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Letzte Nacht, als der Mond voll am Himmel stand und die Sterne leuchteten, wurde ein junger Mann initiiert, in die Erwachsenenwelt aufgenommen. Es war das erste Mal, dass ich bei diesem Ritual dabei war, dem Om’riggor. In meinen früheren Jahren war ich von den Riten und Gebräuchen meines Volkes abgeschnitten. Um die Wahrheit zu sagen: Alle Orcs waren davon für lange Zeit abgeschnitten. Und als ich meinen Fuß auf den Pfad meiner Bestimmung setzte, war ich in Kämpfe verwickelt. Der Krieg vereinnahmte mich völlig. Ironischerweise entfernte mich die Notwendigkeit, mein Volk vor der Brennenden Legion zu retten und ihnen einen Ort zu geben, wo unsere Traditionen wieder blühen konnten, von genau diesen Dingen.

Aber jetzt sind Durotar und Orgrimmar gegründet. Jetzt herrscht Friede, so brüchig er auch sein mag. Jetzt wandeln die Schamanen wieder auf den alten Pfaden. Die jungen Männer und Frauen werden, so die Ahnen es wollen, niemals die Schreckendes Krieges kennenlernen.

Letzte Nacht nahm ich an einem zeitlosen Ritual teil, das einer ganzen Generation verwehrt war.

Letzte Nacht war mein Herz voll Freude und erfüllt vom Sinn für die Gemeinschaft, nach der ich immer gestrebt habe.


Durotans Herz hämmerte in seiner Brust, während er den Talbuk anstarrte. Es war ein riesiges Biest, eine würdige Beute. Seine Hörner dienten nicht zur Zier, sondern waren scharf und gefährlich. Durotan hatte mindestens einen Krieger verbluten sehen, aufgespießt von den zwölf Zinken, als wäre er von mehreren Speeren getroffen worden.

Er musste das Tier erlegen, allein mit einer einzigen Waffe und ohne Rüstung.

Es gab natürlich Gerüchte: Jeder durchschnittliche Talbuk reicht, um die Forderungen des Rituals zu erfüllen. Das hatte er jemanden sagen hören, als er mit verbundenen Augen im Wartezelt gesessen hatte. Sie sind alle wilde Kämpfer, aber zu dieser Jahreszeit haben alle Männchen ihre Geweihe abgeworfen.

Auch anderes Geflüster hatte er gehört: Du darfst nur eine Waffe mitnehmen, Durotan, Sohn von Garad, aber du könntest eine Rüstung in der Wildnis verstecken, niemand würde es merken.

Und der schandhafteste Rat: Der Schamane wird deinen Erfolg testen, indem er das Blut auf deinem Gesicht probiert. Das Blut von einem lang toten Talbuk schmeckt genauso wie das eines frisch erlegten.

Er widerstand all den Versuchungen. Vielleicht gab es andere Orcs, die ihnen nachgegeben hatten. Aber er würde nicht dazu gehören. Durotan würde ein Weibchen suchen, die zu dieser Jahreszeit prächtig mit Hörnern bestückt waren. Er würde die eine Waffe mitnehmen, die ihm gestattet war, und das Blut, mit dem er sich das Gesicht einschmieren würde, würde das Blut des Tieres sein, das er erlegt hatte.

Mittlerweile stand er im unerwartet frühen Schneefall, und die Axt in seiner Hand wurde immer schwerer. Durotan fror, aber er zögerte nicht.

Er war der Talbuk-Herde schon seit zwei Tagen gefolgt, und er hatte sich nur von dem ernährt, was er fand, machte kleine Feuer in der Dämmerung, die den Schnee in ein lanvendelfarbenes Licht tauchte, und schlief, wo immer es sich gerade anbot. Orgrim hatte seinen Ritus bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Durotan beneidete seinen Freund darum, dass er im Sommer geboren war. Er hatte gedacht, dass es in diesem Herbst auch noch nicht zu schwer werden würde, aber der Winter war dieses Mal vor der Zeit gekommen, und es war bitterkalt.

Es schien, als ob ihn die Herde verspotten wollte. Er fand ihre Spuren und Hinterlassenschaften sehr leicht, er konnte sehen, wo sie nach trockenem Gras im Schnee gegraben oder Borke von den Bäumen gefressen hatten, aber die Tiere entkamen ihm jedes Mal. Es war am späten Nachmittag des dritten Tages, als die Ahnen wohl beschlossen haben, ihn für seine Hartnäckigkeit zu belohnen. Die Dämmerung kam, und Durotan hatte mit sinkendem Herzen daran gedacht, dass er wieder Schutz suchen musste, um einen fruchtlosen Tag zu beenden. Dann fiel ihm auf, dass die kleinen Kügelchen Kot nicht hart gefroren waren, sondern frisch.

