13

Wie konnte es geschehen, dass wir es nicht bemerkten? Es ist leicht, die Schuld für unseren Untergang auf den charismatischen Kil’jaeden zu schieben oder den schwachen Ner’zhul oder den machthungrigen Gul’dan. Aber sie verlangten von jedem einzelnen Orc so zu tun, als wenn heiß kalt wäre, als wenn süß sauer wäre, und selbst, als alles in uns gegen diese Forderungen aufbegehrte, folgten wir ihnen. Ich war nicht dabei, ich kann es nicht erklären. Vielleicht hätte auch ich wie ein braver Hund gehorcht. Vielleicht war aber auch die Furcht zu groß oder der Respekt vor unseren Anführern zu tief verwurzelt.

Vielleicht.

Aber vielleicht hätte ich so wie mein Vater und ein paar andere die Fehler erkannt. Ich möchte das gern glauben.


Schwarzfaust schaute finster unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Er wirkte oft deshalb so grimmig, weil er es meistens auch war.

Gul’dan hatte ihn vor zwei Wochen in aller Heimlichkeit um dieses Treffen gebeten, und der Häuptling des Schwarzfels-Clans hatte zugestimmt. Schwarzfaust war Gul’dan immer schon lieber gewesen als Ner’zhul, obwohl er sich nicht erklären konnte, warum. Als Gul’dan nun mit ihm zusammensaß, bei einem verschwenderischen Mahl, und mit ihm die gegenwärtige Lage erörterte, war Schwarzfaust froh, dass er gekommen war, und wusste, warum er Gul’dan lieber mochte: Der ehemalige Schüler und jetzige Meister war wie er selbst. Er pfiff auf Ideale, für ihn zählten Macht und gutes Essen. Nur diese Dinge waren diesen beiden Orcs wichtig.

Schwarzfaust war der Häuptling der Schwarzfels-Orcs. Er konnte nicht höher aufsteigen. Zumindest hatte er das bisher gedacht. Als die Clans noch nicht vereint gewesen waren, war der größte Ruhm, den man erlangen konnte, den eigenen Clan zu führen. Aber inzwischen waren sie alle vereint. Schwarzfaust sah die Gier in Gul’dans kleinen Augen, und er konnte den Hunger beinahe riechen, der von dem anderen Orc ausging, ein Hunger, den auch er verspürte.

„Ner’zhul war ein ehrenwerter Anführer“, sagte Gul’dan, während er auf einer getrockneten Frucht kaute. Dabei popelte er mit einer Kralle ein Stück zwischen seinen Zähnen hervor, das sich dort festgesetzt hatte. „Aber... es wurde entschieden, dass von nun an ich die Orcs führe. Und ein weiser Anführer umgibt sich mit denen, denen er vertraut. Die stark sind und folgsam. Die ihre Verpflichtungen erfüllen. Und die für ihre Treue geehrt und reich belohnt werden.“

Schwarzfaust hatte bei dem Begriff „folgsam“ leise geknurrt. Aber als er die Worte „geehrt“ und „reich belohnt“ hörte, war er sofort wieder besänftigt. Er schaute zu den acht Schamanen, die er auf Gul’dans Geheiß mitgebracht hatte. Sie saßen an einem zweiten Feuer, etwas entfernt, und wurden von Gul’dans Dienern versorgt. Sie befanden sich außer Hörweite und wirkten unglücklich.

Schwarzfaust sagte: „Du wolltest, dass ich die Schamanen mitbringe. Ich nehme an, du weißt, was passiert ist.“

Gul’dan seufzte und griff nach einem Talbukbein. Er biss tief hinein, dass ihm der Saft übers Gesicht lief. Er wischte ihn weg, kaute, schluckte und antwortete: „Ja, ich habe davon gehört. Die Elemente gehorchen ihnen nicht länger.“

Schwarzfaust beobachtete ihn genau. „Einige sagen, es wäre eine Strafe, weil wir Falsches tun.“

„Glaubst du das?“

Schwarzfaust zuckte mit den massigen Schultern. „Ich weiß nicht, was ich denken soll. Das ist alles völlig neu. Die Ahnen sagen das eine, aber die Elemente kommen nicht.“ Auch sein Vertrauen in die Ahnen schwand bereits. Aber er hielt seine Zunge im Zaum. Schwarzfaust wusste, dass viele ihn für einen Narren hielten. Er liebte es, andere glauben zu lassen, er wäre nur ein Kraftprotz, nicht mehr. Dadurch verschaffte er sich klare Vorteile.

Offenbar wollte Gul’dan ihn prüfen, und Schwarzfaust fragte sich, ob der neue geistige Führer der Orcs gespürt hatte, dass in ihm, dem Häuptling der Schwarzfels-Orks, mehr steckte, als es den Anschein hatte.

