10

Als Drek’Thar mir erzählte, wie sich mein Vater in dieser Situation verhalten hatte, war ich so stolz wie noch nie. Ich weiß sehr gut, wie schwer es ist, die richtigen Entscheidungen zu fallen. Als er seine Entscheidung traf, hatte er viel zu verlieren und nichts zu gewinnen.

Nein, das ist nicht richtig.

Er bewahrte seine Ehre. Nichts ist es wert, sie zu opfern.


Der Brief duldete keinen Aufschub. Durotan überflog ihn und reichte ihn mit einem tiefen Seufzen seiner Gefährtin. Draka las ihn schnell, ihre Blicke spießten die Worte förmlich auf. Ein leises Knurren kam tief aus ihrer Kehle.

„Ner’zhul ist ein Feigling, wenn er das auf dich abwälzen will“, sagte sie leise, damit es der Kurier, der draußen wartete, nicht hörte.

„Ich habe geschworen zu gehorchen“, sagte Durotan mit genauso leiser Stimme. „Ner’zhul spricht für die Ahnen.“

Draka neigte den Kopf gedankenvoll zur Seite. Ein Sonnenstrahl, der durch ein Loch in der Naht des Zeltes drang, erfasste ihr Gesicht und zeichnete ihr starkes Gebiss und die hohen Wangenknochen scharf nach. Durotans Atem stockte, als er seine geliebte Frau ansah. Bei all dem Chaos, wenn nicht Wahnsinn, schien er durch sie zu sich selbst zu finden und zu seinen Leuten, und dafür empfand er ihr gegenüber Dankbarkeit. Sanft berührte er ihr braunes Gesicht mit seinen scharfen Klauen, und sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln.

„Mein Gefährte, ich weiß nicht, ob man Ner’zhul trauen kann“, sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Er nickte. „Aber wir beide trauen Drek’Thar, und er bestätigte Ner’zhuls Worte. Die Draenei haben sich gegen uns verschworen. Ner’zhul sagt sogar, dass sie darauf bestehen, den Oshu’gun zu betreten.“

Wieder betrachtete der Häuptling des Frostwolf-Clans den Brief. „Ich bin froh, dass Ner’zhul mich nicht gebeten hat, Velen zu töten. Vielleicht können wir ihn, wenn wir ihn erst in unserer Gewalt haben, davon überzeugen, seine Pläne zu ändern. Er wird uns sagen können, warum sie unsere Vernichtung planen. Vielleicht können wir einen Frieden aushandeln.“

Der Gedanke wuchs und beschäftigte ihn. So herrlich sein Leben mit Draka war, so stolz er auf seinen Clan war, wie viel glücklicher wäre er gewesen, wenn er einfach das hätte tun können, was sein Vater getan hatte: die Tiere des Waldes jagen, im Mondlicht tanzen, beim Kosh’harg-Fest den alten Sagen zuhören und sich an der Liebe der Ahnen wärmen. Er hätte es Draka niemals gesagt, aber er war im Stillen froh, dass sie noch kein Kind hatten. Diese Zeit war nicht leicht für Kinder. Die Kindheit wurde ihnen gestohlen, Erwachsenenaufgaben hatte man auf ihre Schultern geladen, die noch nicht breit genug waren, sie auch zu tragen. Wenn Draka ein Kind bekommen hätte, Durotan hätte nicht gezögert, seinen Sohn oder seine Tochter genauso wie die anderen Kinder im Kampf zu trainieren. Er verlangte von anderen Eltern nichts, das er nicht selbst auch zu geben bereit wäre. Aber er war froh, dass er diese Entscheidung nicht fällen musste.

Draka betrachtete ihn mit gerunzelten Augenbrauen. Es war, als könnte sie seine Gedanken lesen.

„Du bist Velen schon begegnet“, sagte sie. „Ich habe dich beobachtet. Du hast versucht, deine Erinnerungen an die Begegnung mit Velen in Einklang zu bringen mit der Nachricht, dass die Draenei unsere Vernichtung planen. Es ist dir nicht leicht gefallen.“

„Und das tut es immer noch nicht“, antwortete er. „Vielleicht ist es ja gut, dass mir diese Aufgabe zugeteilt wurde. Velen wird sich an mich erinnern, da bin ich mir sicher. Er wird mit mir reden, wie er es mit Ner’zhul vielleicht nicht tun würde. Ich wünschte, ich hätte den Brief gesehen, den er geschickt hat.“

Draka seufzte und stand auf. „Ich glaube, das wäre sehr aufschlussreich gewesen“, sagte sie.

Durotan tat es ihr gleich. „Ich werde dem Kurier sagen, dass sein Herr in Ruhe schlafen kann. Ich werde mich nicht vor meiner Pflicht drücken.“

Er spürte ihren besorgten Blick, der sich an seinen Rücken heftete, als er ging.


