Kann etwas Segen und Fluch zugleich sein? Erlösung und Verdammnis? Denn für beides halte ich das, was als Nächstes in der Geschichte meines Volkes geschah. Es ist bekannt, dass die entfesselten dämonischen Energien alles von Draenor fernhielten, was gut und lebensspendend war. Kil’jaeden hatte die Zahl der kampffähigen Orcs erhöht, um eine starke Armee zu haben, indem er die Kinder altern ließ und ihnen ihre Kindheit raubte. Jetzt war das Volk der Orcs größer als je zuvor, und es gab keinen Weg, die Hungernden zu ernähren. Wie denen, die in dieser schrecklichen Zeit gelebt haben, ist mir klar, dass unser Volk, wäre es auf Draenor geblieben, wahrscheinlich nicht überlebt hätte.
Aber wie wir unsere Welt verließen... und der Grund dafür... Diese Welt blutet noch immer aus jenen Wunden, die ihr damals geschlagen worden sind. Ich tue, was ich kann, um sie zu heilen, während ich noch immer die Interessen der neuen Horde schütze, die ich gegründet habe. Dennoch frage ich mich, ob diese Wunden je verheilen werden. Leben für mein Volk: Segen. Wie wir dieses Leben erhielten: Fluch.
Die Mitgleider des Schattenrats waren so nervös wie Gul’dan bei Kil’jaedens Verschwinden. Aber jetzt hatten sie eine Aufgabe. Er hatte den Rat einberufen und den Ratsmitgliedern von dem mysteriösen Fremden namens Medivh erzählt. Er hatte von fruchtbaren Feldern, sauberem Wasser, gesunden Beutetieren gesprochen. Und er sprach mit glühenden Worten von den Wesen, die sich Menschen nannten. Sie kämpften gut genug, um eine Herausforderung darzustellen, würden aber der Horde mit Sicherheit unterlegen sein.
„Wasser, Nahrung, Töten. Und Macht für diejenigen, die dazu beitragen, diesen Preis zu gewinnen“, hatte Gul’dan gesagt, und seine Stimme war betörend, fast schon zwingend gewesen. Er hatte sie richtig eingeschätzt. Die Blicke ihrer Augen, einige rot und glühend, andere immer noch braun und intensiv, waren auf ihn geheftet, und er sah Hoffnung in ihren Gesichtern und Gier.
Die Vorbereitungen begannen.
Zuerst mussten sie das Vertrauen der verhungernden Horde zurückgewinnen. Gul’dan wusste, dass die Orcs aufgrund der schwindenden Vorräte und angestachelt von der stetig anwachsenden Gier nach Gewalt damit begonnen hatten, sich gegenseitig anzugreifen. Er hatte Schwarzfaust Erlasse an alle Clans schicken lassen, in denen er ihre besten Krieger zu kontrollierten Schaukämpfen einlud. Die Gewinner würden Nahrung vom verlierenden Clan erhalten und sauberes Wassers sowie Ruhm und Ehre. Dankbar, weil sie damit gleich beide Begierden stillen konnten, nahmen die Orcs die Einladung an. Gul’dan war erleichtert. Medivh wollte eine Armee, die die Menschen angriff. Es durfte nicht sein, dass sich Orcs gegenseitig umbrachten, bevor die Invasion starten konnte.
Durotan machte ihm weiterhin Ärger. Der Häuptling des Frostwolf-Clans, leicht ermutigt dadurch, dass ihn Gul’dan in der Nacht des Angriffs auf Shattrath nicht getötet hatte, schwang nun häufiger in der Öffentlichkeit Reden. Er bezeichnete den Krieg als ehrlos. Er forderte, dass man einen Weg finden müsse, das Land zu heilen. Zwischen seinen Worten hörte man heraus, dass er die Hexer bezichtigte, Schuld an der Misere zu sein. Er bewegte sich hart am Rande des Tolerierbaren, manchmal auch bereits einen Schritt darüber hinaus.
