19

Ich bin stolz auf mein Erbe. Ich bin stolz, dass Durotan und Draka meine Eltern sind. Ich bin stolz, dass mich Orgrim Schicksalshammer Freund nennt und mir bei der Führung des Volkes, das er liebt, vertraut.

Ich bin stolz auf den Mut meiner Eltern, und gleichzeitig wünschte ich, sie hätten mehr tun können. Aber ich war nicht an ihrer Stelle. Es ist leicht, sich Jahrzehnte später aus einer sicheren Position heraus zurückzulehnen und Kritik zu üben: „Du hättest das anders machen müssen“ oder „Du hättest besser jenes gesagt.“

Ich verurteile niemanden. Mit Ausnahme der Handvoll Orcs, die genau wussten, was sie taten. Die wussten, dass sie das Leben und die Bestimmung unseres Volkes eintauschten gegen eine kurzfristige Erfüllung ihrer Wünsche. Und sie taten es auch noch mit Freude.

Über die anderen kann ich nur den Kopf schütteln und dankbar sein, dass ich nicht die Entscheidungen fällen musste, die sie zu treffen hatten.


Gul’dan war so aufgeregt, dass er sich kaum zurückhalten konnte. Er hatte auf diesen Augenblick gewartet, seit Kil’jaeden zum ersten Mal davon gesprochen hatte. Er wollte noch schneller vorankommen als selbst sein Meister, aber Kil’jaeden hatte gelacht und ihn zur Geduld gemahnt.

„Ich habe sie gesehen, sie sind noch nicht bereit. Der Zeitplan ist wichtig, Gul’dan. Ein Schlag, der zu früh kommt oder zu spät, tötet nicht, sondern verwundet nur.“

Gul’dan hielt es für eine merkwürdige Metapher, verstand aber, was Kil’jaeden ihm sagen wollte. Endlich jedoch glaubte auch Kil’jaeden, dass die Orcs für den abschließenden Schritt bereit waren.

Der Schwarze Tempel hatte einen Innenhof, der offen zum Nachthimmel war. Als der Tempel noch den Draenei gehört hatte, war der Bereich ein fruchtbarer Garten gewesen, mit einem rechteckigen Becken in der Mitte. Die Eroberer hatten das süße, reine Wasser während der letzten Wochen ausgetrunken und sich nicht darum gekümmert, es wieder aufzufüllen. So war das Becken nicht mehr als Stein und Fliesen. Die Bäume und die blühenden Pflanzen, die darum gestanden hatten, waren längst eingegangen. Auf Kil’jaedens Anweisung hin standen Ner’zhul und Gul’dan neben dem leeren Becken. Keiner wusste, was ihn erwartete.

Einige lange Stunden standen sie in völliger Stille da. Gul’dan fragte sich, ob er den Herrn vielleicht irgendwie verärgert hatte. Der Gedanke trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. Er sah nervös hinüber zu Ner’zhul. Er fragte sich, ob man den aufsässigen Schamanen für seine Befehlsverweigerung hinrichten würde, und er freute sich ein wenig bei diesem Gedanken.

Sein Geist wanderte, zog verschiedene Foltermethoden in Betracht, die man Ner’zhul antun konnte, als ein plötzliches lautes Donnern erklang. Gul’dan sah zum Himmel. Wo vorher noch Sterne gewesen waren, befand sich auf einmal nur völlige Schwärze. Er schluckte schwer, sein Blick war von der Leere gefesselt.

Plötzlich begann die Dunkelheit zu pulsieren. Es sah aus wie eine Gewitterwolke, schwarz und brodelnd. Dann begann sie sich in Wirbeln zu drehen, erst langsam, dann immer schneller. Wind fuhr durch Gul’dans Haar und wehte durch seine Robe, bis der Wind seine Haut scheuerte. Die Erde unter seinen Füßen bebte. Aus den Augenwinkel heraus sah er, wie sich Ner’zhuls Lippen bewegten, aber er konnte nicht hören, was er sagte. Der Wind war zu laut, das Beben des Bodens unter seinen stetig unsichereren Füßen zu heftig.

Der Himmel riss auf.