Velen hielt den violetten Kristall ganz nah an seinem Herzen. Der rote und der gelbe lagen neben ihm, während er meditierte. Der violette warf seinen Schimmer auf seine alabasterfarbene Haut. Die vier anderen befanden sich anderswo auf dem Gebiet der Draenei. Ihre große Macht diente seinem Volk, wenn sie gebraucht wurde. Aber den violetten Stein hatte er immer bei sich.

Seine Kraft öffnete seinen Geist, und so war es, als würde er mit dem Naaru von Angesicht zu Angesicht sprechen. Velen fühlte sich jedes Mal stärker, reiner, sein Geist geschärft, wenn er mit dem violetten Kristall meditierte. Obwohl jeder der sieben Kristalle schön und mächtig war, war dieser der Wertvollste.

Er strengte sich an, um K’ures leises Flüstern zu hören, aber er konnte es nicht verstehen. Velens Herz pochte. Er neigte den Kopf.

Er hörte Stimmen und öffnete die Augen. Restalaan sprach mit einem der Akolythen, dann kam er zu Velen.

„Irgendwelche Neuigkeiten, alter Freund?“, fragte dieser und zeigte auf einen Topf mit heißem Kräutertee.

Restalaan winkte ab. „Gutes und Schlechtes, mein Prophet. Ich bedauere es zutiefst, aber ich muss dich darüber informieren, dass der Kurier, den du zum Schamanenanführer Ner’zhul geschickt hast, von einer Gruppe Orcs getötet wurde.“

Velen schloss die Augen. Der violette Kristall wurde für einen Moment wärmer, als wollte er ihn trösten.

„Ich habe seinen Tod gespürt“, sagte Velen schwer. „Aber ich hatte gehofft, dass es nur ein Unfall war. Bist du dir sicher, dass er ermordet wurde?“

„Ner’zhul behauptet es zumindest, und er äußert keinerlei Bedauern darüber.“ In Restalaans Stimme schwang Wut über diesen Vorfall. Er kniete vor Velen, neben seinem Kristall. Velens dunkle blaue Augen richteten sich auf den Kristall, als dieser einmal kurz pulsierte und so auf Restalaans Gefühle reagierte.

„So viel zu deiner Theorie, dass sie einen unbewaffneten Mann nicht angreifen“, fuhr Restalaan bitter fort.

„Ich hatte auf Besseres gehofft“, entgegnete Velen leise. „Aber du hast auch von guten Neuigkeiten gesprochen?“

Restalaan verzog das Gesicht. „Wenn man es so nennen will. Ner’zhul sagt zu, dass sich eine Orc-Abteilung am Fuße des Bergs mit dir treffen will.“

„Er selbst... kommt nicht?“

Restalaan senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Nein, mein Prophet.“

„Wen schickt er denn?“

„Davon steht in dem Brief nichts.“

„Gib ihn mir.“ Velen streckte die weiße Hand aus, und Restalaan übergab ihm das Pergament. Velen entrollte es und überflog den Brief.

Euer Kurier ist tot. Es war ein Glück, dass die, die ihn getötet haben, ihn durchsuchten und die Botschaft fanden. Ich habe sie gelesen. Ich werde eine Abteilung meiner Orcs zum heiligen Berg schicken, die mit dir reden wird. Ich garantiere für nichts, nicht für deine Sicherheit, nicht für einen Waffenstillstand, für nichts! Aber wir werden dich anhören.

Velen seufzte tief. Das war nicht die Antwort, nach der seine Seele verlangt hatte. Was war los mit den Orcs? Warum, in aller Welt und einiger anderer mehr, waren sie plötzlich so versessen darauf, die Draenei zu vernichten, die sie niemals angegriffen hatten?

Ich garantiere für nichts, hatte Ner’zhul geschrieben.

„Nun gut“, sagte Velen leise. „Dann haben wir eben keine Garantien.“ Er lächelte Restalaan an. „So ist das Leben eben.“


Der Tag war unpassend schön und freundlich, und Durotan blinzelte gegen das grelle frühe Sommerlicht. An einem Tag, an dem er sich so düster und traurig fühlte, hatte das Wetter gefälligst dementsprechend zu sein. Zumindest ein paar Wolken wären schön gewesen. Oder noch passender ein kalter Nieselregen. Aber die Sonne kümmerte das schwere Herz eines Orcs nicht oder gar das Schicksal eines ganzen Volkes. Sie schien so fröhlich, als wäre alles in Ordnung, wo immer auch die Strahlen den Boden berührten. Der Oshu’gun schien fast zu brennen, so grell war das Licht, das von seiner facettenreichen kristallinen Oberfläche reflektiert wurde.