Und, wie immer, hörten ihm Einige zu. Der Frostwolf-Clan hatte es als Einziger komplett abgelehnt, von Mannoroths Blut zu trinken. Aber es gab auch andere in niedrigeren Positionen, die sich dem ebenfalls verweigert hatten. Von denen beunruhigte Gul’dan am meisten Orgrim Schicksalshammer. Der konnte ernste Schwierigkeiten machen. Orgrim hatte Schwarzfaust nie sehr gemocht, und eines Tages würde er vielleicht mehr tun, als ihn nur nicht zu mögen. Aber im Moment schloss er sich nicht öffentlich den Frostwölfen an, sondern war sogar einer der regelmäßigen Sieger in den Wettkämpfen.
Gul’dan hatte weiterhin Visionen. Medivh hatte sehr konkrete Ideen von dem, was er wollte und was zu tun war: ein Portal zwischen den beiden Welten. Das konnte vom Schattenrat und den Hexern auf der einen Seite und Medivh und seinen Magiern auf der anderen Seite erschaffen werden.
Die Arbeiten ließen sich nicht heimlich durchführen, denn das Portal musste sehr groß sein, damit die Armeen, die Medivh forderte, auch hindurchpassten. Außerdem stand es nicht gut um die Moral der Horde. Die aufregenden Wettkämpfe in der Arena und der Bau des Portals mit all seinen Feierlichkeiten gaben ihnen Ziele, an denen sie festhalten konnten.
Medivh gefiel diese Idee. In einer Vision nahm er die Form eines großen schwarzen Vogels an, der sich auf Gul’dans Arm setzte. Klauen gruben sich in Gul’dans Fleisch, und rötlichschwarzes Blut lief über die grüne Haut, aber der Schmerz fühlte sich gut an. Ein kleines Stück Papier war um den Fuß des Vogels gebunden. In seiner Vision entrollte Gul’dan das Papier und sah eine Skizze, eine Art Bauplan, und der raubte ihm den Atem. Als er erwachte, zeichnete er ihn auf ein großes Pergament.
Er begutachtete den Plan, und seine Augen strahlten vor Vorfreude.
„Schön“, sagte er.
„Ich verstehe deine Unzufriedenheit nicht“, sagte Orgrim eines Tages, während er und Durotan auf ihren Reittieren saßen und das Gebäude inspizierten, das Gul’dan Portal nannte. Wohin Durotan auch schaute, überall arbeiteten Orcs. Die Männer waren bis zur Hüfte nackt, die Frauen fast auch, und ihre grüne Haut glitzerte vor Schweiß unter einer Sonne, die das Land verbrannte. Einige sangen Kriegslieder, während sie arbeiteten, andere waren konzentriert und still. Die Straße zum Plateau, die in fast gerader Linie zu der mittlerweile Höllenfeuerzitadelle genannten Festung verlief, war bereits gepflastert, weshalb das Baumaterial leicht herangeschaft werden konnte.
Die Formen der vier großen Plattformen basierten auf Entwürfen der Draenei. Durotan erkannte eine gewisse Ironie darin: Der Originalbauplan war verändert worden, gekrönt von den inzwischen vertrauten Spitzen und scharfen Kanten, die die Orc-Architektur mittlerweile auszeichneten. Aber Durotan konnte sich daran erinnern, auf ähnlichen Stufen als Junge gegangen zu sein. Später hatte er diese Stufen erneut erklommen, in der Absicht, alle, die er oben antraf, zu töten. Zwei Obelisken ragten wie scharfe Speere in den Himmel, eine Statue von Gul’dan stand auf einem weiteren.
Aber am bedrohlichsten wirkten die Steine, die ein wenig hinter den Obelisken standen. Sie bildeten den Rahmen für das eigentliche Portal, das Gul’dan ihnen versprochen hatte. Zwei große steinerne Säulen ragten empor, ein steinerner Balken lag quer über ihnen, um das Tor zu bilden. Figuren waren auf den Steinen zu erkennen, Umrisse von Wesen in Kapuzenmänteln auf beiden Säulen und darüber eine sich windende Schlange.
„Ist dies hier nicht besser, als wenn sie in dein Lager reiten und deine Clan-Leute töten?“, fragte Orgrim.
