Mein Name ist Thrall.
Das Wort bedeutet in der menschlichen Sprache „Sklave“, und die Geschichte hinter dem Namen ist lang und soll ein anderes Mal erzählt werden. Durch die Gnade der Geister und das Blut der Helden, das durch meine Venen strömt, wurde ich Kriegshäuptling meines Volkes, den Orcs, und der Anführer einer Gruppe von Völkern, bekannt als die Horde. Wie es dazu kam, das ist ebenfalls eine andere Geschichte. Die Geschichte, die ich erzählen möchte, bevor die, die sie miterlebt haben, zu den ehrenwerten Ahnen entschwinden, ist die Geschichte meines Vaters Und derer, die an ihn geglaubt haben, und derjenigen, die ihn und unser ganzes Volk verraten haben.
Was aus uns geworden wäre, hätten diese Ereignisse nicht stattgefunden, kann nicht einmal der weise Schamane Drek’Thar sagen. Die Wege des Schicksals sind oft merkwürdig, und kein gesundes Wesen sollte es je wagen, den vermeintlich angenehmeren Weg des „wenn nur“ einzuschlagen. Was passiert ist, ist passiert; mein Volk muss sowohl die Schmach als auch den Ruhm seiner Taten schultern.
Diese Geschichte handelt nicht von der Horde, wie wir sie heutzutage kennen, ein lockerer Verbund von Orcs, Tauren, Verlassenen, Trollen und Blutelfen, sondern vom Aufstieg der allerersten Horde. Ihre Geburt wurde wie bei jedem Kind durch Blut und Schmerz geprägt, und ihr rauer Ruf nach Leben bedeutete den Tod für ihre Feinde...
Für solch eine finstere und blutrünstige Geschichte beginnt sie sehr friedlich, mitten in den geschwungenen Hügeln und Tälern eines grünen Landes mit dem Namen Draenor...
Der Herzschlagrhythmus der Trommeln wiegte die jüngeren Orcs in den Schlaf, aber Durotan vom Frostwolf-Clan war hellwach. Er lag mit den anderen auf dem harten Waldboden im Schlafzelt, doch die großzügige Polsterung aus Stroh und einem dicken Spalthufpelz schützten ihn vor der Kälte der gefrorenen Erde. Trotzdem spürte er die Schwingungen der Trommeln durch den Boden. Seine Ohren wurden von ihrem Klang umschmeichelt. Wie gern wäre er dabei!
Durotan musste noch einen Sommer warten, bevor er am Om’riggor teilnehmen durfte, dem Ritus der Volljährigkeit. Bis zu diesem herbeigesehnten Fest musste er damit leben, mit den Kindern in das große Zelt abgeschoben zu werden, während die Erwachsenen um das Feuer saßen und über die Dinge sprachen, die zweifelsfrei geheimnisvoll und wichtig waren.
Er seufzte und wälzte sich auf dem Pelz. Es war nicht fair.
Die Orcs bekämpften sich nicht untereinander. Andererseits waren sie aber auch nicht sonderlich sozial eingestellt. Jeder Clan blieb unter sich, mit seinen Traditionen, Bräuchen, Eigenarten der Kleidung, Geschichten und Schamanen. Es gab sogar verschiedene Dialekte, die sich derart unterschieden, dass sich einige Orcs nicht miteinander unterhalten konnten, wenn sie sich nicht der Gemeinsamen Sprache bedienten. Sie wirkten fast so unterschiedlich wie die andere vernunftbegabte Rasse, die mit ihnen die Früchte von Wald, Feld und Flüssen teilte: die geheimnisvollen blauhäutigen Draenei. Nur zweimal im Jahr, im Frühjahr und Herbst, kamen die Clans zusammen, so wie sie es gerade taten, um die Zeit der Tag- und Nachtgleiche zu feiern.
Das Fest hatte am letzten Abend bei Mondaufgang begonnen. Allerdings hielten sich die Orcs bereits seit einigen Tagen an diesem Ort auf. Das Kosh’harg-Fest wurde seit Ewigkeiten auf dem heiligen Boden im Land, das die Orcs Nagrand nannten – „Land der Winde“ gefeiert, das im schützenden Schatten des „Geisterbergs“, des Oshu’gun lag. Obwohl rituelle Kämpfe nicht unüblich waren während des Festes, hatte es sonst nie Ärger öder Gewalttätigkeiten gegeben. Wenn sich die Gemüter erhitzten, wie es manchmal geschah, hielten die Schamanen die beteiligten Parteien dazu an, ihre Konflikte friedlich zu lösen, oder sie hatten den heiligen Bereich zu verlassen.