Etwas Grelles und Strahlendes donnerte direkt vor Gul’dan und Ner’zhul in die Erde. Es schlug so hart auf, dass Gul’dan stürzte. Eine lange schreckliche Minute lang konnte er nicht atmen, er lag nur auf dem Boden und schnappte wie ein Fisch auf dem Trocknen nach Luft, bis sich schließlich seine Lungen wieder daran erinnerten, wie sie funktionierten, und er sog laut die Luft ein.

Er stand auf, sein Körper zitterte unkontrolliert, und schon wieder verschlug es ihm den Atem angesichts dessen, was er sah.

Es türmte sich über ihm auf. Erdstücke flogen umher, als es die vier Beine schüttelte, die in Hufen endeten und verärgert die riesigen ledrigen Flügel entfaltete. Das Haar war mehr eine Mähne und floss in grünen Ranken über seinen Rücken. Grüne Augen glitzerten wie feurige Sterne, und seine schnappenden Hauer fingen das schwache Licht ein, als es sein Maul öffnete. Es hatte schier endlos viele Reihen scharfer Zähne, und sein Gebrüll wollte Gul’dan dazu zwingen, sich auf dem Boden zu wälzen und in äußerster Panik zu schreien, doch irgendwie blieb er stehen. Das Monster hob die verkrampften Fäuste und schüttelte sie heftig. Dann senkte es den Kopf und schaute sich um.

Was ist das für ein Ding!, schrie Gul’dan lautlos.

Plötzlich erschien Kil’jaeden, schaute auf Gul’dan herab und grinste. „Seht meinen Leutnant Mannoroth. Gut hat er mir gedient, und gut wird er mir dienen. Auf anderen Welten nennt man ihn den Zerstörer. Aber hier ist er der Retter, Gul’dan“, sagte Kil’jaeden, und plötzlich fühlte sich Gul’dan wieder schwach und krank. „Du weißt, welches Angebot ich für dein Volk habe.“

Gul’dan schluckte schwer. Er traute sich nicht, Ner’zhul anzuschauen, dessen Blick er auf seinem Rücken spürte.

Ja, er wusste genau, wie Kil’jaedens Angebot aussah: Macht-Macht jenseits aller Vorstellungskraft. Und ewige Sklaverei. Kil’jaeden hatte es bereits Ner’zhul angeboten, aber der Feigling hatte abgelehnt. Er wollte sein Volk nicht verdammen.

Gul’dan kannte solche Skrupel nicht. Seine Gedanken waren ausschließlich auf die Belohnung konzentriert, die Kil’jaeden ihm versprochen hatte.

„Ja, das weiß ich, großes Wesen“, sagte Gul’dan, überrascht von der Stärke und Gleichmäßigkeit seiner Stimme. „Ich weiß es, und ich nehme das großzügige Angebot an.“

Kil’jaeden lächelte. „Gut. Du bist weiser als dein Vorgänger.“

Zufrieden wandte sich Gul’dan an Ner’zhul und grinste ihn hämisch an. Der ältere Schamane starrte flehentlich auf seinen ehemaligen Schüler. Er wagte nicht zu sprechen, aber das musste er auch nicht. Selbst im schwachen Sternenglanz war der Ausdruck in seinem Gesicht deutlich zu erkennen.

Gul’dan lachte und wandte sich wieder Mannoroth zu. Er war immer noch schrecklich beeindruckend, aber Gul’dans Angst war im Angesicht seines überwältigenden Strebens nach Macht verschwunden. Er sah das Wesen an und wusste, dass es so wie er selbst hoch angesehen war bei demjenigen, dem sie beide dienten. Sie waren Waffenbrüder.

„Nur eine spezielle Klinge kann tun, was ich von dir verlange, Gul’dan“, rumpelte Kil’jaeden. Er streckte die Hand aus. Der Dolch wirkte klein im Vergleich zu der großen Hand, in der er lag. Aber er war recht groß, als Gul’dan seine Finger darum schloss.

„Er wurde in den Feuern des Berges in der Ferne geschmiedet“, sagte Kil’jaeden und zeigte auf den rauchenden Berg. „Meine Diener haben lange hart daran gearbeitet. Du weißt, was zu tun ist, Mannoroth.“

Die Kreatur nickte mit ihrem großen Kopf. Ihr Schweif bewegte sich, um seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Sie kniete auf ihren beiden Vorderfüßen nieder und streckte einen Arm aus. Dabei winkelte sie ihre Hand so an, dass das vergleichsweise weiche Fleisch ihres Handgelenks freilag.