„Wir sind eine stolze Rasse“, sagte Gul’dan. „Es fällt uns manchmal schwer zuzugeben, dass wir nicht alles wissen. Kil’jaeden und die Wesen, die er führt, hüten Geheimnisse, die ihnen große Macht verleihen. Macht, die sie gewillt sind, mit uns zu teilen!“

Gul’dans Augen leuchteten vor Erregung, und Schwarzfausts Herz begann zu rasen.

Gul’dan beugte sich vor und flüsterte: „Im Vergleich zu ihnen sind wir so dumm wie Kinder, auch du oder ich. Aber sie sind bereit, uns zu lehren. Mit einigen von uns ihre Kräfte zu teilen. Kräfte, mit denen wir nicht mehr abhängig sind von den Launen der Geister von Luft, Erde, Feuer und Wasser.“ Gul’dan machte eine geringschätzige Geste. „Kräfte wie diese sind schwach. Sie sind nicht verlässlich. Sie können einen mitten in der Schlacht verlassen und hilflos zurücklassen.“

Schwarzfausts Gesicht verhärtete sich. Genau das hatte er erlebt, und es hatte seine Krieger all ihre Kraft gekostet, dennoch den Sieg zu erringen. Die Schamanen hatten entsetzt aufgeschrien, als die Elemente ihnen nicht länger dienlich waren.

„Ich höre“, knurrte er leise.

„Stell dir vor, du würdest eine Gruppe von Schamanen führen, die die Quelle ihrer Kräfte kontrollieren könnte, statt um sie zu betteln“, sagte Gul’dan. „Stell dir vor, diese Schamanen hätten Diener, die auf deiner Seite kämpften. Diener, die sagen wir mal deine Feinde in Angst und Schrecken versetzen. Die ihnen die Magie aussaugen wie Insekten das Blut. Sie ablenken, sodass ihre Aufmerksamkeit nicht der Schlacht gilt.“

Schwarzfaust hob eine buschige Augenbraue. „Ich kann mir vorstellen, dass ich dann einen Sieg nach dem anderen erringen würde, immer wieder.“

Gul’dan nickte grinsend. „Genau.“

„Aber woher weißt du, dass das alles wahr ist und nicht ein paar falsche Versprechungen, die dir eingeflüstert wurden?“

Gul’dans Lächeln wurde breiter. „Weil ich es bereits erlebt habe, mein Freund. Ich werde deinen Schamanen alles beibringen, was ich kann.“

„Beeindruckend“, brummte Schwarzfaust.

„Aber das ist noch nicht alles, was ich dir anbieten kann. Ich kenne einen Weg, wie ich dich und jeden, der an deiner Seite kämpft, kraftvoller und wilder machen kann. All das kann unser sein, wenn wir es uns nur nehmen.“

„Unser?“

„Ich kann nicht meine Zeit damit verschwenden, mit jedem verdammten Clanführer unter vier Augen zu reden, sobald sie eine Beschwerde haben.“ Gul’dan wedelte herrisch mit der Hand. „Da gibt es die, die mit uns kooperieren, und die, die es nicht tun.“

„Sprich weiter“, sagte Schwarzfaust.

Aber Gul’dan schwieg und sammelte seine Gedanken. Schwarzfaust nahm einen Stock und warf ihn ins Feuer. Er wusste gut, dass ihn die meisten Orcs, sogar die aus seinem eigenen Clan, für hitzköpfig und ungestüm hielten. Aber er wusste auch, dass Geduld manchmal viel wert war.

„Ich stelle mir zwei Gruppen von Anführern für die Orcs vor“, sprach Gul’dan endlich weiter. „Die eine ist ein ganz normal regierender Rat, der Entscheidungen fällt. Dessen Anführer wird gewählt, und was er tut, ist für jeden offensichtlich. Die zweite Gruppe wird... mh, ein Schatten davon sein. Geheim. Machtvoll. Dieser... Schattenrat wird sich aus Orcs zusammensetzen, die unsere Ansichten teilen und die willens sind, die notwendigen Opfer zu bringen.“

Schwarzfaust nickte. „Ja... ja, ich verstehe. Eine offizielle Führung und eine geheime.“

Gul’dan lächelte.

Schwarzfaust betrachtete ihn einen Moment lang, dann wollte er wissen: „Und zu welcher soll ich gehören?“

„Zu beiden, mein Freund“, antwortete Gul’dan sanft. „Du bist der geborene Führer. Du hast Ausstrahlung, Stärke, und selbst deine Feinde wissen, dass du ein Meisterstratege bist. Es wird leicht sein, dafür zu sorgen, dass du zum Anführer der Orcs gewählt wirst.“

Schwarzfausts Augen blitzten. „Ich bin keine Marionette“, knurrte er.