Das Land der Gegend war saftig, fruchtbar und wirkte auf die Orcs beruhigend. Durotan fragte sich manchmal, ob das so war, weil die Orcs hier Frieden hielten, oder ob die Orcs friedlich waren, weil das Land sie dazu brachte. Er fragte sich oft solche Dinge und behielt sie stets für sich, weil nie jemand anderes solche Ideen äußerte.
Durotan seufzte still, seine Gedanken rasten, sein Herz schlug im antwortenden Rhythmus zu den Trommeln draußen. Die letzte Nacht war wundervoll gewesen, hatte Durotans Seele aufgewühlt. Als die Bleiche Dame in ihrer abnehmenden Phase hinter den Bäumen erschien, dabei immer noch hell genug, dass ihr mächtiges Licht auf dem weißen Schnee reflektiert wurde, erhob sich ein Gesang, in den jeder der tausend Orcs, die sich hier aufhielten, einstimmte: Großeltern, Krieger auf dem Höhepunkt ihrer Kraft, selbst Kinder, die auf dem starken Arm ihrer Mutter lagen. Die Wölfe, die sowohl Gefährten als auch Reittiere waren, beteiligten sich mit freudigem Geheul daran. Der Klang war durch Durotans Adern pulsiert, wie es das Trommeln an diesem Abend tat. Ein tiefer ursprünglicher Ruf des Grußes an das weiße Rund, das den Nachthimmel beherrschte. Durotan hatte sich umgeschaut und ein Meer machtvoller Wesen entdeckt, die ihre braunen Hände dem silbrigen Lichtglanz der Bleichen Dame entgegenstreckten. Wenn ein Oger dumm genug gewesen wäre anzugreifen, er wäre in wenigen Herzschlägen unter den Waffen der im Geiste vereinten Krieger gefallen.
Dann hatte das Fest begonnen. Dutzende Tiere waren vorher geschlachtet worden, bevor der Winter gekommen war. Man hatte sie getrocknet und in Vorbereitung auf das Fest geräuchert. Freudenfeuer wurden entfacht, deren warmes Licht sich mit dem entrückten weißen Glühen der Dame mischte. Dann hatte das Trommeln begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört.
Auch Durotan durfte aufbleiben, bis alle gegessen hatten, wie alle anderen Kinder auch. Auf seinem Fell liegend schnaubte er herablassend über diesen Begriff. Dann waren die Schamanen losgezogen. Sobald die Eröffnungsfeier vorbei war, begab sich der Schamane jedes Clans auf den Oshu’gun, der über das Fest wachte. Dort betrat er die Höhlen, geleitet von den Geistern und den Ahnen.
Der Oshu’gun war selbst aus der Entfernung beeindruckend. Anders als andere Berge, die unregelmäßig und rau in ihrer Gestalt waren, erhob sich der Oshu’gun glatt und wohlgeformt wie eine Speerspitze. Er sah aus wie ein riesiger Kristall, der in die Erde gerammt worden war, so klar waren seine Linien und so hell glitzerte er im Sonnen- und Mondlicht. Einige Legenden erzählten, dass er vor hunderten von Jahren vom Himmel gefallen wäre. So etwas war so ungewöhnlich, überlegte Durotan, dass die Geschichten vielleicht stimmen konnten.
Obwohl der Oshu’gun sicherlich interessant war, hatte Durotan es immer für ein wenig ungerecht gehalten, dass die Schamanen dort die ganze Zeit des Kosh’harg-Festes verbringen mussten. So verpassten sie doch den ganzen Spaß. Aber das, so dachte er wiederum, galt ebenfalls für die Kinder.
Am Tag fanden die Jagden und Spiele statt, und es wurden Geschichten von den Heldentaten der Ahnen erzählt. Jeder Clan hatte eigene Sagen, und so bekam Durotan neben den Geschichten, die er bereits kannte, neue und aufregende Abenteuer zu hören.
So unterhaltsam das auch war und so sehr Durotan es auch mochte, er brannte doch darauf zu wissen, was die Erwachsenen beredeten, wenn die Kinder in ihrem Zelt schlummerten. Wenn sie ihre Körper streckten, voll gutem Essen und nachdem sie eine Pfeife geraucht und mehrere Bier getrunken hatten.
Er konnte es nicht länger aushalten. Leise stand Durotan auf, seine Ohren achteten auf jeden Laut, der anzeigte, ob noch jemand wach war. Er hörte nichts, und nach einer langen Minute bewegte er sich vorsichtig in Richtung Ausgang.
Es war ein langer Weg, und er kam in dem dunklen Zelt nur langsam voran. Schlafende Kinder aller Altersgruppen und Größen waren im ganzen Zelt verteilt. Sein Herz raste. Durotan stieg achtsam zwischen die kaum sichtbaren Körper und bewegte seine großen Füße mit der Eleganz des langbeinigen Sumpfvogels.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Durotan schließlich den Ausgang erreichte. Er blieb stehen, versuchte seinen Atem zu beruhigen, streckte seine Arme aus und...