Einen Herzschlag lang zögerte Gul’dan. Was, wenn das ein Trick oder Test war? Was, wenn Kil’jaeden nicht wollte, dass er das tat? Was, wenn er versagte? Was, wenn Ner’zhul recht hatte?

„Gul’dan“, sagte Kil’jaeden, „Mannoroth ist für viele seiner Eigenschaften bekannt. Geduld gehört nicht dazu.“

Mannoroth knurrte leise, und seine grünen Augen glitzerten. „Ich bin begierig darauf zu sehen, was passiert. Tu es!“

Gul’dan schluckte schwer, hob die Klinge, zielte auf das Fleisch von Mannoroths freigelegten Handgelenken und schnitt so kräftig zu, wie er konnte.

Er flog rückwärts davon, als ihn der Machtstoß der Kreatur traf, die vor Schmerz brüllte. Benommen hob er den Kopf, blinzelte und versuchte, seinen Blick zu klären.

Flüssiges Feuer sprudelte aus der Wunde, kränklich-grünlich-gelb leuchtete es, als es in das Becken der Draenei-Priester lief. Die Wunde war klein verglichen mit Mannoroths Körper, aber das Blut strömte daraus hervor wie aus einem kleinen Wasserfall. Am Rande bekam Gul’dan mit, dass Ner’zhul, der Schwächling, schrie. Gul’dan konnte seinen Blick nicht von dem Blutstrom losreißen, der floss, ohne zu versiegen, während die Kreatur brüllte und vor Schmerz um sich schlug. Gul’dan stand auf, ging zum Rand des Beckens und war dabei sehr vorsichtig, um nicht mit der Flüssigkeit in Kontakt zu kommen, die aus der Wunde strömte.

„Seht das Blut des Zerstörers!“, rief Kil’jaeden. „Es brennt alle hinweg, die dir nicht dienen wollen, Gul’dan. Es reinigt alle Gedanken von Zögerlichkeit, Verwirrung und Unsicherheit. Es generiert einen Hunger, den du in jede beliebige Richtung lenken kannst. Deine kleine Marionette glaubt, sie regiert die Horde, aber sie liegt falsch. Der Schattenrat denkt, er regiert die Horde, aber auch sie liegen falsch.“

Gul’dan hob den Blick vom Becken mit der glühenden grünen Flüssigkeit, die weiterhin aus Mannoroths verwundetem Arm strömte.

„Gul’dan“, sagte Kil’jaeden, „bald schon wirst du die Horde anführen. Sie sind bereit. Sie dürsten nach dem, was du ihnen geben wirst.“

Gul’dan senkte erneut den Blick und richtete ihn auf die glühende Flüssigkeit.

„Ruf sie zu dir. Lösche ihren Durst und wecke ihren Hunger!“


Der mittlerweile vertraute Klang des Horns weckte die Horde und rief sie bereits vor Sonnenaufgang auf dem Innenhof zusammen. Durotan hatte nicht geschlafen; er schlief nicht mehr viel. Er und Draka standen schweigend auf und begannen sich anzuziehen.

Plötzlich hörte er, wie sie scharf einatmete. Er drehte sich um und sah, dass sie ihn anstarrte. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

„Was ist los?“, fragte er.

„Deine... Haut“, sagte sie mit hastiger Stimme.

Er sah auf seine nackte Brust. Seine Haut war trocken und fleckig, und als er sich kratzte, sah die Haut darunter grün aus.

Er erinnerte sich, dies vor nicht allzu langer Zeit auf dem jungen Ghun gesehen zu haben.

„Das ist nur das Licht“, sagte er und versuchte, sowohl seine Gefährtin als auch sich selbst zu beruhigen. Sie ließ sich aber nicht so leicht davon abbringen.

Draka hob den eigenen Arm und kratzte sich. Auch ihre Haut war grün. Sie schaute ihn aus ihren dunklen Augen an. Sie sahen es beide. Es war keine Täuschung.

„Was geschieht mit uns?“, fragte Draka.

Durotan hatte keine Antwort.

Sie zogen sich weiter an, und als er hinausging, schaute Durotan auf seinen Arm, wo der merkwürdige grüne Farbton unter der verbeulten Rüstung verborgen war.