„Natürlich nicht“, entgegnete Gul’dan. „Deshalb sagte ich ja, du gehörst zu beiden Gruppen. Du wärst der Anführer der neuen Art von Orcs, dieser... Horde, wenn du willst. Und du wirst ebenso im Schattenrat sein. Wir können nicht zusammenarbeiten, solange wir uns nicht gegenseitig trauen, oder?“

Schwarzfaust schaute in Gul’dans funkelnde, schlaue Augen und lächelte. Er traute dem Schamanen nicht ein bisschen, und er vermutete, dass Gul’dan das umgekehrt auch nicht tat. Aber das zählte nicht. Sie wollten beide Macht. Schwarzfaust wusste, dass er nicht über die notwendigen Talente und Fähigkeiten verfügte, die vonnöten waren, um die Art von Macht zu bekommen, nach der Gul’dan lüstete. Und Gul’dan wollte nicht die Sorte Macht, nach der Schwarzfaust strebte. Sie waren keine Gegner, sondern Verbündete. Was dem einen nützte, würde auch dem anderen nützen und ihm nichts wegnehmen.

Schwarzfaust dachte an seine Familie: seine Frau Urukal, an seine beiden Söhne Rend und Maime und an seine Tochter Griselda. Er kümmerte sich nicht um sie, wie sich dieser schwache Durotan um seine Gefährtin Draka kümmerte, aber er sorgte für sie. Er wollte seine Gefährtin mit Juwelen behängt sehen, seine Söhne und seine Tochter geehrt, wie es sich für seine Kinder gehörte.

Aus dem Augenwinkel heraus sah er eine Bewegung. Er wandte sich um und erblickte Ner’zhul, einst ein mächtiger Schamane, jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst, der das Zelt verließ.

„Was ist mit ihm?“, fragte Schwarzfaust.

Gul’dan zuckte mit den Schultern. „Was soll mit ihm sein? Er hat nichts mehr zu sagen. Das schöne Wesen wünscht, dass er noch am Leben bleibt. Er scheint etwas Besonderes mit Ner’zhul vorzuhaben. Die Liebe zu Ner’zhul ist bei den Orcs noch zu tief verwurzelt, um ihn einfach beiseite zu schieben. Aber mach dir keine Sorgen. Er stellt für uns keine Bedrohung dar.“

„Die Schwarzfels-Schamanen... du hast gesagt, du willst sie in dieser neuen Magie unterweisen.“

Gul’dan nickte. „Ich werde sie selbst ausbilden, und wenn sie diese neuen Künste schnell beherrschen, werde ich sie als Erste zu den neuen Hexenmeistern ernennen.“

Hexenmeister. Das war also der Name. Er klang interessant. Hexenmeister. Und die Schwarzfels-Hexenmeister würden die Ersten sein.

„Schwarzfaust, Häuptling des Schwarzfels-Clans, was sagst du zu meinem Angebot?“

Schwarzfaust wandte langsam seinen Kopf, um Gul’dan anzuschauen. „Ich sage, es lebe die Horde und es lebe der Schattenrat!“


Die Menge, die sich am Fuß des heiligen Berges versammelt hatte, war wütend. Durotan hatte denjenigen, denen er vertraute, Botschaften geschickt. Und alle bestätigten sie, dass sich die Elemente den Schamanen tatsächlich verweigerten. Besonders hart hatte es den Knochenmal-Clan getroffen: deren ganzer Kriegszug war gegen die Draenei gefallen. Ihr Tod war ein Rätsel geblieben, bis einige Tage später ein Schamane, der im Dorf zurückgeblieben war, versucht hatte, ein krankes Mädchen zu heilen, und erkannte, dass die Elemente ihm nicht mehr dienten.

Alle Clanführer waren mit ihren Schamanen gekommen, um von Ner’zhul eine Erklärung zu verlangen. Der trat aus seinem Zelt und grüßte sie, hob seine Hände und bat um Ruhe.

„Ich weiß, warum ihr hierher gekommen seid“, sagte er.

Durotan fröstelte. Ner’zhul stand weit entfernt, dennoch konnte Durotan ihn deutlich verstehen. Er wusste, dass Ner’zhul diesen Effekt üblicherweise dadurch erreichte, dass er den Wind nutzte, die Worte zu allen Anwesenden zu tragen. Aber wie war das möglich, wenn sich die Elemente den Schamanen verweigerten? Er tauschte einen Blick mit Draka, aber beide sagten nichts.