Durotan nickte. „Ja, sicherlich. Aber wir wissen immer noch nicht, wohin das Portal eigentlich führt.“
Orgrim deutete auf die verdorrte Landschaft. Die Höllenfeuerhalbinsel war eine der verwüstetsten Gegenden der Welt, aber bei Weitem nicht die einzige. „Ist das wichtig? Wir wissen, von wo das Portal wegführt.“
Durotan grunzte amüsiert. „Ich glaube, damit hast du recht.“
Er fühlte, dass der Blick von Orgrims grauen Augen auf ihm ruhte. „Durotan, ich habe dich das bislang bewusst nicht gefragt, aber... warum hast du den Trank, den Gul’dan dir bot, abgelehnt?“
Durotan sah seinen Freund an und antwortete mit einer Gegenfrage: „Warum hast du nicht getrunken?“
„Etwas war... nicht richtig“, antwortete Orgrim nach kurzem Zögern. „Mir gefiel nicht, was es aus den anderen machte.“
Durotan zuckte mit den Schultern. „Du hattest denselben Gedankengang wie ich.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, gestand Orgrim, aber er fragte nicht weiter.
Durotan wollte nicht verraten, was er wusste. Er hatte es geschafft, seine Leute vor dem zu bewahren, was das Dämonenblut aus ihnen gemacht hätte. Er hatte sich gegen Gul’dan durchgesetzt, und bislang hatte das noch keine negativen Auswirkungen gehabt. Orgrim, den Ahnen sei Dank dafür, hatte genug Weisheit besessen, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmte, und hatte den Kelch ebenfalls abgelehnt.
„Ich kämpfe heute“, sagte Orgrim und wechselte damit das Thema. „Kommst du?“
„Ich weiß, dass du das nicht für den Ruhm tust, sondern für deinen Clan“, erklärte Durotan. „Du kämpfst, um Nahrung für sie zu gewinnen und Wasser. Aber ich werde nicht zu diesen Schaukämpfen gehen. Orcs sollten nicht gegeneinander kämpfen. Nicht einmal zum Vergnügen.“
Orgrim seufzte. „Du hast dich nicht verändert, Durotan. Du hattest immer Angst davor, gegen mich zu verlieren.“ Seine Stimme klang vergnügt.
Durotan schaute ihn an, und zum ersten Mal seit ewig langer Zeit lachte er aus vollem Herzen.
Der Tag war gekommen.
Die ganze Nacht lang, während ein Ring aus Hexern Wache gestanden hatte, damit kein Neugieriger das finstere Ritual beobachtete, hatten mehrere Steinmetze hart daran gearbeitet, das letzte Siegel in die Basis des Portals zu schlagen. Nachdem sie fertig waren und einander angelacht hatten, waren sie getötet worden. Das Blut derjenigen, die das Siegel erschaffen hatten, würde es veredeln, hatte Me-divh gesagt. Gul’dan hatte keinen Grund, an der Weisheit seines neuen Verbündeten zu zweifeln. Aber die glücklosen Steinmetze waren nicht die Letzten, die an diesem Ort sterben sollten.
Die Morgendämmerung war feurig rot und orange, die Luft dick und schal. Während das Portal in den letzten paar Tagen fertiggestellt worden war, mussten gleichzeitig auch noch andere Aufgaben erledigt werden. Die Kriegsmaschinen, die vor einigen Monaten die Stadt Shattrath verwüstet hatten, wurden wieder in Dienst gestellt, repariert, geölt und überprüft. Rüstungen, die vernachlässigt worden waren, wurden poliert, Dellen aus Brustpanzern und Helmen gehämmert und Schwerter gewetzt.
Die große orcische Armee, die die Draenei vernichtet hatte, wurde neu aufgestellt.