Er berührte einen großen, weichen Körper, der direkt neben ihm stand. Er riss seine Hand mit einem überraschten Zischen zurück.
„Was machst du hier?“, flüstere Durotan.
„Was machst du hier?“, fragte der andere Orc zurück.
Auf einmal musste Durotan grinsen, weil sie sich so dumm benahmen.
„Dasselbe wie du auch“, antwortete er, seine Stimme immer noch dämpfend. Die anderen waren offenbar noch nicht aufgewacht. „Wir können hier bleiben und weiter darüber reden oder es einfach tun.“
Durotan konnte anhand des Körpers, der vor ihm stand, erkennen, dass der Orc groß und männlich war, vielleicht in seinem Alter. Weder Geruch noch Stimme ließen sich einordnen, also war es niemand vom Frostwolf-Clan. Es war ein gewagter Gedanke. Nicht nur, dass er etwas so Verbotenes tat, wie das Schlafzelt ohne Erlaubnis zu verlassen, sondern das auch noch in Begleitung eines Orcs, der nicht von seinem Clan war.
Der andere Orc zögerte; ohne Zweifel gingen ihm dieselben Gedanken durch den Kopf. „Gut“, sagte er schließlich. „Machen wir’s.“
Durotan streckte die Hände wieder aus, und er schob den Zeltvorhang beiseite. Dann kletterten die beiden jungen Orcs hinaus in die frostige Nacht.
Durotan drehte sich um, um seinen Begleiter anzusehen. Der andere Orc war muskulöser und ein wenig größer als er. Durotan war der Größte seines Alters in seinem Clan und nicht gewohnt, dass ihn andere überragten. Es war ein wenig beunruhigend. Als sein Gegenüber auch ihn anschaute, fühlte sich Durotan gemustert. Der andere nickte, offensichtlich zufrieden mit dem, was er sah.
Sie wagten nicht zu sprechen. Durotan zeigte auf einen nahe stehenden großen Baum, und leise liefen beide hinüber. Einen Moment, der sich für die beiden viel länger hinzog, waren beide ohne Deckung. Jeder Erwachsene, der seinen Kopf gedreht hätte, hätte sie gesehen. Aber es geschah nichts. Durotan war dennoch überzeugt davon, dass er so deutlich zu sehen war, als wäre helllichter Tag, so hell war das Mondlicht, das auf die weiße Fläche schien. Und sicher war das Knarzen des Schnees unter ihren Füßen so laut wie das Gebrüll eines wütenden Ogers.
Trotzdem erreichten sie schließlich den Baum und sanken dahinter zu Boden. Durotan stieß eine kleine Wolke aus, als er schließlich ausatmete. Der andere Orc drehte sich zu ihm um und grinste.
„Ich bin Orgrim aus der Familie von Telkar Schicksalshammer, vom Schwarzfels-Clan“, flüsterte der Junge stolz.
Durotan war beeindruckt. Obwohl die Schicksalshammer-Familie nicht die des Häuptlings war, war sie bekannt und geachtet.
„Ich bin Durotan, aus der Familie von Garad vom Frostwolf-Clan“, antwortete Durotan. Daraufhin war es an Orgrim, darauf zu reagieren, dass er neben dem Erben eines anderen Clans saß. Und er tat es auch, indem er zufrieden nickte.
Einen Moment lang saßen sie einfach nur da und genossen den Ruhm ihrer Tat. Dann spürte Durotan, wie Kälte und Nässe durch seinen dicken Umhang drangen, und stand auf. Wieder zeigte er auf die Lichtung, und Orgrim nickte erneut. Sie linsten vorsichtig um den Baum und lauschten angespannt. Endlich würden sie von den Geheimnissen hören, die sie so interessierten. Über das Prasseln des Feuers und das tiefe, kontinuierliche Schlagen der Trommeln drangen Stimmen zu ihnen herüber.
„Die Schamanen haben diesen Winter schwer mit dem Fieber zu schaffen“, sagte Garad, Durotans Vater. Er griff nach unten und streichelte einen großen weißen Wolf, der am Feuer schlief. Das Tier, dessen weißer Pelz es als Frostwolf kennzeichnete, machte ein sanftes Geräusch des Wohlbehagens. „Sobald eins der Kinder gesund wird, wird das nächste krank.“
„Ich wünsche mir auch den Frühling herbei“, sagte ein anderer, stand auf und warf Holz aufs Feuer. „Mit den Tieren ist es auch nicht leicht. Als wir uns auf das Fest vorbereitet haben, hatten wir Schwierigkeiten, Spalthufe zu finden.“
„Klaga macht eine leckere Suppe aus den Knochen, aber sie weigert sich, uns zu verraten, welche Kräuter sie hineingibt“, sagte ein dritter und schaute eine Frau an, die ein Baby säugte.