„Es stimmt, die Elemente antworten nicht länger auf die Rufe der Schamanen“, fuhr Ner’zhul fort, aber seine Worte wurden von wütenden Zwischenrufen übertönt. Er senkte kurz den Blick, und Durotan sah ihn genau an. Der geistige Führer der Orcs wirkte angegriffener, als Durotan ihn je erlebt hatte. Aber das war in dieser Situation nur allzu verständlich, dachte Durotan.

Nach kurzer Zeit erstarben die Rufe. Die versammelten Orcs waren wütend, aber sie wollten vor allem Antworten, auch wenn sie nach einem Ventil für ihren Zorn suchten.

„Einige von euch glauben, dass sich uns die Elemente verweigern, weil wir etwas Falsches tun. Aber das stimmt nicht. Wir sind gerade dabei, eine Macht zu erlangen, wie wir sie noch nie besessen haben. Mein Schüler, der ehrenwerte Gul’dan, hat diese Macht studiert. Ich lasse ihn eure Fragen beantworten.“

Ner’zhul drehte sich um, dabei schwer auf seinen Stab gestützt, und trat beiseite. Gul’dan verneigte sich tief vor seinem Meister, doch Ner’zhul schien das nicht wahrzunehmen. Er wartete, die Augen geschlossen, und wirkte alt und gebrechlich.

Im Gegensatz zu ihm hatte Gul’dan nie besser ausgesehen. Er steckte voller neuer Energie und wirkte sicher und voller Selbstvertrauen, als er sprach.

„Was ich euch erzählen will, werdet ihr vielleicht nur schwer akzeptieren können. Aber ich habe volles Vertrauen, dass mein Volk nicht engstirnig ist, wenn es sich selbst verbessern kann.“ Seine Stimme klang klar und stark. „Gerade, als wir mit Schrecken erkennen mussten, dass es machtvolle Wesen gibt, die völlig anders als unsere Ahnen sind, fanden wir einen Weg, eine neue Magie zu nutzen, die uns von den Elementen unabhängig macht. Diese neue Macht müssen wir nicht um Unterstützung bitten. Sie kommt zu uns, weil wir stark genug sind, um ihre Hilfe zu erzwingen. Wir kontrollieren sie, sie muss uns gehorchen und ist an unseren Willen gebunden.“

Gul’dan machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, und schaute sich unter den versammelten Orcs um.

Durotan sah Drek’Thar an und fragte den Freund: „Ist das möglich?“

Drek’Thar zuckte hilflos mit den Schultern. Gul’dans Worte schienen ihn völlig zu erschrecken. „Ich habe keine Ahnung“, murmelte er. „Aber ich sage dir, nach dem letzten Kampf... Durotan, die Schamanen taten ihre Pflicht mit dem Segen der Ahnen! Wie konnten die Elemente sich uns unter diesen Umständen verweigern? Und wie konnten die Ahnen das zulassen?“

Er klang verbittert, als er das sagte. Der Schock und die Scham steckten noch tief in ihm. Durotan konnte es nachvollziehen; der Schamane musste sich wie ein Krieger fühlen, dessen beste Axt sich unter seinen Händen in Rauch verwandelt hatte, eine Axt, die ein vertrauter Freund ihm gegeben hatte, damit er sie für eine gute Sache einsetzte.

„Ja! Ja, ich sehe, ihr versteht den Wert dessen, was ich... was das schöne Wesen, das sich uns angenommen hat, unserem Volk anbietet“, fuhr Gul’dan fort. „Ich habe von diesem großen Wesen gelernt, wie auch ein paar der ehrenwerten anderen Schamanen.“

Er trat zurück, und einige Schamanen traten vor, in die schönsten Lederrüstungen gekleidet, die Durotan je gesehen hatte.

„Das sind alles Schwarzfels-Orcs“, murmelte Draka. Sie verengte die Augen zu Schlitzen. Durotan war es auch aufgefallen.

„Was sie gelernt haben“, sprach Gul’dan weiter, „wird jedem Schamanen beigebracht, der es lernen möchte. Das schwöre ich euch. Folgt mir jetzt aufs offene Gelände, wo seit ewiger Zeit unsere Kosh’harg-Feste gefeiert wurden. Sie werden euch ihre neuen Fähigkeiten demonstrieren.“

Durotan fühlte sich plötzlich ohne Grund krank. Draka ergriff vorsorglich seinen Arm, als sie sah, wie bleich er war.

„Mein Gefährte, was ist los?“, fragte sie, während sie gemeinsam mit allen anderen zum Platz des Kosh’harg-Festes gingen.