Die Bekanntgabe der Versammlung war gestern Nachmittag während des Trainings mit einigen der jüngeren Orcs eingetroffen. Durotan konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass er Kinder sah, die vor einigen Monaten noch kaum laufen konnten, nun aber Schwerter und Äxte mit unglaublicher Kraft führten. Sie schienen zufrieden mit ihrer neuen Situation zu sein, aber Durotan musste jedes Mal gegen den Drang ankämpfen, den Kopf zu schütteln, sobald er sie sah.

Er empfand nicht einmal Neugierde wegen ihres nächsten Ziels. Es würde so wie immer sein: Kämpfen, Raserei, Schänden der Leichen. Neuerdings wurden sogar die Körper der gefallenen Mitglieder der Horde auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, dort, wo sie gefallen waren. Ihre Waffen und Rüstungen nahm man, um sie wiederzuverwenden. Manchmal verneigte sich ein Freund oder Familienangehöriger kurz vor einem Leichnam, aber selbst das geschah immer seltener. Vorbei waren die Tage, als man die geehrten Toten nach Hause brachte, wo sie in einer feierlichen Zeremonie verbrannt wurden, damit ihre Geister mit allen Ehren zu den Ahnen gingen. Man nahm sich keine Zeit mehr für solche Rituale. Man nahm sich nicht mal Zeit für die Toten. Man nahm sich überhaupt keine Zeit mehr für irgendetwas, außer Draenei zu töten und Waffen und Rüstungen herzustellen, damit die Horde wieder ausziehen und ihre Aufgabe fortsetzen konnte.

Er stand mit gelangweiltem Blick im Innenhof und wartete auf seine Befehle. Schwarzfaust ritt zu den Toren der Zitadelle, wo sie ihn gut sehen konnten. Es war windig, die Banner der verschiedenen Clans flattern.

„Wir haben einen langen Marsch vor uns!“, rief Schwarzfaust. „Euch wurde gesagt, Verpflegung einzupacken, ich hoffe, ihr habt das auch gemacht. Krieger, eure Waffen müssen bereit sein und eure Rüstung einwandfrei. Heiler, haltet eure Salben, Tränke und Verbände bereit. Aber bevor wir in den Krieg ziehen, ziehen wir in den Ruhm.“

Er hob eine Hand und zeigte in die Ferne, wo der düstere Berg, der sich in den Himmel erhob, schwarzen Rauch ausstieß.

„Das ist unser erstes Ziel. Wir werden den Berg hochwandern –und was dort geschieht, wird für tausend Jahre in Erinnerung bleiben. Ein neues Zeitalter beginnt, und die Orcs werden eine Kraft kennenlernen, wie sie sie nie zuvor erlebt haben.“

Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Dann nickte er, sichtbar zufrieden mit dem Gemurmel, das durch die Menge lief.

Durotan spannte sich. So, heute also...

Wie es seine Art war als jemand, der nicht mehr sagte, als er musste, beendete Schwarzfaust seine aufpeitschende Rede mit einem gebrüllten „Vorwärts!“

Die Horde drängte vor, neugierig und erregt durch Schwarzfausts Worte. Durotan sah schnell zu Draka, die bloß nickte, um noch einmal zu zeigen, dass sie seinen Plan unterstützte. Dann befahl er seinen schweren Füßen, sich in Bewegung zu setzen, und er folgte den anderen.


Es war ein schmaler, tiefer Pfad, der den rauchenden Berg hinauf zu einem großen Plateau führte. Auf Durotan wirkte es fast, als wäre ein Stück der Bergflanke mit einem sauberen Schwertstreich abgeschnitten worden, so unnatürlich eben war das Plateau. Seine Haut kribbelte bei diesem Gedanken. Nur sehr wenig, was in letzter Zeit in seinem Leben geschah, schien natürlich. Drei große Felsplatten aus poliertem Stein lagen in einer Reihe, teilweise in der Erde vergraben. Sie waren schön, aber zur selben Zeit düster. Die Orcs waren müde nach dem langen Aufstieg in der glühenden Sonne mit voller Rüstung, Waffen und Verpflegung. Durotan fragte sich, was die Absicht dahinter war. Es gab keinen Grund, die Krieger vor der Schlacht zu erschöpfen. Vielleicht würden sie ja später angreifen, vielleicht am Morgen, wenn alle wieder erholt waren.

Zu Durotans Überraschung sprach Gul’dan statt Schwarzfaust zu ihnen, nachdem sie sich versammelt hatten und Ruhe eingekehrt war.

