konnte.

Er trat zurück, keuchte. Draka stand neben ihm.

Er fühlte ihre Wärme, ihre Kraft, ihre Leidenschaft für die Jagd, die so stark wie seine war. Gemeinsam starrten sie auf die mächtige Bestie, die sie beide erlegt hatten. Sie waren von einem Tier überrascht worden, das normalerweise nur mehrere erfahrene Orcs erledigen konnten. Und sie lebten noch. Ihr Feind lag tot am Boden, in zwei Teile gehauen von Durotans Axt, während Drakas Speer aus seinem Herzen ragte. Durotan begriff, dass er niemals würde sagen können, wer von ihnen beiden tatsächlich den Wolf getötet hatte. Und das machte ihn seltsamerweise glücklich.

Er brach zusammen und schlug auf den Boden.

Draka war zur Stelle und wischte das Blut von seinem verletzten Arm, nur um aufzustöhnen, als noch mehr kam. Sie behandelte ihn mit Heilsalben und eng gebundenen Bandagen. Dann rieb sie einige bitter schmeckende Kräuter in Wasser und befahl ihm zu trinken. Nach ein paar Augenblicken schwand der Schwindel.

„Danke“, sagte er ruhig.

Sie nickte und schaute ihn nicht an. Doch ein Lächeln verzog ihre Mundwinkel.

„Was ist so komisch? Dass ich hingefallen bin?“ Seine Stimme klang härter, als er beabsichtigt hatte, und sie sah schnell auf, von seinem Tonfall überrascht.

„Absolut nicht. Du hast gut gekämpft, Durotan. Viele hätten die Axt nach so einem Biss fallen lassen.“

Er fühlte sich seltsam befriedigt von dem Kompliment, das wie eine bloße Feststellung klang und nicht nach einer Schmeichelei. „Was belustigt dich dann so?“

Sie grinste und sah ihn direkt an. „Ich weiß etwas, was du nicht weißt. Aber... ich denke, nach dieser Sache kann ich es dir sagen.“

Er fühlte, wie er selber lächelte. „Ich fühle mich geehrt.“

„Ich habe dir gestern gesagt, dass ich noch nicht das richtige Alter für das Werberitual habe.“

„Das stimmt.“

„Nun... als ich das sagte, wusste ich, dass ich es bald erreichen würde.“

„Ich verstehe“, sagte er, obwohl er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. „Nun... wann wirst du denn alt genug?“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Heute“, sagte sie einfach.

Er sah sie einen Moment lang an, dann, ohne ein weiteres Wort, zog er sie zu sich und küsste sie.


Nachdem Talgath die Orcs eine Zeitlang beobachtet hatte, zog er sich zurück; ihre tierische Natur beleidigte ihn. Ein Man’ari war etwas Besseres. Abgesehen von den weiblichen Wesen mit den Lederflügeln und dem Schwanz stillten die Man’ari ihre Begierde mit Gewalt, nicht mit Paarung. Am liebsten hätte er die beiden auf der Stelle gelötet, aber sein Meister duldete keine Einmischung. Wenn die beiden nicht zu ihrem Clan zurückkehrten, würde dies das Misstrauen der anderen wecken. Und obwohl sie unwichtig wie Insekten waren, konnten sie zur Plage werden. Kil’jaeden wollte, dass er nur beobachtete und Bericht erstattete, nicht mehr. Und das würde Talgath tun.


Rache, so dachte Kil’jaeden, war am süßesten, wenn man ihr zu reifen erlaubte. Es hatte in den langen Jahren Momente gegeben, in denen er daran gezweifelt hatte, den Fluchtort der Eredar zu finden. Aber je mehr Talgath ihm berichtete, desto zuversichtlicher und freudiger wurde Kil’jaeden.

Talgath hatte ihm gut gedient. Er hatte die so genannten „Städte“ des einst mächtigen Velen und seiner kleinen Schar beobachtet. Er hatte gesehen, wie sie lebten, jagten, wie sie diese Kreaturen, die sich selbst „Orcs“ nannten, mit Wohlwollen behandelten. Es war einfach lachhaft. Talgath hatte einige Reste alten Ruhmes in ihren Gebäuden und in ihrer simplen Technologie wiedergefunden. Aber Talgath war sicher, dass Kil’jaeden erfreut sein würde, wie tief sein ehemaliger Freund gefallen war.

„Draenei“ nannten sie sich nun, die Verbannten. Und ihre Welt hatten sie Draenor genannt.

Talgath wunderte sich darüber, warum sich Kil’jaeden nicht auf Velen konzentrierte, sondern stattdessen mehr über die Orcs wissen wollte. Wie waren sie organisiert? Was für Sitten und Gebräuche hatten sie? Wer waren ihre Anführer und wie wurden die ausgewählt? Was war ihnen als Gemeinschaft wichtig, was als Einzelwesen?

Aber Talgaths Aufgabe bestand darin zu berichten, nicht zu bewerten. Und er berichtete seinem Meister, so gut er konnte. Als Kil’jaeden schließlich über alles informiert war, was Talgath herausgefunden hatte, bis hin zu den Namen der beiden Kreaturen, die sich nach ihrem gemeinsamen Töten gepaart hatten, war er zufrieden. Zumindest für den Moment.

Auf lange Sicht würde er seine Rache bekommen. Velen und seine Emporkömmlinge würden bestraft werden. Aber nicht schnell, nicht mit einer Armee von überlegenen Eredar, die sie in Stücke reißen würde. Das wäre zu gnadenvoll. Kil’jaeden wollte sie brechen. Demütigen. Sie zerstören. Und zwar so absolut und vollständig, wie ein Insekt unter einem Stiefel zerquetscht wurde.

Und er wusste genau, was er dazu tun musste.

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