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht“, sagte er mit leiser Stimme. „Ich fühle mich bloß... als würde gleich etwas Schreckliches geschehen.“

Draka grunzte. „Ich habe dieses Gefühl schon eine sehr lange Zeit.“

Durotan verzog keine Miene. Er war für das Wohl seines Volkes verantwortlich, und sein Verhältnis zu Ner’zhul und wahrscheinlich auch zu Gul’dan war bereits gestört. Durotan war sich wohl bewusst, dass, wenn einer der beiden Schamanen ihn oder seinen Clan in Misskredit bringen wollte, ihm das leichter fallen würde als je zuvor. Die Clans waren jetzt vereint, und würde der Frostwolf-Clan verstoßen werden, bedeutete das sein Ende. Durotan mochte es nicht, wie sich die Dinge entwickelten, aber er konnte nicht ständig dagegen protestieren. Um sich selbst machte er sich keine Sorgen. Aber er wollte nicht zulassen, dass sein Clan litt.

Und trotzdem, sein Blut raste, sein Herz schlug heftig, und sein Körper bebte vor böser Vorahnung. Er sprach ein schnelles Gebet zu den Ahnen, damit sie sein Volk weise leiteten.

Sie erreichten das flache Flusstal, wo seit Generationen das Kosh’harg-Fest stattfand. Als seine Füße den heiligen Boden berührten, fühlte Durotan, wie er sich entspannte. Erinnerungen kamen, und er lächelte, als sie seinen Geist erfüllten. Er erinnerte sich an die schicksalhafte Nacht, als er und Orgrim es gewagt hatten, die Erwachsenen zu belauschen, und wie enttäuscht sie von den langweiligen Unterhaltungen gewesen waren. Inzwischen war er schlauer und sich sicher, dass er und Orgrim, verwegen, wie sie sich damals auch gefühlt haben mochten, wahrscheinlich nicht die Ersten gewesen waren, die dies getan hatten, und bestimmt auch nicht die Letzten.

Er erinnerte sich auch daran, als er zum ersten Mal die Frau gesehen hatte, die später seine Lebensgefährtin geworden war. Er erinnerte sich, wie sie gemeinsam auf die Jagd gegangen waren, wie er um das Feuer zum Klang der Trommeln getanzt hatte, wie das Blut in seinen Adern pulsiert war und wie er den Mond angesungen hatte. Solange sein Volk all dies hatte, dachte er, würde alles gut werden.

Irgendwie ermutigt schaute er dorthin, wo normalerweise die Tänze stattfanden. Ein kleines Zelt stand dort, und er fragte sich, wozu es wohl diente.

Er und Draka blieben ein paar Meter entfernt vom Zelt stehen, weil sie annahmen, dass es Teil der Vorführung war. Die anderen taten es ihnen gleich. Die Sonne schien hell, während sich mehr und mehr Orcs versammelten. Durotan stellte fest, dass die meisten, die an diesem Tag gekommen waren, Clan-Häuptlinge und ihre Schamanen waren.

Gul’dan wartete, bis jeder seinen Platz eingenommen hatte, bevor er auf das Zelt zuging. Die Schamanen, die in dieser geheimnisvollen neuen Magie unterwiesen worden waren, folgten ihm. Sie alle bewegten sich mit Zuversicht und Stolz. Vor dem Zelt blieben sie stehen, und Gul’dan winkte ein paar der Schwarzfelskrieger heran, die vortraten.

In diesem Moment drehte der Wind. Durotans Augen weiteten sich, als er einen vertrauten Geruch wahrnahm.

Draenei...

Leises Gemurmel um ihn herum sagte ihm, dass er nicht der Einzige war, der es roch. In diesem Moment nickte Gul’dan den Kriegern zu. Sie verschwanden kurz im Zelt.

Acht Draenei mit gefesselten Hände wurden aus dem Zelt geführt. Ihre Gesichter waren geschwollen von Schlägen, Lumpen steckten ihnen im Mund, und Blut klebte auf ihrer blauen Haut und auf den Überresten ihrer Kleidung.

„Als die Schamanen des Schwarzfels-Clans jene Magie einsetzten, die ich mit euch teilen will, konnten sie sogar ein paar Gefangene machen“, sagte Gul’dan voller Stolz. „Diese Gefangenen werden mir helfen, euch zu zeigen, was wir mit diesen neuen magischen Fähigkeiten alles machen können.“

Empörung flutete durch Durotan. Einen Feind im bewaffneten Kampf zu schlagen war eine Sache, hilflose Gefangene abzuschlachten eine andere. Er öffnete den Mund, aber eine Hand auf seinem Arm stoppte ihn. Er sah ärgerlich auf und blickte direkt in Orgrim Schicksalshammers kühle graue Augen.

„Du hast davon gewusst“, zischte Durotan.

„Nicht so laut“, raunte Orgrim zurück, und er sah sich um, ob irgendjemand sie beobachtete. Aber das tat keiner, jedermanns Aufmerksamkeit galt Gul’dan und den gefangenen Draenei. „Ja, ich wusste es. Ich war dabei, als sie gefangen genommen wurden. So läuft das nun mal, Durotan.“

„Das war nie die Art der Orcs gewesen“, entgegnete Durotan.