Sie waren in der Nähe.

Er begann zu laufen, der Schnee knirschte zwischen seinen Fellschuhen, und eine neue Wärme durchflutete ihn. Er folgte den Spuren. wie er es gelernt hatte, erklomm eine Anhöhe...

Und sah eine ganze Herde herrlicher Tiere.

Sofort ließ er sich hinter einen großen Felsen fallen und lugte herum, um die Tiere zu beobachten. Sie waren immer noch dunkelbraun, gut zu erkennen gegen den weißen Schnee; das Winterfell trugen sie noch nicht. Es waren mindestens zwei Dutzend, vielleicht mehr, größtenteils Weibchen. Er hatte die Herde gefunden, doch nun hatte er ein anderes Problem. Er wollte nur ein Tier erledigen. Anders als anderes Wild, beschützten Talbuks sich gegenseitig. Wenn er eins attackierte, würde es der Rest der Herde verteidigen.

Schamanen begleiteten die Jäger, um die Tiere abzulenken. Durotan jedoch war allein, und plötzlich fühlte er sich sehr verwundbar.

Er fröstelte und beruhigte sich selbst. Er hatte die Tiere seit drei Tagen gesucht, und er hatte sie endlich gefunden. An diesem Abend würde er eine frische Fleischlende essen oder sein steif gefrorener Orckörper würde im Schnee verenden.

Er beobachtete sie eine Weile, während die Schatten immer länger wurden, aber er wollte nichts überstürzen, um dann einen Fehler zu begehen. Talbuk waren tagaktive Tiere, deshalb gruben sie Löcher für die Nacht in den Schnee. Er hatte gewusst, dass sie so etwas taten, und dennoch beobachtete er mit Bestürzung, wie sie sich eng aneinanderschmiegten. Wie sollte er ein Tier davon abtrennen?

Eine Bewegung fiel ihm auf. Eins der Weibchen, jung und gesund von einem milden Sommer, gab sich einem Festmahl von süßem Gras und Beeren hin. Sie schien in angriffslustiger Stimmung zu sein, stampfte und warf ihren Kopf herum, der gekrönt war von einem herrlichen Satz Hörnern. Sie tanzte förmlich um die anderen herum, schien nicht geneigt, ihnen zu folgen, und wie ein, zwei andere entschied sie sich außerhalb der Herde zu schlafen.

Durotan grinste. Die Ahnen sandten ihm ein Zeichen – die lebhafteste, gesündeste Kuh der ganzen Herde, die es nicht nötig hatte, geistlos den anderen zu folgen, sondern ihren eigenen Weg wählte. Obwohl diese Wahl wohl ihren Tod bedeutete, gab es Durotan die Möglichkeit, Ehre zu gewinnen, sodass man ihn fortan als Erwachsenen behandeln würde.

Durotan wartete. Die Dämmerung kam und ging, und die Sonne versank hinter den Bergen. Mit der Sonne schwand auch die schwache Wärme, und Durotan wartete mit der Geduld des Jägers. Schließlich legten sich auch die letzten Tiere nieder.

Endlich bewegte sich Durotan. Seine Glieder waren steif, und beinahe wäre er gestolpert. Er kroch langsam von seinem Versteck hinter dem Felsen hervor und arbeitete sich den Abhang hinunter. Seine Blicke waren auf das schlummernde Weibchen gerichtet. Ihr Kopf hing auf dem langen Hals, ihr Atem ging gleichmäßig; er konnte kleine weiße Wölkchen vor ihrer Schnauze ausmachen.

Langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend schlich er auf seine Beute zu. Er spürte die Kälte nicht; die Hitze der Erwartung, der kraftvolle Fokus auf den Angriff vertrieb alle unangenehmen Gefühle. Er kam immer näher, und immer noch träumte der Talbuk.

Er hob die Axt. Er schlug zu.