„Es ist noch nicht so lange her“, begann Gul’dan, „dass wir ein verstreut lebendes Volk waren. Wir kamen nur zwei Mal im Jahr zusammen, und dann auch nur, um zu singen, zu tanzen, zu trommeln und zu jagen.“

Er sprach die Worte mit einer Stimme, die vor Geringschätzung triefte. Durotan senkte den Blick. Seit Jahrhunderten waren die Clans zum Kosh’harg-Fest zusammengekommen. Das war nichts Dummes, wie Gul’dans Tonfall unterstellte, sondern etwas Heiliges und Machtvolles. Es hatte verhindert, dass die Clans einander angriffen. Aber es schien, als wäre das schon ein ganzes Leben her, betrachtete man die Reaktionen der Orcs um ihn herum. Auch sie grunzten abfällig, schwangen ihre Waffen und schauten beschämt. Selbst die, die einst Schamanen gewesen waren.

„Seht uns jetzt an! Wir stehen Schulter an Schulter, Clan neben Clan – der Clan des Lachenden Schädels neben dem Drachenmal-Clan, Schattenhammer-Clan neben Kriegshymnen-Clan. Alle unter der starken, einfühlsamen Leitung von Schwarzfaust, den ihr erwählt habt, dass er euch vereint. Für Schwarzfaust!“

Jubel brandete auf. Durotan und Draka fielen nicht mit ein.

„Unter seiner weitsichtigen Führung und mit dem Segen der Wesen, die uns als ihre Verbündete auserkoren haben, sind wir stark geworden. Und wir sind stolz geworden. Wir haben in zwei Jahren mehr Fertigkeiten und Techniken erlernt als vorher in zwei Jahrhunderten.

Die Bedrohung, die einst über uns schwebte, ist zerschlagen. Und wir brauchen nur noch einen kleinen Anstoß, um sie für immer zu beseitigen. Aber zuerst... zuerst, werden wir uns selbst der Sache verschreiben und dafür im Gegenzug einen Segen erhalten.“

Er bückte sich und hob dann ein seltsames Gefäß hoch. Es sah aus, als wäre es aus dem Horn einer Kreatur geschnitzt. Aber Duro-tan hatte nie eine Spaltfußart mit so einem großen Horn gesehen. Es war gebogen und vergilbt. Merkwürdige Zeichen standen darauf geschrieben, und während die Nacht immer mehr hereinbrach, schienen sie leicht zu leuchten. Und was auch immer dieses Gefäß enthielt, es leuchtete ebenfalls. Als Gul’dan es vor sich hielt, strahlte ein fürchterlich gelb-grünes Licht sein Gesicht von unten an und warf wilde Schatten.

„Dies ist der Kelch der Einheit“, rief Gul’dan mit ehrwürdiger Stimme. „Dies ist der Kelch der Wiedergeburt. Ich biete ihn jedem Anführer jedes Clans, und er kann ihn jedermann in seinem Clan anbieten. Wer will als Erster vortreten, um seine Loyalität zu beweisen und seinen Segen zu erhalten?“

Gul’dan drehte sich ein wenig nach rechts, um Schwarzfaust sehen zu können. Der grinste und öffnete den Mund, um zu antworten, als eine wilde, vertraute Stimme durch die Nacht drang.

Nein, dachte Durotan, nein... nicht er...

Drakas Hand umklammerte fest seinen Arm. „Wirst du ihn warnen?“

Durotans Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte nicht sprechen, schüttelte nur den Kopf. Nein, der schlanke, aber dennoch imposante Orc, der nach vorn trat, war zwar sein Freund, aber niemand durfte erkennen, dass er wusste, was vor sich ging.

Nicht einmal für Grom Hellschrei.

Der Häuptling des Kriegshymnen-Clans schritt durch die Menge, bis er vor Gul’dan stand. Schwarzfaust schaute ihn ein wenig verstimmt an. Sicher hatten Gul’dan und Schwarzfaust abgesprochen, dass der Kriegshäuptling zuerst trinken würde.

Gul’dans Mund verzog sich zu einem Lachen. „Immer bereit, den Augenblick zu nutzen, werter Grom“, sagte er, verbeugte sich leicht und gab den Kelch mit der wirbelnden grünen Flüssigkeit an Grom. Wellen der Hitze und des Lichts stiegen daraus auf, und Groms Gesicht – bereits bemalt, um Angst bei seinen Gegnern und Respekt bei seinen Verbündeten hervorzurufen – sah noch furchteinflößender aus.