„Sie ist es jetzt“, sagte Orgrim. „Diese Vorführung ist eine traurige Notwendigkeit. Sie mag uns jetzt nutzen, doch ich glaube nicht, dass wir so etwas öfter machen müssen. Wir wollen die Draenei töten, nicht quälen.“

Durotan starrte seinen jahrelangen Freund an. Orgrim hielt seinem Blick einen Moment stand, dann schaute weg. Durotan spürte, wie seine Empörung ein wenig abflaute. Immerhin hatte Orgrim begriffen, dass diese Veranstaltung gegen ihren Ehrenkodex verstieß, auch wenn er sie unterstützte. Aber was sonst hätte Orgrim auch tun können? Er war der Stellvertreter Schwarzfausts. Er war durch einen Eid an seinen Häuptling gebunden. Wie Durotan war er für andere verantwortlich, und vor dieser Verantwortung konnte er nicht davonlaufen. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich Durotan, ein einfaches Clanmitglied zu sein.

Er sah seine Gefährtin an. Sie schaute entsetzt, zuerst zu ihm, dann zu Orgrim. Und dann sah er, wie sich Trauer und Resignation auf ihre Züge legten, und sie senkte den Kopf.

„Diese Wesen sind momentan von Wert für uns“, sagte Gul’dan. Durotan, dessen Körper schwer wie Blei war, wandte seinen Blick dem Schamanen zu. „Wir werden sie benutzen, um unsere neuen Kräfte zu demonstrieren.“

Gul’dan nickte der ersten Schwarzfels-Schamanin in der Reihe zu, die sich verneigte. Leicht nervös schloss die Frau die Augen und konzentrierte sich. Ein Geräusch wie rauschender Wind erfüllte Durotans Ohren. Ein merkwürdiges Muster in violettem Licht erschien zu ihren Füßen und umgab sie schließlich, und über ihrem Kopf begann sich ein violetter Würfel langsam und träge zu drehen. Plötzlich erschien ein kreischendes Wesen zu ihren Füßen. Es hüpfte herum, seine Augen blitzten rot, seine kleinen, aber scharfen Zähne waren gebleckt, was fast wie ein Lächeln wirkte. Durotan hörte Murmeln und dann einige Schreckensschreie.

Andere Schamanen begannen ebenfalls, jene unheimlichen violetten Kreise und Würfel zu beschwören. Die Kreaturen erschienen aus dem Nichts. Einige waren große, formlose Wesen, blau und violett, die merkwürdig schwebten. Andere sahen weniger merkwürdig aus, abgesehen von ihren behuften Füßen und den fledermausähnlichen Flügeln. Einige waren groß, andere klein, und alle standen oder saßen still neben den Schamanen, die sie herbeigerufen hatten.

„Nette kleine Haustiere“, erklang die markante Stimme von Grom Hellschrei, die vor Sarkasmus triefte. „Aber was können sie?“

Gul’dan lächelte nachsichtig und sagte herablassend: „Geduld, werter Hellschrei, ist eine Stärke, keine Schwäche.“

Hellschrei verkniff die Augen zu schmalen Schlitzen, aber er blieb ruhig. Durotan nahm an, dass er so neugierig war wie alle anderen auch. Schwarzfaust lächelte ein wenig, schaute wie ein stolzer Vater. Er allein schien wenig überrascht von dem, was geschah, und Durotan begriff, dass er bereits die Kräfte der neu ausgebildeten Schamanen erlebt hatte.

Einer der Draenei wurde nach vorn geschoben. Seine Hände waren noch gefesselt, deshalb stolperte er ein paar Schritte auf seinen Hufen, dann stand er still. Sein Gesicht wirkte unbeteiligt. Nur sein sich langsam bewegender Schweif zeigte Anzeichen von Anspannung.

Eine Schamanin trat vor, bewegte die Hände und murmelte etwas. Die kleine Kreatur an ihrer Seite hüpfte und sprang, dann floss plötzlich Feuer aus ihren Klauenhänden, das den unglücklichen Draenei einhüllte. Im selben Moment zuckte ein Blitz aus Dunkelheit aus den Fingerspitzen der Schamanin und raste auf den Gefangenen zu. Der brüllte vor Schmerz, während sein blaues Fleisch durch den Angriff der kleinen Kreatur verbrannte. Aber er fiel erst auf die Knie, als der Schattenblitz ihn traf.