Ihre Augen öffneten sich. Sie versuchte auf die Beine zu kommen, aber der Todesstoß war bereits unterwegs. Durotan wollte den Kriegsschrei brüllen, den er von seinem Vater so oft gehört hatte. Aber er hielt sich zurück. Es würde nichts nützen, den Talbuk zu töten, nur um dann selbst von einem Dutzend der Herde aus Rache getötet zu werden. Er hatte das Axtblatt frisch geschärft, deshalb fuhr es durch den dicken Nacken, als wenn es durch Käse schneiden würde. Blut schoss hervor, die warme, klebrige Flüssigkeit bespritzte Durotan, und er lächelte grimmig. Sich mit dem Blut des ersten selbst getöteten Tiers einzureiben war Teil des Rituals; das hatte bereits die Talbukkuh für ihn getan. Auch ein Zeichen der Ahnen.

Da hörte er die Geräusche der erwachenden Herde. Er wirbelte herum, atmete schwer und brüllte den Kriegsschrei, hob die Axt. Das Blatt aus Metall war mit rotem Blut beschmiert. Er brüllte erneut.

Die Talbuks zögerten. Man hatte ihm erzählt, dass die Tiere eher flohen als angriffen, wenn sie erkannten, dass sie ihrer Schwester nicht mehr helfen konnten. Er hoffte, dass dies den Tatsachen entsprach. Einen oder zwei würde er besiegen können, aber wenn sie sich tatsächlich zum Angriff entschieden, würde er ihren Hufen nicht entkommen.

Langsam begannen sie sich zurückzuziehen, wirbelten dann herum und liefen davon. Er beobachtete, wie sie über die Anhöhe galoppierten, bis sie entschwanden. Ihre Hufabdrücke auf dem makellosen Schnee waren der einzige Beweis, dass sie überhaupt da gewesen waren.

Durotan senkte die Axt und keuchte vor Anstrengung. Er stand wieder auf und brüllte einen Siegesschrei. Sein leerer Magen würde an diesem Abend voll werden, der Geist des Talbuks würde in seinen Träumen erscheinen. Und am Morgen würde er als erwachsener Mann zu seinem Volk zurückkehren, bereit, seinen Platz im Clan einzunehmen.

Bereit, eines Tages sein Anführer zu werden.


„Warum reiten wir nicht?“, fragte Durotan gereizt und schmollte wie ein Kind.

„Weil es gegen die Regeln verstößt“, sagte Mutter Kashur knapp. Verärgert knuffte sie den Jungen. Durotan war jung und fit. Der lange Aufstieg zum heiligen Berg der Ahnen fiel ihm nicht schwer. Sie dagegen wäre sehr gern auf dem Rücken ihres großen Wolfes Dreamwalker geritten. Aber die Tradition schrieb es anders vor. Und solange sie laufen konnte, würde sie laufen. Durotan neigte den Kopf, während sie weitergingen.

Jede Reise erschöpfte sie mehr als die vorhergehende, andererseits aber spürte Mutter Kashur auch eine Erregung, die ihr half, die Qual und die Müdigkeit zurückzudrängen. Sie hatte bereits viele Kinder, Mädchen wie Jungen, auf diesem abschließenden Teil des Ritus begleitet, aber niemals zuvor war sie gebeten worden, eines zu den Ahnen zu bringen. Sie war nicht zu alt, um neugierig zu sein.

Es waren nur ein paar Stunden für die jungen, aber eine gute Tagesreise für ihre älteren Knochen. Der Abend brach an, und sie waren fast am Ziel. Mutter Kashur schaute auf die vertraute Form des Berges und lächelte. Anders als andere Berge, deren Gestalt vom Zufall geprägt war, bildete die Spitze des Oshu’gun ein perfektes Dreieck. Glitzernd wie Kristall fingen seine Facetten die Sonne ein. Nichts in der Umgebung sah vergleichbar aus. Er war vor langer Zeit vom Himmel gefallen, und die Geister waren davon angezogen worden. Das war der Grund, warum die Orcs in seinem heiligen Schatten siedelten. Welche Zankereien und kleine Differenzen sie im Leben auch gehabt hatten, im Berg waren sie vereint. Sie würde bald dorthin gehen, das wusste sie, aber nicht als humpelnde alte Frau. Dies war ihr letzter Besuch, den sie dem Berg in diesem gealterten Körper abstattete. Beim nächsten Mal würde sie den Oshu’gun als Geist aufsuchen, durch die Luft fliegend wie ein Vogel, ihr Herz leicht und rein und neu.

„Stimmt etwas nicht, Mutter?“, fragte Durotan, und Besorgnis zeichnete sich auf seinem jungen Gesicht ab.