Durotan hatte eine Position der Stärke gewählt. Dort, wo seine Krieger standen, würden sie Velens Reisegruppe viel eher sehen als diese die Orcs. Er hatte sich dazu entschlossen zu warten und den Propheten der Draenei zu ihm kommen zu lassen. Trotzdem hatte er an strategischen Punkten Krieger postiert, sodass sie den Draenei jeden Fluchtweg versperren konnten. Und all diese Orcs waren an diesem herrlichen Tag bis an die Zähne bewaffnet, und die Schamanen waren ebenfalls bereit, mit ihren Kräften ins Geschehen einzugreifen, falls dies nötig wurde.

Wegen ihrer scharfen Augen und ihrer erstklassigen Kampfkünste war Draka ein äußerst guter Kundschafter. Er hatte sie der ersten Gruppe zugeteilt. Sobald Velen auftauchte, würde sie mit Hilfe eines von Drek’Thars Sprüchen ihren Gefährten benachrichtigen.

Drek’Thar selbst stand neben Durotan. Als mächtigster Schamane seines Clans musste er den Häuptling beschützen. Die beiden befanden sich auf einem Felsen, der direkt über dem Eingang zum heiligen Berg aufragte. Dutzende Krieger warteten, bewaffnet mit Äxten, Pfeilen und Speeren. Andere hatten Tage damit zugebracht, große Felsen in Position zu bringen. Auf den Befehl von Durotan hin würde eine einfache Bewegung den Tod in Form von großen Steinen, die nach unten krachten, über die Draenei bringen.

Die Bedrohung des Todes lag überall auf diesem schönen Berg an diesem schönen sonnigen Tag.

Eine Brise wehte durch Durotans schwarzes Haar, und ein Vogel sang laut.

Drek’Thar schaute ihn besorgt an. „Mein Häuptling, du tust, was dir aufgetragen wurde“, sagte er ernst. „Diese Wesen sind unsere Feinde.“

Durotan nickte und wünschte, dass so leicht glauben zu können wie offensichtlich jeder andere Orc.

Die Brise strich wieder über seine Wange, doch diesmal eindringlicher, und dieses Mal hörte er Worte im Wind. Es war Drakas Botschaft, überbracht durch Drek’Thars Bund mit den Elementen. Sie kommen. Es sind fünf. Keiner trägt eine Waffe. Sie bewegen sich sorglos.

Der Wind wehte ihre Worte davon, und er wusste, dass er sie an die Ohren der anderen Orcs trug. Wenn es an der Zeit war, würde Drek’Thar den Wind nutzen, um Befehle an Durotans Truppen zu senden. Durotan straffte sich, und sein Herz schlug heftiger. Seine Hand umfasste den Stiel seiner Kampfaxt.

„Da sind sie“, sagte Drek’Thar grimmig. Durotan folgte seinem Blick.

Drakas Bericht war präzise gewesen bis hin zu ihrer Erkenntnis, in welcher Stimmung sich die Draenei befanden. Die fünf Draenei trugen nicht ihre merkwürdigen silbernen und blauen Rüstungen, an die sich Durotan von seinem einzigen Treffen noch erinnerte. Stattdessen hatten sie ähnliche Kleidung an wie damals bei dem Essen mit dem Propheten; Gewänder in schönen Farben, die den Wind einfingen und sanft wehten. Ganz vorn ging Velen, der Prophet persönlich. Er war unverwechselbar; seine einfache braune Robe stand im Kontrast zu den Gewändern seiner Begleiter, und natürlich war da auch noch seine seltsame weiße Haut. Durotan grinste boshaft angesichts der wenig bedrohlichen Situation. Die Draenei waren so leuchtend gekleidet, dass nur ein blinder Orc sie aus großer Distanz hätte verfehlen können.

Das Lächeln verschwand allerdings, als er darüber nachdachte, warum sie diese Gewänder trugen. Sie wollten sofort gesehen werden. Sie wollten, dass die Orcs erkannten, dass sie keine Waffen trugen und auf einer Pilgerreise waren.

Oder war das nur eine ausgeklügelte List? Schamanen brauchten keine Speere, um zu töten, und die Draenei genauso wenig. Durotan erinnerte sich an die magischen Netze, welche sich durch die Haut brannten. Netze aus einer fremden Energie, die aus dem Nichts entstanden.

Nein, selbst unbewaffnet waren die Draenei alles andere als harmlos.

Er hatte seine Krieger gut instruiert und wusste, dass sie gehorchen würden. Sie würden ohne seinen Befehl nicht mal einen Warnschuss abgeben. Aber sie wussten, wie die Draenei kämpften, und waren darauf vorbereitet. Durotan konnte die Spannung, die von diesen Kriegern ausging, förmlich riechen. Er fragte sich, ob die Draenei das auch konnten.