Wieder murmelte die Schamanin etwas, und Flammen züngelten direkt aus dem Fleisch des gefolterten Gefangenen. Er schrie vor Qual; seine Schreie wurden durch den Knebel in seinem Mund gedämpft. Er warf sich herum und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann war er ruhig. Der Gestank von verbranntem Fleisch füllte die Luft.

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann trafen Laute Durotans Ohren, mit denen er niemals gerechnet hätte: Rufe der Zustimmung und des Entzückens im Angesicht eines gefesselten Feindes, der hilflos zu Tode gefoltert worden war.

Durotan war vor Schreck wie erstarrt. Ein weiterer Gefangener wurde zur „Demonstration“ getötet. Dieser wurde mit einer Peitsche geschlagen, von einem der schöneren Diener der Schamanen, während gleichzeitig Feuer auf ihn herabregnete und die Dunkelheit ihn erdrückte. Ein dritter wurde nach vorn gebracht, dessen magische Essenz von einem Wesen ausgesaugt wurde, das aussah wie ein deformierter Wolf mit Tentakeln auf dem Rücken.

Durotan stieg die Galle hoch, als blaues Blut und Asche das bedeckten, was einst heiliges Land gewesen war. Land, das einst fruchtbar gewesen war, dessen innewohnende Ruhe brutal vernichtet worden war. Auf diesem Boden hatte er getanzt, hatte den Mond angesungen, hatte sich mit seinem Jugendfreund verschworen, hatte seine Geliebte geheiratet.

Auf diesem Boden hatten Generationen von Orcs ihre Einheit gefeiert, an einem Ort, so heilig, dass man jeden aufkommenden Zwist sofort unterbrach. Der Gestank des verkohlten Fleisches griff seine Nüstern an. Schlimmer noch war der Anblick seiner Brüder, davon einige sogar aus seinem eigenen Clan. Sie feierten ekstatisch die Qualen der hilflosen Wesen, die unfähig waren, auch nur auf ihre Gegner zu spucken.

Er erkannte, dass seine Hand schmerzte. Irgendwie betäubt sah er an sich herunter und bemerkte, dass Draka sie so fest drückte, dass sie seine Knochen zu brechen drohte.

„Auf die Schamanen!“, schrie jemand.

„Nein!“ Gul’dans Stimme klang über den Lärm der jubelnden Menge. „Sie sind nicht mehr länger Schamanen. Sie wurden von den Elementen verlassen, und sie werden sie nicht mehr anrufen und um ihre Hilfe betteln. Seht die, die Macht haben und keine Angst, sie zu benutzen. Seht die Hexenmeister!

Durotan löste seinen Blick von den Fingern, die sich mit denen seiner Gefährtin verknotet hatten, und sah zum heiligen Berg. Seine Flanken reflektierten den Schein der Sonne, und für einen langen Moment fragte sich Durotan, warum er nicht zerbarst wie das verschreckte Herz eines vernunftbegabten Wesens angesichts dessen, was in seinem einst tröstenden Schatten geschehen war.


In der Nacht fanden ausgelassene Feiern statt. Durotan nahm an keiner teil und verbot es auch den Mitgliedern seines Clans. Als die Schamanen des Frostwolf-Clans beisammen saßen und in Stille aßen, wagte Drek’Thar die Frage zu stellen, von der Durotan wusste, dass sie ihrer aller Herzen bewegte.

„Mein Häuptling“, sagte Drek’Thar, „wirst du uns verbieten, die Kenntnisse der Hexenmeister zu erlernen?“

Es folgte langes Schweigen, unterbrochen nur vom Knacken des Feuers. Schließlich ergriff Durotan das Wort: „Ich muss euch erst eine Frage stellen. Gefiel euch, was den Gefangenen heute angetan wurde?“

Drek’Thar war offenkundig unbehaglich. „Es... wäre besser gewesen, wir hätten sie in ehrenhaftem Kampf getötet“, gab er zu. „Aber sie sind unsere Feinde. Das ist doch bewiesen.“

„Bewiesen an dem Tag, an dem sie sich zur Wehr setzten“, erwiderte Durotan scharf. „Das ist alles, was bewiesen ist.“

Drek’Thar wollte protestieren, aber Durotan gebot ihm zu schweigen. „Ich weiß, es ist der Wille unserer Ahnen, aber heute habe ich etwas gesehen, von dem ich geglaubt hatte, es nie miterleben zu müssen. Ich sah den heiligen Boden, auf dem sich seit zahllosen Jahren unser Volk in Frieden traf, besudelt mit dem Blut derjenigen, die nicht mal eine Hand heben konnten, um sich zu wehren.“

Er sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung und roch Orgrims Geruch. Dennoch fuhr er fort: „Im Schatten des Oshu’gun selbst wurden die Draenei getötet, nicht, um die Bedrohung unseres Landes abzuwehren. Die Gefangenen wurden gemeuchelt, um unsere neuen... Talente zu demonstrieren.“

Orgrim räusperte sich, und Durotan winkte ihn zu sich. Orgrim war allen Anwesenden wohl bekannt, und er setzte sich an das Feuer mit der Vertrautheit eines willkommenen Gastes.