Sie blinzelte, als sie aus ihrer Träumerei zurück in die Wirklichkeit kam, und lächelte ihn an.

„Nein, es ist nichts“, versicherte sie ihm aufrichtig.

Die Schatten hatten bereits das Sonnenlicht verjagt, als sie den Fuß der Berge erreichten. Sie würden in der folgenden Nacht hier schlafen und ihren Aufstieg bei Sonnenaufgang beginnen. Durotan schlief als Erster ein, eingewickelt in das Fell des Talbuks, das er vor nicht allzu langer Zeit selbst erlegt hatte. Mutter Kashur wachte liebevoll über ihn, während er den tiefen Schlaf des Gerechten schlief. Sie selbst würde keine Träume haben, ihr Geist musste klar sein, wenn sie für die Visionen am Morgen bereit sein wollte.


Der Aufstieg war lang, ermüdend und härter als die gesamte Wanderung zum Berg. Kashur war für beides dankbar – für ihren harten Stab und für Durotans helfende Hand. Zudem schienen sich ihre Füße an diesem Tag sicherer zu bewegen, und ihre Lungen atmeten besser als sonst, während sie und ihr junger Begleiter den Berg emporstiegen. Es war, als ob die Ahnen ihr Kraft gaben, indem sie ihren Körper um zusätzlicher Energie versorgten.

Sie rasteten am Eingang zur heiligen Höhle, der ein perfektes Oval in der weichen Oberfläche des Berges darstellte. Durotan versuchte tapfer zu wirken, aber tatsächlich war er sehr nervös. Mutter Kashur schenkte ihm nicht mal ein Lächeln. Er sollte nervös sein. Er stand dicht davor, heiligen Boden zu betreten, auf Geheiß von einem seiner längst verstorbenen Ahnen hin. Auch sie ließ das nicht völlig unberührt.

Sie entzündete ein Grasbündel, das einen süßen, stechenden Geruch von sich gab, und wedelte den Rauch über ihn, um ihn zu reinigen. Dann markierte sie ihn mit dem Blut, das sein Vater extra für diesen Moment hergegeben hatte. Sie hatte es in einem kleinen, sorgsam verschlossenen Lederbeutel aufbewahrt. Dann legte sie ihm die verwitterte Hand auf die Stirn, murmelte ihren Segen und nickte dann.

„Du weißt genau, dass nur wenige, die nicht auf dem Pfad des Schamanen wandeln, vor die Ahnen gerufen werden“, sagte sie feierlich, und Durotan nickte, mit großen braunen Augen. „Ich weiß nicht, was passieren wird. Vielleicht gar nichts. Aber wenn etwas passiert, musst du wissen, dass du dich den Toten gegenüber mit Ehre und Respekt zu verhalten hast.“

Durotan schluckte und nickte erneut. Dann machte er einen tiefen Atemzug und richtete sich auf. In dem noch unfertigen Körper des Jungen erkannte Kashur bereits Hinweise auf den Häuptling, der er einst werden würde.

Sie gingen zusammen hinein. Mutter Kashur schritt voraus, um die Fackeln anzuzünden, die an den Wänden angebracht waren. Das orange Licht zeigte ihnen den nach unten führenden, sich windenden Pfad, der über die Jahre von Orcfüßen ausgetreten war. Hier und dort waren Stufen in den Fels geschlagen, um den Weg sicherer zu machen. Es war immer kühl in dem Tunnel, aber wärmer als draußen, wo der Winter herrschte. Kashur ließ ihre Hände über die Wand streichen, und sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie vor langer Zeit an diesem Ort gewesen war, das Blut ihrer Mutter feucht auf ihrer Stirn, ihre Augen weit, ihr Herz rasend.

Schließlich endete der Pfad. Es gab keine Fackeln mehr an der Wand, und Durotan sah sie verwirrt an.

„Wir brauchen kein Feuer, um vor die Ahnen zu treten“, sagte Kashur. Sie ging weiter und bewegte sich durch die Dunkelheit. Durotan war nicht ängstlich, aber er war schon verwirrt, als sie den Fackelschein hinter sich zurückließen.

Dann war es vollständig dunkel. Kashur griff nach seiner Hand, um ihn zu führen. Seine starken Finger schlangen sich sanft um ihre. Selbst in dieser Situation gibt er acht, sie nicht zu stark zu drücken, wenn er meine Hand berührt, ging es ihr durch den Kopf. Der nächste Frostwolf-Häuptling würde ein mitfühlendes Herz haben.