Durotan beobachtete, wie die letzte Gruppe den Draenei den Rückweg versperrte. Sie waren weit genug entfernt, sodass Durotan hoffen konnte, dass die Draenei sie nicht bemerkten. Falls sie es doch taten, ließen sie es zumindest nicht erkennen, sondern setzten den Weg in demselben gleichmäßigen und unbekümmerten Tempo fort.

Durotan und Drek’Thar verstecken sich nicht. Nach ein paar langen Minuten hob Velen den Kopf und schaute Durotan direkt an. Durotan hielt dem Blick stand, wartete aber ab. Die Draenei erreichten den Fuß des Berges. Doch bevor sie weitergehen konnten, verließen Dutzende Orcs ihr Versteck, um sie zu umzingeln.

Velen zeigte sich nicht im Geringsten überrascht. Er schaute sich um, lächelte ein wenig und kam dann auf Durotan zu. Langsam stieg Durotan hinab, bis er dem Propheten der Draenei Auge in Auge gegenüberstand, allerdings noch in einiger Entfernung.

„Es ist lange her, seit wir uns sahen, Velen“, sagte Durotan mit ruhiger Stimme. Er benutzte bewusst nicht den Titel des Draeneis.

„Fürwahr, eine lange Zeit, Durotan, Sohn des Garad, Häuptling des Frostwolf-Clans“, antwortete Velen mit der vollen, sanften Stimme, an die sich Durotan erinnerte. „Bist du immer noch mit Orgrim befreundet?“

„Das bin ich in der Tat“, antwortete Durotan. „Er trägt jetzt den Schicksalshammer und ist der Stellvertreter des Häuptlings.“

Trauer zog über das bleiche Gesicht, eine Trauer, die tief und fraglos echt war. Wieder erinnerte sich Durotan an den Abend vor so langer Zeit, als dieses Wesen bei ihnen gesessen hatte und sie die Lebensweise der Orcs beschrieben, vom Schicksalshammer erzählten und von dem Preis, den Orgrim dafür würde zahlen müssen.

„Ich hoffe, sein Vater und auch deiner sind mit großer Ehre gegangen“, sagte Velen.

„Wir sind nicht hier, um über die Vergangenheit zu reden“, sagte Durotan, und er sagte es heftiger, als er es beabsichtigt hatte. Er erinnerte sich nicht gern an den Abend. „Wir sind hier, weil du es wagen willst, unseren heiligsten Ort zu betreten.“

Velen hielt Durotans Blick stand und nickte. „Ich hatte die Nachricht an Ner’zhul geschickt, nicht an dich, Durotan. Er hat es abgelehnt, sich mit mir zu treffen. Ich frage mich... hat er dir diese Nachricht gezeigt?“

„Es gab keinen Grund für mich, sie zu lesen“, antwortete Durotan. „Ich wurde gebeten, an seiner Stelle zu kommen.“

Durotan sah, wie sich die breiten Schultern etwas senkten. Velen seufzte tief. „Ich verstehe“, sagte er. „Er hat dir vielleicht nicht erzählt, warum ich kommen wollte.“

„Ich muss den Grund nicht kennen, Draenei“, sagte Durotan.

„Doch, das musst du. Ansonsten ist dieses Gespräch umsonst.“ Velens Stimme klang trotz seines hohen Alters klar und deutlich.

Durotan hob eine Augenbraue. Dass Velen ein weiser Mann war, stand außer Frage. Aber zum allerersten Mal erkannte Durotan eine Spur der schieren Stärke, die Velen zahllose Jahre angetrieben hatte.

„Dieser... dieser Berg ist deinem Volk heilig. Das wissen wir, und wir haben es immer respektiert. Aber er ist auch uns heilig.“ Velen trat einen Schritt vor. Sein Blick fixierte Durotan. Die Orc-Krieger um ihn herum bewegten sich, grummelten, taten sonst aber nichts.

„Tief in diesem Berg befindet sich ein Wesen, das sich seit langem um die Draenei kümmert“, fuhr Velen fort. „Es ist älter, als wir uns vorstellen können. Und machtvoller. Aber selbst alte und machtvolle Wesen können sterben, und dieses stirbt gerade. Doch wir alle können Weisheit und Versöhnung von ihm erfahren, dein Volk genauso wie meins. Wir...“

„Blasphemie!“

Durotan schaute sich um. Den verbitterten Schrei hatte keiner seiner hitzköpfigen Krieger ausgestoßen, sondern der Orc, der neben ihm stand. Drek’Thars Augen waren weit aufgerissen, und sein Körper zitterte vor Empörung. Seine Nackenhaare sträubten sich, und er drohte mit der Faust. „Der Oshu’gun gehört uns. Er ist das Heim unserer geliebten Toten, Wiege für ihre Geister, und ihr verderbten Paarhufer habt nicht das Recht, auch nur einen Schritt auf diesen geheiligten Boden zu setzen!“