Er zögerte nicht, hob den Kelch an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Durotan beobachtete ihn und wartete angespannt auf das, was geschehen würde. Vielleicht stammte der Brief ja nicht von jemand Wohlwollendem, sondern jemand mit üblen Absichten, und es würde nicht...

Gul’dan hatte kaum den Kelch von Grom zurückerhalten, als sich der andere Orc versteifte und sich dann schüttelte. Er taumelte einen Moment, und die Menge raunte vor Sorge. Durotan starrte mit Schrecken, als Groms Körper auf einmal pulsierte und zuckte. Vor seinen Augen verbreiterten sich Groms für einen Orc schmale Schultern. Seine Rüstung knackte, als sie sich über den neuen, kraftvolleren Körper spannte. Dann war es vorbei, und Grom straffte seine Haltung. So groß, wie er immer gewesen war, und doch neu gebildet von der grünen Flüssigkeit, die ihn noch kräftiger gemacht und ihm stärkere Muskeln gegeben hatte, ließ er den Blick über die Menge schweifen.

Was Durotan von seinem Gesicht sehen konnte, war glatt und wirkte gesund, war aber vollständig grün.

Grom warf den Kopf zurück und schrie. Der Schrei war lauter, als Durotan ihn jemals hatte schreien hören. Es war, als würde ihm ein Messer durch den Körper schneiden. Durotan hielt sich die Ohren zu, so wie fast jeder andere. Aber er konnte den Blick nicht von Groms Gesicht wenden.

Groms Augen glühten rot.

„Wie fühlst du dich, Grom Hellschrei vom Kriegshymnen-Clan?“, fragte Gul’dan mit eigenartiger Milde.

In Groms Gesicht lag ein Ausdruck der Verzückung, und er schien nach Worten zu suchen. „Ich fühle mich... großartig. Ich fühle mich...“ Er brach ab und brüllte erneut, als wenn nur dieser urgewaltige Schrei ausdrücken könnte, wie er sich fühlte. „Gebt mir Draeneifleisch zum zerreißen! Gebt mir Draeneiblut – ich saufe es, bis ich nicht mehr kann. Gebt mir ihr Blut!“

Seine Brust bebte mit der Leidenschaft seiner Gefühle. Er wirkte, als könnte er eine komplette Stadt mit bloßen Händen auseinandernehmen. Und Durotan glaubte, dass er das tatsächlich vermochte.

Hellschrei deutete auf seinen Clan. „Krieger des Kriegshymnen-Clans – tretet vor! Nicht einem von euch wird diese Verzückung verwehrt werden!“

Die Kriegshymnen-Krieger liefen nach vorn, alle begierig darauf, das zu fühlen, was ihr Häuptling fühlte. Der Kelch wurde herumgereicht, und einer nach dem anderen trank. Jeder zuckte einen Moment in tiefer Qual, doch jedes Mal schien sich diese Qual in scheinbares Entzücken und offensichtliche Stärke zu verwandeln. Und die Augen von jedem, der trank, färbten sich rot.

Schwarzfaust schaute zu, und sein Blick wurde noch finsterer. Als der letzte Kriegshymnen-Krieger aus dem Kelch getrunken hatte, grunzte er: „Jetzt werde ich trinken!“

Er nahm den Kelch und nahm einen großen Schluck. Dann fasste er sich einen Moment an die Kehle, blieb aber völlig ruhig, während die schwarze Magie ihre höllische Aufgabe erfüllte. Er hatte seine Rüstung ausgezogen, und so war das Anwachsen seiner Muskeln unter der grünen Haut gut zu sehen.

Er winkte seinen Söhnen, und Maim und Rend schubsten andere Orcs aus dem Weg. Durotan sah wie Griselda, Schwarzfausts einzige Tochter, zögerte, bevor auch sie vortrat, um zu trinken.

Schwarzfaust lachte sie aus. „Du nicht!“, schnarrte er.

Griselda zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. Doch Durotan, der das Mädchen immer gemocht hatte, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Schwarzfaust wollte sie beschämen. Stattdessen hatte er ihr unwissentlich ein großes Geschenk gemacht.