Sie gingen weiter ohne zu sprechen. Und dann, fast unbemerkt wie die Ankunft des Sonnenaufgangs nach einer langen, dunklen Nacht, entstand langsam Licht um sie herum, in dem Kashur schwach die Umrisse des Jungen neben ihr sehen konnte. Er war so viel jünger als sie und hatte trotzdem schon fast den Körper eines Erwachsenen. Sie beobachtete ihn, als er voranging. Das Wunder der Höhle der Ahnen war ihr vertraut, aber sie war neugierig auf Durotans Reaktion darauf.

Seine Augen weiteten sich, und er sog laut die Luft ein, während er sich umschaute. Das Glühen kam aus einem Becken im Zentrum der Höhle und hüllte alles in weiches weißes Licht. Alles schien sanft zu leuchten, es gab keine scharfen Kanten oder raue Stellen, und Kashur spürte, wie sie das vertraute Gefühl von tiefem Frieden überkam.

Sie ließ Durotan sich still umsehen. Die Höhle war groß, größer als der Tanzbereich beim Kosh’arg-Fest mit der Haupttrommel. Abzweigende Tunnel führten zu Bereichen, die Kashur niemals zu erforschen gewagt hatte. Es musste einfach so groß sein, um die Geister jedes Orcs, der je gelebt hatte, aufnehmen zu können.

Sie ging zum Wasser. Durotan folgte ihr und beobachtete sie genau. Sie schnürte den Packen auf, den sie bei sich getragen hatte, und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun. Sorgfältig öffnete Kashur mehrere Wasserschläuche. Mit einem Gebet goss sie das Wasser in die leuchtende Flüssigkeit.

„Du hast mich nach den Wasserschläuchen gefragt, als wir losgegangen sind“, sagte sie mit ruhiger Stimme zu Durotan. „Das Wasser hier drin entstammt nicht diesem Ort. Vor langer Zeit haben wir begonnen, den Geistern gesegnetes Wasser mitzubringen. Jedes Mal, wenn wir kommen, füllen wir das heilige Becken etwas auf. Doch das Wasser verdunstet nicht, wie es in einer normalen Höhle der Fall wäre. Dies ist die Macht des Berges der Geister.“

Nachdem sie die Wasserschläuche geleert hatte, setzte sie sich mit einem leisen Grunzen hin und starrte in die glühende Tiefe. Durotan machte es ihr nach. Sie wusste, wie sie sitzen musste, um ihr Spiegelbild sehen zu können, und stellte sicher, dass sie beide entsprechend ihren Platz einnahmen. Am Anfang konnte Kashur nur ihr eigenes Gesicht erkennen und das von Durotan. Die Gesichtszüge wirkten geisterhaft, reflektiert in einem weißen Becken statt in einem dunklen.

Dann gesellte sich eine dritte Gestalt hinzu, als wenn sich Großvater Tal’kraa direkt neben ihr befinden würde, sein Spiegelbild so deutlich wie ihres. Ihre Blicke trafen sich, und Kashur lächelte.

Sie wandte den Kopf und bog den Nacken, um zu ihm aufzusehen, während Durotan weiterhin auf das Wasser starrte, als läge dort die Antwort auf all seine Fragen. Kashurs Herz sank ein wenig, aber sofort maßregelte sie sich selbst. Wenn Durotan Tal’kraa nicht sah und nichts von einem Schamanen in ihm schlummerte, dann war es eben so. Sicherlich würde er dennoch ein guter Anführer seines Stammes werden.

„Ich grüße dich, Enkelin“, sagte Tal’kraa, und er sagte es freundlicher als jemals zuvor. „Du hast ihn hergebracht, wie ich es wünschte.“

Während der Großvater schwer auf einen Stab gestützt stand, der so substanzlos war wie er selbst, bewegte sich sein Geist in einem langsamen Kreis um Durotan, während der junge Orc immer noch auf das Wasser starrte. Kashur betrachtete die beiden Frostwolfmänner genau. Durotan fröstelte und schaute sich um; zweifelsfrei wunderte er sich, woher das Frösteln kam. Kashur lächelte innerlich. Er konnte den Geist des Ahnen nicht sehen, aber er spürte Tal’kraas Anwesenheit irgendwie.

„Du kannst ihn nicht sehen“, sagte sie traurig.