„Orgrim“, sagte Draka und berührte den Arm ihres Freundes sanft. „Die ersten... Hexenmeister sind von deinem Clan. Was denkst du darüber?“

Orgrim starrte in das Feuer, und seine schweren Augenbrauen zogen sich zusammen, als er seine Gedanken ordnete. „Wenn wir die Draenei bekämpfen wollen, dann sollten wir kämpfen, um zu siegen. Die Elemente haben die Schamanen verlassen. Sie waren nie wirklich verlässliche Verbündete, keine Freunde.“ Er sah Durotan an und lächelte, und trotz der Schwere in seiner Brust lächelte Durotan zurück. „Diese seltsamen Wesen und ihre seltsamen Kräfte... sie scheinen verlässlicher. Und zerstörerischer.“

„Irgendetwas stimmte mit ihnen nicht...“, murmelte Draka.

Drek’Thar sagte mit ruhiger Stimme: „Draka, ich kenne deine Bedenken. Es sind bestimmt keine Naturkräfte, zumindest nicht so, wie wir Schamanen die Natur empfinden. Aber wer sagt, dass das schlimm ist? Sie existieren, also müssen sie auch ihren Platz in der Ordnung haben. Feuer ist Feuer. Ob es aus den Fingern eines kleinen tanzenden Wesens kommt oder vom Geist des Feuersegens, es verbrennt Fleisch auf die gleiche Art. Ich stimme unserem Gast zu: Wenn wir in den Kampf ziehen, wollen wir auch siegen!“

Draka schüttelte den Kopf, und ihre schönen Augen blickten unglücklich. Ihre Hände bewegten sich, als würde sie auf diese Weise versuchen, nach den richtigen Worten zu greifen.

„Es geht um mehr als darum, Feuer zu beschwören oder die seltsamen Blitze aus Dunkelheit“, sagte sie. „Ich habe gegen die Draenei gekämpft, und nie sah ich sie sich in solcher Pein winden. Doch die Wesen, die den Hexenmeistern dienten, schienen das zu genießen.“

„Wir genießen die Jagd“, hielt Durotan dagegen. Er stritt sich nicht gern mit seiner Gefährtin, aber wie immer musste er erst alle Seiten einer Sache sehen, um zu entscheiden, was das Beste für seinen Clan war.

„Ist es falsch, den Sieg zu wollen?“, fragte Orgrim. „Ist es falsch, Triumph zu empfinden?“

„Auf der Jagd nicht. Ich aber spreche davon, anderen Qualen zuzufügen.“

Drek’Thar zuckte mit den Schultern. „Vielleicht leben die Wesen, die die Hexenmeister beschwören, von dieser Qual. Vielleicht erhält das ihre Existenz.“

„Aber erhält es auch unsere Existenz?“ Drakas Augen blitzten im Feuerschein, und Durotan erkannte sofort, dass ihre Tränen nicht von Wut, sondern von Frustration herrührten.

„Die Draenei hatten uns immer ihre überlegene Magie voraus, selbst als wir noch auf die Hilfe der Elemente zählen konnten“, sagte Drek’Thar. „Ich bin immer ein Schamane gewesen. Ich wurde so geboren. Und jetzt sage ich euch, ich heiße den Pfad des Hexenmeisters willkommen, wenn mein Clanführer mich ihn gehen lässt. Weil ich begreife, dass uns diese Kräfte nützen, nachdem ich mit den Elementen so lange zu tun hatte. Draka, ich würde sagen: Ja, ja, es erhält auch unsere Existenz. Denn die Kräfte der Elemente stehen uns nicht mehr zur Verfügung, und wir müssen die Draenei vom Antlitz dieser Welt vertreiben.“

Draka seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Schweigen legte sich über die kleine Gruppe, das einzige Geräusch war das Knacken des Feuers. Durotan wusste die ganze Zeit, dass etwas fehlte. Aber erst jetzt erkannte er, was es war. Er vermisste die Laute der nachtaktiven Tiere, der Vögel, Insekten und anderer Lebewesen. Sie waren durch die jüngsten Ereignisse an diesem Ort vertrieben worden. Er versuchte es nicht als Omen zu sehen.

„Ich werde dem Frostwolf-Clan erlauben, die neuen Künste zu erlernen“, sagte er schließlich resigniert.

Drek’Thar neigte den Kopf. „Ich danke dir, Durotan. Du wirst es nicht bereuen.“

Durotan antwortete nicht.

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