Velen schien ebenso wie Durotan von dem Ausbruch überrascht zu sein. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Schamanen zu und streckte seine Hände flehentlich aus. „Eure Geister leben in diesen Wänden, das stimmt. Ich würde nie etwas anderes behaupten. Aber sie werden von diesem Wesen angelockt. Es versucht...“

Das war so ziemlich das Falscheste, was er hätte sagen können. Drek’Thar brüllte vor Wut. Andere fielen mit ein, und bevor Durotan begriff, was geschah, sah er, wie seine Krieger nach vorn drängten. Draka ging auf sie zu, versuchte den Angriff zu stoppen. Aber genauso gut hätte sie versuchen können, die Flut aufzuhalten.

Durotan drehte sich und schlug Drek’Thar übers Gesicht. Der Schamane wirbelte herum und knurrte.

„Ihr werdet meine Befehle achten!“, brüllte Durotan. „Wir brauchen sie lebend, verdammt noch mal!“

Drek’Thars Augen blitzten einen Herzschlag lang vor Wut. Er hob die Hände und schloss die Augen. Plötzlich entstand ein großer Flammenkreis um die fünf Draenei. Wind kam auf, der die Flammen anfachte und die Orcs umwarf. Die Krieger traten zurück, und zu Durotans Entsetzen begannen einige Bogenschützen ihre Pfeile aufzulegen.

„Halt!“, brüllte Durotan. Der Wind nahm seine Befehle entgegen und trug ihn ans Ohr der Krieger. „Ich töte jeden, der schießt!“

Dank seines Befehls und Drek’Thars mächtigen, wenngleich zögerlichen Eingreifens wurden die Draenei nicht verletzt. Dann sagte Durotan zu Drek’Thar: „Lösch das Feuer!“

Sofort verschwanden die Flammen, die beinahe Durotans Augenbrauen verbrannt hätten. Dann stand er Velen direkt gegenüber. Eine Woge von Gefühlen, die er nicht genau benennen konnte, überkam ihn, als er erkannte, dass der Draenei immer noch so ruhig war wie zuvor.

„Velen, du und deine Leute seid nun Gefangene des Frostwolf-Clans“, sagte Durotan mit gefährlichem Unterton.

Velen lächelte traurig. „Ich habe nichts anderes erwartet.“

Er und die anderen vier Draenei bewahrten irgendwie die Fassung, als Durotan befahl, sie zu entkleiden und sie zu durchsuchen. Ihre herrlichen Gewänder wurden ihnen weggenommen und an Durotans beste Krieger gegeben. Die Draenei mussten verschwitzte, dreckige Tuniken anziehen. Durotans Magen rebellierte angesichts des Spottes und des Hohns, der Schmähungen und des Spuckens, mit denen die Draenei erniedrigt wurden, aber er unterband es nicht. Solange keine körperliche Gewalt ausgeübt wurde, würde er seinen Kriegern ihren Spott lassen. Allerdings achtete er genau darauf, dass es zu keinen Übergriffen kam.

Draka beobachtete wütend das Verhalten ihrer Frostwölfe und flüsterte: „Mein Gefährte, kannst du sie nicht mäßigen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich will sehen, wie die Draenei darauf reagieren.“

Draka sah ihn an, dann nickte sie und ging. Er wusste, dass sie anderer Meinung war. Auch er mochte nicht, was er sah. Aber er bewegte sich auf einem schmalen Grat, und er wusste das.

„Mein Häuptling!“, rief Rokkar, Durotans Stellvertreter. „Komm und schau, was sie uns mitgebracht haben!“

Durotan ging zu Rokkar und öffnete den Beutel, den dieser ihm reichte. Seine Augen weiteten sich. Darin lagen, eingewickelt in weichen Stoff, zwei wunderschöne Steine. Einer war rot, der andere gelb. Durotan brannte darauf, sie zu berühren, aber er tat es nicht. Er hob den Blick und schaute Velen in die Augen.

„Vor langer Zeit zeigte uns Restalaan einen ganz ähnlichen Kristall“, sagte er. „Der, der die Stadt beschützte. Was können diese hier?“

„Jeder hat seine eigenen Stärken. Sie sind Teil unseres Vermächtnisses. Sie wurden uns von dem Wesen geschenkt, das in dem Berg lebt, um...“

Durotan unterbrach ihn. „Es wäre gut, wenn du das nicht noch einmal erwähnst.“ An Rokkar gewand sagte er: „Gib ihnen zu essen, binde ihre Hände und setze sie auf die Wölfe, mit einem Schamanen, der sie bewacht. Gib die Steine Drek’Thar. Wir werden die Draenei mit zurücknehmen und sie Ner’zhul ausliefern. Er hätte an meiner statt heute hier sein sollen.“

Er drehte sich um. Dabei vermied er es, in Velens merkwürdig strahlende blaue Augen zu schauen. Und genauso wenig wollte er die Missbilligung in Drakas Augen sehen, deshalb ging er davon.