Von einigen Clans wurde verlangt, dass sie zurückblieben. Gul’dan hatte sein Bestes gegeben, um den Häuptlingen der Clans der Zerschmetterten Hand, der Schattenmonde, des Donnerfürsten, der Blutenden Augen und des Lachenden Schädels einzureden, dass sie hier, auf dieser Welt, dringend gebraucht wurden. Grom und sein Kriegshymnen-Clan waren besonders schwer zu überzeugen gewesen. Als der Häuptling zu wüten begann, hatte sich Gul’dan für einen kurzen Moment gefragt, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Hellschrei von dem Dämonenblut trinken zu lassen, denn weniger als alle anderen hatte er seine Gefühle unter Kontrolle. Vordergründig schmeichelte ihm Gul’dan, indem er behauptete, wie wertvoll Grom für ihn wäre und wie sehr er ihn hier brauchte. Doch in Wirklichkeit wollte er ihn wegen seiner Wildheit und seiner Unberechenbarkeit auf keinen Fall dabei haben. Er konnte nicht riskieren, dass Grom wegen irgendeiner verrückten Idee Befehle verweigerte. Medivh hätte das sicherlich nicht akzeptiert. Natürlich nicht.
Schwarzfaust hatte der gesamten Horde befohlen, sich an der Höllenfeuerzitadelle zu versammeln. Während der letzten paar Tage waren einige, die in ihre angestammten Lager zurückgekehrt waren, darunter der Frostwolf-Clan, zurückgekehrt und kampierten nun vor der Zitadelle. Sie waren dem Befehl gefolgt, sich zu bewaffnen, als ginge es in die Schlacht, obwohl die wenigsten begriffen, was vor sich ging.
Sie kamen, Clan für Clan. Und jeder Clan trug seine traditionellen Farben in Form einer dekorativen Schärpe oder eines Gürtels über der Rüstung. Und an diesem heißen, windigen Tag flatterten ihre Banner stolz im Wind.
Gul’dan und Ner’zhul beobachteten den Aufmarsch, und Gul’dan wandte sich an seinen ehemaligen Lehrer. „Du und dein Clan seid unter denen, die zurückbleiben“, sagte er knapp.
Ner’zhul nickte. „Das habe ich mir schon gedacht“, sagte er fast kleinlaut. Er sagte dieser Tage nicht viel, genauso wie Gul’dan. Der hatte angenommen, dass der ältere Orc versuchen würde, ihm die Macht zu entreißen, nachdem Kil’jaeden ihn verlassen hatte. Aber augenscheinlich war Ner’zhul gebrochen und nicht mehr dazu fähig. Gul’dan dachte verächtlich an die Zeit zurück, als er Ner’zhul geschätzt und geliebt hatte. Wie dumm er damals gewesen war. Er war gewachsen und hatte gelernt, selbst aus der Bitterkeit der Niederlage. Obwohl er manchmal auch einen seltsamen Glanz in Ner’zhuls Augen entdeckte, wie jetzt gerade. Er betrachtete den anderen Orc genau. Wahrscheinlich war es nur eine Täuschung gewesen, ein Lichtreflex. Er konzentrierte sich wieder auf den Aufmarsch und lächelte.
Es war herrlich! Die brennende Sonne glitzerte auf ihren Rüstungen, ihre Banner wehten im Wind, ihre grünen Gesichter leuchteten in Vorfreude. Wenn alles so geschehen würde, wie Medivh es versprochen hatte, dann war dies der große Wendepunkt. Dann würde Gul’dan zur wahren Größe finden.
Die Trommeln begannen zu schlagen. Tief und ursprünglich wummerten sie, ließen die Erde vibrieren, den Stein, die Knochen der Hordenmitglieder. Viele warfen ihren Kopf zurück und heulten, als sie zu marschieren begannen. Sie gingen im Gleichschritt, waren wieder ein vereintes Volk.
Gul’dan hatte keine Eile. Sobald sie alle am Portal versammelt waren, würde er von einem Hexer magisch dorthin transportiert werden. Er konnte die Parade seiner Armee genießen, die die breite Straße zum Portal entlangmarschierte.
Vor dem Portal stand ein Kind der Draenei.
Wo hatten sie das her? Durotan hatte seit Monaten keine Draenei mehr gesehen und auch sonst niemand. Sie mussten sehr viel Glück gehabt haben, einen Draenei zu finden, auch wenn es sich nur um ein Kind handelte.