Durotan hob den Kopf, und seine Nasenlöcher zitterten. Geschmeidig stand er auf. In dem unheimlichen Licht sahen seine Hauer blau aus, und seine Haut wirkte grünlich. „Nein, Mutter. Das kann ich nicht. Aber... ist ein Ahne anwesend?“

„Ja, ist er“, sagte Kashur. Sie wandte sich an den Geist. „Ich habe ihn zu dir gebracht, wie du wolltest. Was hältst du von ihm?“

Durotan schluckte schwer, blieb aber hoch aufgerichtet stehen, als der Geist ihn gedankenvoll umlief.

„Ich spürte... etwas“, sagte Tal’kraa. „Ich hatte gedacht, er könne ein Schamane werden, aber wenn er mich nicht sehen kann, wird dies niemals der Fall sein. Doch obwohl er keine Geister sehen kann oder die Elemente beschwören, ist er für eine große Bestimmung geboren. Er wird ein bedeutender Gewinn für den Frostwolf-Clan sein, sogar für sein ganzes Volk.“

„Wird er ein... ein Held sein?“, fragte Kashur und schnappte nach Luft. Alle Orcs lebten nach ihrem Kodex von Tapferkeit und Ehre, aber nur wenige waren mächtig genug, dass sich ihr Name ins Gedächtnis der Nachfahren eingrub. Als er ihre Worte vernahm, atmete Durotan heftiger, und sie konnte den Wunsch auf seinem Gesicht erkennen.

„Das kann ich nicht sagen“, antwortete Tal’kraa. „Erziehe ihn gut, Kashur, denn eins ist sicher: Von seiner Familie wird die Erlösung kommen.“

In einer Geste der Zärtlichkeit, die Kashur nie bei ihm erlebt hatte, fuhr Tal’kraa mit seinen nichtstofflichen Fingern über Durotans Gesicht. Durotans Augen weiteten sich, und Kashur konnte sehen, dass er gegen den natürlichen Instinkt zurückzuzucken kämpfte. Aber Durotan behielt sich unter Kontrolle und wich nicht unter der Liebkosung des Geistes zurück.

Dann, wie der Nebel an einem heißen Tag, war Tal’kraa verschwunden. Kashur war ein wenig irritiert; stets vergaß sie, wie sich die Energien der Geister näherten und wieder entschwanden.

„Mutter, bist du in Ordnung?“ fragte Durotan.

Sie nickte. Seine größte Sorge galt ihr, nicht dem, was sein Ahne vielleicht gesagt haben mochte. Sie entschied sich, Durotan nichts davon zu erzählen. Zwar war er besonnen und großherzig, aber eine solche Prophezeiung konnte selbst das treueste orcische Herz korrumpieren.

Von seiner Familie wird die Erlösung kommen.

„Mir geht es gut“, versicherte sie ihm. „Aber ich bin nicht mehr jung, und die Energie der Geister ist stark.“

„Ich wünschte, ich hätte ihn sehen können“, sagte Durotan ein wenig wehmütig. „Aber... aber ich weiß, dass ich ihn gefühlt habe.“

„Das hast du, und das ist mehr, als wozu die meisten fähig sind“, sagte Kashur.

„Mutter... verrätst du mir, was er gesagt hat? Ob ich... ob ich ein Held werde oder nicht?“

Er versuchte ruhig zu bleiben und reif zu wirken. Aber ein wenig Verlangen schwang schon in seinen Worten mit. Sie zürnte ihm deswegen nicht. Jeder wollte in glorreicher Erinnerung weiterleben, wollte, dass Sagen seine Geschichte erzählten. Er wäre kein Orc gewesen, wenn er nicht dieses Verlangen geteilt hätte.

„Großvater Tal’kraa sagte, dass er unsicher ist“, sagte sie schroff. Er nickte und verbarg seine Enttäuschung. Eigentlich wollte sie mehr nicht sagen, aber etwas trieb sie dazu, hinzuzufügen: „Du hast eine Bestimmung zu erfüllen, Durotan, Sohn des Garad. Also verhalte dich im Kampf nicht wie ein Narr, damit du nicht stirbst, bevor du diese Bestimmung erfüllen kannst.“

Er lachte. „Ein Narr dient seinem Clan nicht gut, und das Gegenteil will ich tun.“

„Dann, zukünftiger Häuptling“, sagte Kashur amüsiert, „ist das Beste, was du tun kannst, eine Gefährtin zu finden.“

Und sie lachte zum ersten Mal laut während ihrer gemeinsamen Reise. Durotan wirkte völlig erschüttert darüber.

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