Schwarzfaust winkte Orgrim zu sich. „Komm, Freund Orgrim! Trink mit mir!“

Selbst als sein bester und ältester Freund gerufen wurde, um die verderbliche Flüssigkeit zu trinken, konnte Durotan nicht sprechen. Aber dankbarerweise musste er das auch nicht.

Orgrim neigte den Kopf. „Mein Häuptling, ich werde diesen Ruhm nicht von dir nehmen. Ich bin dein Stellvertreter, nicht der Häuptling selbst. Mir verlangt auch nicht nach dieser Position.“

Durotan sackte vor Erleichterung zusammen. Orgrim sah, was Durotan gesehen hatte. Auch wenn er nicht wusste, was Durotan wusste, so war er kein Narr. Er hatte seine eigene Seele, und er würde sie nicht aufgeben für diese Art Macht, die den Körper stärkte und die Augen im düsteren Rot glühen ließ.

Nun stellten sich die anderen Häuptlinge der Reihe nach auf. Sie waren begierig auf diesen Segen, der zwei ihrer berühmtesten und respektiertesten Häuptlinge so begeisterte. Nur Durotan rührte sich nicht.

Drek’Thar beugte sich zu ihm hin und flüsterte: „Mein Häuptling, trinkst du denn nicht?“

Durotan schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich werde auch niemandem aus meinem Clan erlauben, davon zu trinken.“

Drek’Thar blinzelte erschreckt. „Aber... Durotan, es ist offensichtlich, dass dieser Trank große Kraft und Energie bringt. Du wärst ein Narr, nicht davon zu trinken.“

Durotan schüttelte erneut den Kopf und erinnerte sich an den Inhalt der Botschaft. Zuerst war er skeptisch gewesen, aber inzwischen war er sicher. „Ich wäre ein Narr, würde ich es tun“, sagte er ruhig. Als Drek’Thar protestieren wollte, ließ er seinen früheren Schamanen mit einem Blick verstummen.

Durotan erinnerte sich an die Worte des Draenei-Propheten Velen. „Wir entschieden uns gegen die Sklaverei und wurden dafür verbannt“. Durotan wusste, wenn die Orcs erst aus dem Kelch getrunken hatten, gehörte ihnen ihr Wille nicht mehr. Gul’dan tat das, was die Anführer der Eredar auf ihrer Heimatwelt getan hatten – er verkaufte sein Volk in die Sklaverei. Die Geschichte wiederholte sich. Vielleicht würden er und sein Clan so wie die Draenei bald die „Verbannten“ genannt werden.

Doch was er tat, war richtig. Er erkannte, dass mittlerweile alle Häuptlinge außer ihm getrunken hatten, und der Moment, den er gefürchtet hatte, gekommen war.

Gul’dan winkte ihn nach vorn. „Mächtiger Durotan, Held von Telmor!“ Durotan zwang sich dazu, sich nichts anmerken zu lassen. „Komm zu den anderen Häuptlingen. Trink deinen Teil aus dem Kelch.“

„Nein, Gul’dan, das tue ich nicht!“

Im Licht der Fackeln konnte Durotan sehen, dass ein Muskel nahe Gul’dans rechtem Auge zuckte. „Du verweigerst dich? Glaubst du, du bist besser als die anderen? Glaubst du, du brauchtest den Segen nicht?“

Die anderen Häuptlinge schauten ihn finster an, mit schnaufendem Atem, als würden sie laufen.

Durotan schüttelte den Kopf. „Es ist meine Entscheidung.“

„Vielleicht denken andere aus deinem Clan anders“, entgegnete Gul’dan und breitete die Arme aus. „Wirst du sie trinken lassen?“

„Nein. Ich bin der Häuptling des Frostwolf-Clans. Und dies ist meine Entscheidung!“

Gul’dan schritt herab von der Obsidianplatte und trat auf Durotan zu. Er beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: „Was weißt du? Und wie hast du es erfahren?“

Zweifellos wollte er ihn einschüchtern, aber stattdessen wurde Durotan von neuer Hoffnung erfüllt. Gul’dan fühlte sich bedroht. Aber anstatt einen Mörder zu schicken, der Durotan in der Nacht meuchelte, wollte er ihn auf diese Weise bezwingen. Doch seine Worte hatten gerade die Wahrheit der Botschaft bestätigt, und er hatte zudem zugegeben, dass er nicht wusste, von wem diese Nachricht stammte. Durotan erkannte, dass er überleben und seinen Clan dennoch beschützen konnte.