Während des langen Rittes zurück kämpfte Durotan mit seinen Gefühlen. Auf der einen Seite teilte er Drek’Thars Ansicht. Der Oshu’gun war den Orcs heilig. Die Behauptung, dass etwas anderes als ihre Vorfahren dort wohnen konnte, so wie Velen es sagte, etwas, das so machtvoll war, dass es die Ahnen anzog, hatte auch ihn bis ins Mark erschüttert – da konnte er sich kaum vorstellen, wie sich der Schamane fühlen musste. Alles schien darauf hinzudeuten, dass Ner’zhul recht gehabt hatte: dass die Draenei eine Seuche waren, die ausgerottet werden musste.

Was an ihm nagte, war das Warum. Er würde in dieser Nacht eine Antwort darauf bekommen.

Da allesamt der fünf Gefangenen ritten, brauchten sie nicht lange bis zum Lager. Die Sonne ging gerade erst unter, als sie es erreichten. Durotan hatte Boten mit den guten Neuigkeiten vorausgeschickt. Und der Clan wartete begierig auf ihre Ankunft. Zu seiner Rechten befanden sich Drek’Thar und Rokkar, die die Gefühle der Frostwölfe teilten. Zu seiner Linken war Draka, die für ihre Verhältnisse ungewöhnlich still war. Durotan wusste, dass er nicht hören wollte, was sie zu sagen hatte. Er wurde momentan schon in zu viele Richtungen gezerrt und gezogen.

Die Gefangenen wurden auf zwei Zelte verteilt, und Wachen wurde aufgestellt: vier erfahrene Krieger und Drek’Thars bester Schamane. Durotan hatte angeordnet, dass Velen allein blieb. Er wollte mit dem Propheten in Ruhe sprechen.

Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, nahm Durotan einen tiefen Atemzug. Er freute sich nicht auf dieses Gespräch, aber es ließ sich nicht vermeiden. Er nickte den Wachen zu, und er erwartete den Draenei mit gebundenen Händen vorzufinden. Stattdessen sah er, dass derjenige, der den Befehl, Velen zu fesseln, ausgeführt hatte, dies mit besonderem Eifer getan hatte.

Das Zelt war um einen kräftigen Baum herum errichtet. Velen hatte man an dessen Stamm gebunden. Seine Arme waren in einem bösen Winkel zurückgebogen, die Fesseln um sein weißes Fleisch waren an den Handgelenken so fest, dass Durotan sogar bei dem wenigen Licht erkennen konnte, dass die Haut darunter dunkler wurde. Ein Seil, dankenswerterweise nicht allzu fest um seinen Hals geschlungen, zwang ihn, den Kopf permanent aufzurichten oder zu ersticken. Man hatte ihm ein schmutziges Stück Stoff in den Mund geschoben. Er kniete, und seine Hufe waren ebenfalls gefesselt.

Durotan fluchte und zog seinen Dolch. Velen sah ihn ohne Zeichen von Furcht in den tiefen blauen Augen an, aber Durotan fiel auf, dass der Draenei überrascht wirkte, als der Orc die Waffe benutzte, um die Fesseln durchzuschneiden anstatt seine Kehle.

Velen gab keinen Laut von sich, aber ein Augenblick der Qual flackerte über sein geisterhaft weißes Gesicht, als das Blut in die Adern zurückströmte.

„Ich befahl ihnen, dich zu fesseln, aber nicht, dich wie einen Talbuk zu verschnüren“, murmelte Durotan.

„Deine Leute sind sehr eifrig, wie es scheint.“

Durotan gab dem Draenei einen Wasserschlauch und beobachtete ihn genau, während er trank. In dreckiger Kleidung und lauwarmes Wasser trinkend, das weiße Fleisch rau von den Fesseln, wirkte Velen nicht sehr gefährlich. Wie hätte sich Durotan gefühlt, wenn man ihm erzählt hätte, dass die Draenei Mutter Kashur so behandelt hätten? Alles in dieser Angelegenheit erschien völlig falsch. Trotzdem hatte Mutter Kashur höchstpersönlich Drek’Thar erklärt, dass die Draenei eine Gefahr waren.

Eine Schüssel mit Blutbrei stand auf dem Boden. Mit seinem rechten Fuß schob Durotan sie dem Gefangenen zu. Velen sah sie, aß aber nicht.