Die Frau, offensichtlich Klaga, lachte. „Die Einzige, die dieses Rezept bekommt, ist die Kleine hier, wenn sie das richtige Alter hat.“
Durotans Mund stand offen. Er drehte den Kopf und schaute Orgrim an, der einen ähnlichen Ausdruck der Bestürzung zeigte.
Das war also so wichtig, so geheim, dass den Kindern verboten wurde, das Zelt zu verlassen, um zuzuhören? Gerede über Fieber und Suppen?
Im hellen Mondlicht konnte Durotan Orgrims Gesicht gut erkennen. Die Augenbrauen des anderen waren zu einem Runzeln zusammengezogen.
„Du und ich können etwas Interessanteres machen als das, Durotan“, sagte er mit ruhiger, rauer Stimme.
Durotan grinste und nickte. Davon war er überzeugt.
Das Fest dauerte zwei weitere Tage. Während der Tage und der Nächte, wenn sich die beiden jungen Orcs gemeinsam davonschlichen, forderten sie sich gegenseitig zu immer neuen Wettbewerben heraus. Laufen, Klettern, Kraft, Gleichgewicht, alles, was ihnen einfiel. Und jeder schlug abwechselnd den anderen, als hätten sie es so geplant.
Als Orgrim am letzten Tag laut den Ausgang des letzten Wettbewerbs verkündete, der in einem Unentschieden geendet hatte, drängte etwas Durotan dazu, das Wort zu ergreifen.
„Lass uns als Nächstes mal keinen normalen Wettbewerb bestreiten“, sagte er und fragte sich gleichzeitig, wie er auf diese Idee kam. „Wir sollten mal etwas tun, das einzigartig in der Geschichte unseres Volkes ist.“
Orgrims helle graue Augen leuchteten, als er sich zu dem anderen Orc vorbeugte. „Was schlägst du vor?“
„Lass uns beide Freunde werden.“
Vor Verblüffung stand Orgrim der Mund offen. „Aber... wir sind nicht vom selben Clan!“, sagte er in einem Tonfall, als hätte Durotan von einer Freundschaft zwischen dem großen schwarzen Wolf und einem Talbuk gesprochen.
Durotan winkte ab. „Wir sind keine Feinde“, sagte er. „Schau dich um. Die Clans treffen sich zweimal im Jahr, und es gibt keinen Streit.“
„Aber... mein Vater sagt, es ist so, weil wir nur so selten zusammenkommen“, entgegnete Orgrim und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
Enttäuschung schwang in Durotans Worten mit, als er antwortete: „Nun gut, ich habe gedacht, du wärst tapferer als die anderen, Orgrim aus der Schicksalshammer-Familie. Aber du bist auch nicht besser. Ängstlich, schüchtern und unwillig, über das hinauszublicken, was schon immer getan wurde, anstatt das zu machen, was möglich ist.
Die Worte kamen direkt aus seinem Herzen, aber hätte Durotan sie einstudiert, hätte er sie nicht überzeugender vorbringen können.
Orgrims braunes Gesicht lief dunkel an, und er riss die Augen weit auf. „Ich bin kein Feigling!“, stieß er wütend hervor. „Ich kneife vor keinem Wettbewerb, du Möchtegern-Frostwolf.“
Dann warf er sich auf Durotan, schlug den kleineren Orc nieder, und sie balgten sich, sodass die Schamanen kommen mussten, um ihre Wunden zu versorgen und den beiden einen Vortrag über unangebrachtes Verhalten auf heiligem Boden zu halten.
„Ungestümer Junge!“, schimpfte der Hauptschamane der Frostwölfe, ein alter weiblicher Orc, den sie Mutter Kashur nannten. „Du bist noch nicht zu alt, um wie ein ungehorsames Kind geschlagen zu werden, Durotan!“
Der Schamane, der Orgrim behandelte, sprach ähnliche Worte. Aber selbst während ihm das Blut aus der Nase lief und er dem Schamanen zusah, wie er eine klaffende Wunde an Orgrims Oberkörper versorgte, grinste Durotan. Und Orgrim fing seinen Blick auf und grinste zurück.
Der Wettbewerb hatte begonnen, der finale Test, so viel wichtiger als Rennen oder Steinewerfen, und keiner war gewillt, seine Niederlage einzugestehen, indem er zugab, dass die Freundschaft zwischen zwei Jungen aus unterschiedlichen Clans falsch war. Durotan hatte den Eindruck, dass dieser spezielle Wettbewerb erst enden würde, wenn einer von beiden tot war und vielleicht nicht einmal dann.