Er entgegnete ebenso leise: „Ich weiß genug. Und du wirst nie erfahren, wie ich es erfahren habe.“

Gul’dan trat zurück und lächelte. „Es ist tatsächlich deine Entscheidung, Durotan, Sohn des Garad. Aber wenn du dich solch einer Segnung verweigerst, musst du mit den Konsequenzen leben.“

Die Worte waren doppeldeutig, aber Durotan kümmerte es nicht.

Gul’dan ging zu seinem Platz zurück und schrie der Menge zu: „Alle, die die Segnung des mächtigen Kil’jaeden, unseres Wohltäters, erhalten wollten, haben sie erhalten. Denkt an diesen Ort als heiligen Boden, weil hier die Orcs zu etwas Größerem wurden. Denkt von diesem mächtigen Berg als Kil’jaedens Thron, von wo aus er uns beobachtet und uns bei unserem Tun segnet, damit wir mehr erreichen, als es uns sonst möglich wäre.“

Er trat zurück und nickte Schwarzfaust zu. Dessen Augen glühten rot. Er hob die Arme und schrie: „Heute schreiben wir Geschichte. Heute greifen wir die letzte Festung unserer Feinde an. Wir werden ihnen die Glieder abreißen. Wir werden in ihrem Blut baden. Wir werden durch die Straßen ihrer Hauptstadt stürmen wie ihr schlimmster Albtraum. Blut und Donner! Sieg der Horde!“

Durotan schauderte. An diesem Abend noch? Es war keine Strategie besprochen worden, und das Ziel ihres Angriffs war mehr als eine kleine Siedlung oder ein Dorf. Das war die Hauptstadt der Draenei. Das war ihre letzte Zuflucht, und Durotan war sicher, dass sie härter kämpfen würden als je zuvor, wie in die Enge getriebene Tiere. Er erinnerte sich an die großen Kriegsmaschinen, die gebaut worden waren. Schwarzfaust hatte sie vorgeschickt, wohin, wusste weder Durotan noch sonst ein Orc.

Wahnsinn. Das alles war Wahnsinn.

Und als die Masse, die ihn umgab, schreiend zujubeln begann und er ihre Augen sah, die wirkten wie zwei Nadelköpfe aus rotem Licht, erkannte er, dass dieses Wort besser passte, als ihm lieb war. Diejenigen, die von dem verderbten Trunk genommen hatten, waren tatsächlich dem Wahnsinn anheimgefallen!

Grom Hellschrei tanzte nah am Feuer, wedelte mit den neuen, muskulösen Armen und warf den Kopf in den Nacken. Der Feuerschein tanzte auf der einst braunen Haut, die nun grün war. Durotan, krank und verwirrt vor Schreck, schaute in die glühenden roten Augen, die denen der versklavten Kreaturen so ähnlich waren, die die Hexenmeister kontrollierten. Die grüne Haut war vom selben Farbton, wie er bereits die Haut der Hexenmeister befleckte und inzwischen auch die von Durotan und seiner Gefährtin.

Er dachte an den Inhalt der Botschaft, geschrieben in der archaischen Sprache, die einige wenige der gut ausgebildeten Schamanen und Clanführer kannten:

Du wirst aufgefordert zu trinken. Lehne ab. Es ist das Blut verderbter Seelen, und es wird dich verderben und all die, die davon trinken. Es wird dich für immer versklaven. Bei der Liebe all dessen, was uns früher teuer war – lehne ab!

Die alte Sprache hatte ein einziges Wort für „verderbte Seelen“.

Das waren die Wesen, die durch den Willen der Hexenmeister kontrolliert wurden. Die Flüssigkeit, die jene getrunken hatten, die Durotan einst Freund und Feind nannte, war das Blut von so einer Kreatur gewesen. Nun beobachtete Durotan, wie die verderbten Seelen, zu denen auch die Orcs geworden waren, wie wahnsinnig im Schein des Feuers tanzten, bevor sie den Berg hinabstürmen würden, erfüllt von unnatürlicher Wut und Energie, um die am besten befestigte Stadt anzugreifen, die diese Welt je gesehen hatte.

Verderbte Seelen.

Dae’mons.

Dämonen.

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