Sie standen vor der Menge, neben dem Donnerfürst-Clan und dem Drachenmal-Clan. Das Tor des Portals war fertiggestellt und wirkte gleichzeitig schön und erschreckend. Zwei steinerne Gestalten in Kutten, deren Augen entweder durch Magie oder einen raffinierten Trick rot leuchteten, flankierten die Öffnung. Eine in den Stein gemeißelte schlangenähnliche Kreatur ringelte sich auf der oberen, waagerecht liegenden Felsplatte, das Maul weit aufgerissen, sodass man die nadelspitzen Zähne sehen konnte. Sie hatte scharfe, echsenhafte Krallen und Zacken auf dem Rücken. Durotan hatte so etwas noch nie gesehen und fragte sich kurz, wie den Steinmetzen solch ein Bild hatte einfallen können. Ein Albtraum vielleicht? Er grinste. Alles in allem war es ein recht gelungenes Bauwerk.
Aber er würdigte diese Kunstfertigkeit nur am Rande. Seine Blicke waren auf den jungen Draenei gerichtet. Der sah so entsetzlich klein aus im Vergleich zu dem enormen Tor – klein, dünn und verletzlich. Er starrte mit leerem Blick auf das Meer der Orcs, die ihn anbrüllten. Er war bereits so weit jenseits des Schreckens, dass er offenbar nicht einmal mehr Angst enpfand.
„Was werden sie mit ihm machen?“, fragte sich Draka laut.
Durotan schüttelte den Kopf. „Ich fürchte das Schlimmste.“
Sie wandte ihm das Gesicht zu. „Ich sah, wie sie in der Schlacht Kinder erschlugen. Der Blutrausch hatte sie erfasst – ich werde es ihnen nie verzeihen, aber ich verstehe, wie es geschehen konnte. Aber sicherlich werden sie kein Kind für irgendein Ritual töten!“
„Ich hoffe, du hast recht“, sagte Durotan. Aber er konnte keinen anderen Grund erkennen, warum die kleine Gestalt dort vor ihnen stand. Wenn aber seine Befürchtungen zutrafen, würde er nicht einfach zuschauen können. Er wollte seinen Clan nicht noch mehr in Gefahr bringen, deshalb betete er, dass er falsch lag.
Die Hexenmeister sangen, und zu Durotans Erstaunen erschien Gul’dan direkt vor ihren Augen. In der Horde erhob sich ein Murmeln, während Gul’dan ihnen wohlwollend zulächelte.
„Heute ist ein glorreicher Tag für die Orcs!“, rief er. „Ihr alle wart Zeugen, wie das Portal gebaut wurde, das ein Monument für den Ruhm der Horde darstellt. Jetzt werde ich euch die Visionen zeigen, die ich habe.“
Er deutete auf das Tor. „Weit, weit weg liegt ein Land namens Azeroth. Ich habe dort einen Verbündeten. Er bietet uns sein Land an. Es ist grün und fruchtbar, mit sauberem Wasser und fetten Kreaturen. Und das Beste daran: Wir werden weiterhin Blut vergießen können. Ein Volk, genannt Menschen, der Feind unseres Verbündeten, wird versuchen, uns davon abzuhalten, dieses Land in Anspruch zu nehmen. Wir werden sie vernichten. Ihr dunkles Blut wird unsere Schwerter benetzen. So wie wir die Draenei ausgelöscht haben, so werden wir jetzt die Menschen auslöschen!“
Jubel brandete auf. Draka schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie können sie immer noch so fühlen? Begreifen sie denn nicht, dass dieses neue Land genauso leiden wird wie unser altes, wenn wir so weitermachen?“
Durotan nickte zustimmend. „Aber leider haben wir keine andere Wahl. Wir brauchen Nahrung und Wasser. Wir müssen durch das Portal gehen.“
Draka seufzte, als sie die Logik erkannte, die sie dennoch nicht mochte.
„Unser Verbündeter wird das Portal von seiner Seite aus öffnen, sobald wir dies auf unserer Seite machen. Und das werden wir jetzt tun.“ Gul’dan wies auf den kleinen gefangenen Draenei. „Unser Geschenk an die, die uns diese großen Kräfte geben, ist reines, unverdorbenes Blut. Und das Blut eines Kindes ist noch reiner und unverdorbener. Mit dem Lebenssaft dieses Feindes öffnen wir das Portal und treten in eine herrliche neue Welt, und eine neue Epoche in der Geschichte der Horde beginnt!“
Er trat zu dem gefesselten Kind, das ihn mit leeren Augen anschaute. Gul’dan zog einen juwelenbesetzten Dolch. Er glitzerte im Sonnenlicht.