„Nicht ganz das Festmahl, das du Orgrim und mir geboten hast, als wir in Telmor gegessen haben“, sagte Durotan. „Aber es macht satt.“

Velen lächelte schwach. „Das war ein bemerkenswerter Abend.“

„Hast du von uns an diesem Abend bekommen, was du wolltest?“, verlangte Durotan zu wissen. Er war wütend, aber nicht auf Velen. Er war wütend, dass es so weit gekommen war, dass jemand, der ihm nichts als Zuneigung gezeigt hatte, nun sein Gefangener war. Und so ließ er es an dem Propheten aus.

„Ich verstehe nicht. Wir wollten nur gute Gastgeber sein für zwei abenteuerlustige Jungen.“

Durotan stand auf und trat gegen die Schüssel. Der Brei schwappte auf den Boden. „Erwartest du, dass ich das glaube?“

Velen antwortete ruhig: „Es ist die Wahrheit. Es ist allein deine Entscheidung, ob du sie glaubst oder nicht.“

Durotan fiel auf die Knie und schob sein Gesicht nah an Velens. „Warum wollt ihr uns vernichten? Was haben wir euch getan?“

„Ich könnte die gleiche Frage stellen“, sagte Velen. Sein weißes Gesicht wurde dunkler. „Wir haben nie einen Finger gerührt, um euch zu schaden. Und jetzt sind mehr als zwei Dutzend Draenei tot, wegen eurer Angriffe!“

Die Wahrheit darin machte Durotan nur noch wütender. „Die Ahnen belügen uns nicht!“, schnarrte er. „Wir wurden gewarnt, dass ihr nicht die seid, die ihr vorgebt zu sein. Dass ihr unsere Feinde seid. Warum sonst habt ihr diese Kristalle mitgebracht, wenn nicht, um uns anzugreifen?“

„Sie sollten uns helfen, besser mit dem Wesen im Berg zu kommunizieren.“ Velen sprach schnell, als wollte er die Antwort herausbekommen, bevor Durotan ihm das Wort abschnitt. „Es ist kein Feind der Orcs, genauso wenig wie wir. Durotan, du bist klug und weise, das habe ich in der Nacht vor so langer Zeit erkannt. Du folgst Befehlen nicht blind wie ein Tier. Ich weiß nicht, warum euch eure Anführer anlügen. Aber sie tun es. Wir wollten immer friedvoll mit euch leben. Du bist nicht wie die anderen, Sohn des Garad!“

Durotan verkniff die dunklen braunen Augen zu schmalen Schlitzen. „Da liegst du falsch, Draenei“, spie er. „Ich bin stolz darauf, ein Orc zu sein. Ich verleugne meine Herkunft nicht!“

Velen schien verwirrt. „Du missverstehst mich. Ich mache deine Leute nicht schlecht. Nur...“

„Nur was? Du erzählst uns nur, dass wir unsere geliebten Toten nur sehen können, weil euer... euer Gott in dem Berg gefangen ist?“

„Es ist kein Gott. Es ist ein Verbündeter und wäre es auch für dein Volk, wenn ihr es ihm erlauben würdet.“

Durotan fluchte und stand auf. Er ging im Zelt auf und ab und ballte dabei immer wieder die Hände. Dann seufzte er lang und tief, und der Ärger verrauchte.

„Velen, deine Worte sind nichts anderes als Holz im Feuer unserer Wut“, sagte er ruhig. „Euer Anspruch ist arrogant und anmaßend. Dadurch werden nur die bestätigt, die bereits jetzt schon euer Volk vernichten wollen, auf das Wort unserer Ahnen hin. Ich verstehe mich selbst nicht, aber du bittest mich, zwischen Leuten, denen ich vertraue, und Traditionen, mit denen ich aufgewachsen bin, und deinem Wort zu wählen.“

Er drehte sich und sah den Draenei an. „Ich wähle mein Volk, das musst du wissen. Wenn du und ich uns von Angesicht zu Angesicht auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, werde ich mich nicht zurückhalten.“

Velen blinzelte neugierig. „Du... wirst mich nicht zu Ner’zhul bringen?“

Durotan schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn er dich haben will, hätte er selbst kommen müssen. Er hat mich beauftragt, mich deiner anzunehmen, und ich habe meine Pflicht, wie ich es sehe, erfüllt.“

„Du wurdest beauftragt, einen Gefangenen zu ihm zu bringen“, sagte Velen.