„Nein!“
Durotan hatte es gerufen. Jeder drehte sich um und starrte ihn an. Er drängte vorwärts. Wenn diese Unternehmung durch das Blut eines unschuldigen Kindes ermöglicht wurde, konnte nichts Gutes daraus erwachsen.
Er schaffte keine drei Schritte, bevor er zu Fall gebracht wurde und hart auf die sonnengebackene Erde aufschlug. In dem Moment, da es passierte, hörte er Drakas Kriegsruf und den Klang von Metall auf Metall. Chaos brach aus. Er kämpfte sich auf die Füße und sah den Körper des Kindes. Blaues Blut sprudelte aus seiner aufgeschnittenen Kehle.
„Gul’dan! Was hast du uns angetan?“, kreischte Durotan, aber sein Protest ging im Gebrüll des aufgehetzten Mobs unter. Die Frostwölfe drängten heran, um ihren Häuptling zu schützen. Die Kriegsrufe waren fast schon ohrenbetäubend. Durotan wurde der Atem aus der Lunge gepresst, als der Angreifer – er konnte nicht sagen, von welchem Clan er war – ihn erneut attackierte. Zur Verteidigung hob Durotan die Axt und schwang sie dann. Der andere wich aus, bewegte sich schneller, als Durotan es erwartet hatte, griff wieder an und...
Der Klang der Schreie änderte sich abrupt, als der Boden unter ihren Füßen rumpelte und ein tiefer, durchdringender Laut sie alle bis ins Mark erschütterte. Die Kämpfe brachen ab, und alle Orcs schauten zum Portal. Noch vor einem Augenblick hatte man zwischen den beiden steinernen Säulen hindurchschauen können und nur die Landschaft der Höllenfeuerhalbinsel gesehen. Auf einmal aber herrschten dort Schwärze und wirbelnde Sterne. Selbst Durotan war von dem Anblick gebannt. Als er genauer hinsah, schimmerte die Schwärze, und ein Bild formte sich, das ihn ebenso erschreckte wie verwirrte.
Gul’dan hatte von einem schönen Land gesprochen, reich an fetten Beutetieren, fruchtbaren Feldern und blauem Himmel. Durotan sah einen Ort, den er noch nie gesehen hatte. Doch was für ein Unterschied zu dem idyllischen Reich, das Gul’dan beschrieben hatte! Es war so feucht, wie Draenor trocken war. Träger Dunst floss über brackiges Wasser und bewegte Sumpflandgräser. Ein schrilles Zirpen erfüllte die Luft, Immerhin, dachte Durotan, gab es Leben an diesem seltsamen Ort.
Ein Murmeln lief durch die Menge. Dahin wollte Gul’dan sie schicken? Es war auf den ersten Blick nicht viel besser als ihr eigenes Land. Aber dann dachte Durotan daran, dass Wasser Leben bedeutete. Auch wenn der Himmel orange statt blau war und das Land schlammig statt mit Blumen und Wiesen bedeckt, war es doch in der Lage, Leben zu erhalten.
Er sah Gul’dan an, als das Gemurre anschwoll. Gul’dan musste offenbar noch seinen Schock überwinden. Er gestikulierte um Ruhe.
„Azeroth ist eine große Welt, so wie diese hier!“, rief er. „Ihr wisst, wie unterschiedlich eine Welt von Land zu Land sein kann. Ich bin mir sicher, genauso ist es hier. Dieser Ort sieht nicht so einladend aus, aber...“ Seine Stimme wurde leiser, und er schüttelte sich. „Aber seht, es ist echtes Land, es ist real! Ihr...“
Gul’dan brach wieder ab und wies auf zwei Dutzend voll gerüstete Orcs, die neben dem Portal standen. Sie sprangen in Habachtstellung. „Ihr wurdet ausgewählt, die Ersten zu sein, die dieses neue Land erkunden. Geht im Namen der Horde!“
Die Orcs zögerten nur einen Moment, dann rannten sie entschlossen auf das Portal zu und hinein – und hindurch!
Das Bild verschwand.
Durotan sah Gul’dan an. Der Hexer bemühte sich, gelassen zu wirken, doch es war offenkundig, dass er verunsichert war.
„Sie sind unsere Kundschafter“, rief er. „Sie werden mit Neuigkeiten von dieser Welt zurückkehren.“
Und bevor sich die versammelten Orcs wirklich sorgen konnten, erschien das Bild des Sumpfes wieder. Die Krieger grinsten breit. Mehr als die Hälfte trugen die Kadaver von großen Tieren. Eins war ein Reptil, schuppig, langschwänzig, mit Stummelbeinen und langen Zähnen. Das andere war ein Vierbeiner, pelzig, mit Klauen an allen vier Füßen, einem langen Schwanz, kleinen runden Ohren und Tupfer auf seinem gelben dichten Fell. Beides waren offensichtlich gesunde Spezies.
„Wir haben beide Arten von Kreaturen getötet und gegessen“, sagte der Anführer der Kundschafter. „Ihr Fleisch ist gut. Das Wasser dort ist rein. Wir brauchen kein schönes Land. Wir brauchen eins, das uns ernährt und uns erhält. Dieses Azeroth wird diesen Ansprüchen genügen, Gul’dan.“
Erneut ging ein Murmeln durch die Menge. Entgegen seinem eigenen Willen richtete sich Durotans Blick auf die Tiere, die die Kundschafter mitgebracht hatten, und sein Magen knurrte. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.
Gul’dan entspannte sich sichtlich. Er sah zu Durotan hinüber, und seine Augen verengten sich. Durotan hatte eine dunkle Vorahnung, scharf und bitter stieg sie ihm in der Kehle auf.
Er und sein Clan wurden gebraucht, das wusste er. Er wusste aber auch, dass er dadurch, dass er das Kind hatte retten wollen, selbst bei einigen ehemaligen Unterstützern Sympathien eingebüßt hatte. Beinahe erwartete er schon, dass Gul’dan seine Exekutierung oder Verbannung anordnete, aber offenbar hatten Gul’dan und Schwarzfaust noch Verwendung für Durotan und die Frostwölfe.
So sollte es sein. Zunächst einmal würde er an der Seite seiner Brüder kämpfen. Morgen würde er sich dann um sich selbst Gedanken machen müssen. Was immer auch geschehen würde, eins stand für Durotan fest: Er würde sterben, ohne seine Ehre befleckt zu haben.
Gul’dan schaute wieder über die gebannte Menge von Orcs und atmete tief ein.
„Dies ist der Moment der Bestimmung“, sagte er. „Auf der anderen Seite erwartet uns ein Neuanfang. Ein neuer Feind muss bekämpft werden. Ihr könnt es fühlen, nicht wahr? Der Blutrausch steigt. Folgt Schwarzfaust! Hört auf seine Befehle, und ihr werdet diese Welt beherrschen, wie es euer Recht ist. Diese Welt auf der anderen Seite des Portals ist eure Welt. Nehmt sie euch!“
Die Schreie waren ohrenbetäubend. Die Menge drängte vorwärts. Selbst Durotan wurde von der Erregung erfasst. Eine neue Welt wartete auf sie, fruchtbar und bereit, erobert zu werden. Vielleicht waren seine Sorgen unbegründet. Vielleicht war das tatsächlich ein guter Neuanfang. Durotan liebte seinen Clan, liebte sein Volk. Er wollte, dass beide stark waren. Und er genoss es, wie alle Orcs, Beute zu machen.
Vielleicht würde alles gut werden.
Die Axt in der Hand, Hoffnung in seinem Herzen, schloss sich Durotan den anderen an, lief auf das Portal zu, zu dem Ort namens Azeroth. Er reckte die Faust in den Himmel und brüllte den Ruf, der auf den Lippen jedes Orcs lag, während sie vorwärtsdrängten.
„Für die Horde!“