„Ich sollte mich mit dir treffen und dir zuhören“, erwiderte Durotan. „Hätte ich dich im Kampf gefangen genommen, dir die Waffe aus der Hand geschlagen und dich zu Boden gekämpft, dann wärst du mein Gefangener. Aber es liegt keine Ehre darin, einen Feind zu fesseln, der seine Hände willig dem Strick entgegenstreckt. Wir kommen so nicht weiter, du und ich. Du bestehst darauf, dass du den Orcs nichts Böses willst. Meine Anführer und die Geister meiner Ahnen erzählen mir etwas anderes.“

Wieder kniete sich Durotan vor den Draenei. „Sie nennen dich Prophet, kennst du denn die Zukunft? Wenn ja, dann sag mir, was wir tun können, um das Schlimmste zu verhindern. Ich möchte kein unschuldiges Leben opfern, Velen. Gib mir etwas, irgendwas, das ich zu Ner’zhul bringen kann und das beweist, dass du die Wahrheit sprichst!“

Er erkannte, dass er bettelte, aber das störte ihn nicht. Er liebte seine Gefährtin, seinen Clan, sein Volk. Er hasste, was er sah: eine ganze Generation, die sich kopfüber ins Erwachsensein stürzte, mit blindem Hass in ihren Herzen. Wenn es etwas daran ändern konnte, vor einem merkwürdigen Wesen zu betteln, dann bettelte er eben.

Die blauen Augen schauten unbeschreiblich mitfühlend. Velen streckte die bleiche Hand aus und legte sie auf Durotans Schulter. „Die Zukunft ist nicht wie ein Buch, das man lesen kann“, sagte er ruhig. „Sie verändert sich ständig. Wie das Wasser oder der Wirbel im Sand. Mir werden verschiedene Einsichten gewährt, aber nicht mehr. Ich fühlte sehr stark, dass ich unbewaffnet kommen musste, und sieh, ich werde nicht vom größten Schamanen der Orcs empfangen, sondern von einem, der einst sicher unter meinem Dach schlief. Ich glaube nicht, dass dies ein Zufall ist, Durotan. Und wenn irgendetwas getan werden kann, um weiteres Töten zu verhindern, dann liegt das bei den Orcs, nicht bei den Draenei. Alles, was ich machen kann, ist dir zu sagen, was ich bereits gesagt habe. Der Lauf des Flusses kann verändert werden. Aber ihr seid diejenigen, die das tun müssen. Das ist alles, was ich weiß, und ich bete, dass es genug ist, um mein Volk zu retten.“

Der Blick aus seinem alten, merkwürdig zerknitterten Gesicht und der Ton seiner Stimme sagten Durotan, was seine Worte nicht taten: dass Velen nicht glaubte, dass es genug sein würde, um sein Volk zu retten.

Durotan schloss die Augen für einen Moment, dann stand er auf und trat zurück. „Wir werden die Steine behalten“, sagte er. „Welche Kräfte in ihnen schlummern werden unsere Schamanen herausfinden.“

Velen nickte traurig. „Das habe ich erwartet. Aber ich musste sie mitbringen, ich musste darauf vertrauen, dass wir einen Weg hier herausfinden würden.“

Wie konnte es sein, fragte sich Durotan, dass er sich im Moment einem vermeintlichen Feind näher fühlte als den geistigen Führern seines eigenen Volkes? Draka mochte es wissen. Sie wusste immer alles. Sie hatte nichts gesagt, weil sie wusste, dass er diese Wahrheit selbst herausfinden musste. Aber er würde in dieser Nacht mit ihr sprechen, allein in ihrem Zelt.

„Steh auf“, sagte er, und dabei verbarg er kaum seine Gefühle. „Du und deine Begleiter könnt in Sicherheit ziehen.“ Er grinste plötzlich. „So sicher es in der Dunkelheit ohne Waffen sein mag. Wenn ihr außerhalb unseres Territoriums zu Tode kommt, ist es nicht unsere Schuld.“

„Das wäre sehr angenehm für dich“, entgegnete Velen und kam auf die Füße. „Aber irgendwie glaube ich nicht, dass es das ist, was du willst.“

Durotan antwortete nicht. Er verließ das Zelt und sagte zu den wartenden Wachen: „Velen und seine vier Begleiter werden sicher bis zu den Grenzen unseres Landes eskortiert. Dann werden sie frei gelassen, um in ihre Stadt zurückzukehren. Es darf ihnen nichts geschehen, ist das klar?“

Einer der Wachposten wollte protestieren. Aber ein anderer, weiserer Krieger brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Völlig klar, mein Häuptling.“

Als sie gingen, um die anderen Draenei zu holen, trat Drek’Thar auf Durotan zu. „Durotan! Was machst du denn da? Ner’zhul erwartet die Gefangenen!“

„Ner’zhul kann seine Gefangenen selber machen“, schnarrte Durotan. „Ich habe das Kommando, und das ist meine Entscheidung. Stellst du sie in Frage?“

Drek’Thar sah sich um und entfernte sich mit Durotan, bis sie außer Hörweite waren. „Ja, das tue ich“, zischte er. „Du hast doch gehört, was er gesagt hat. Er behauptet, dass die Ahnen wie... wie Motten sind, die von ihrem Gott angezogen werden. Diese Arroganz!

Ner’zhul hat recht, sie müssen vernichtet werden. Man hat es uns so gesagt.“

„Wenn es so ist, dann wird es so sein“, sagte Durotan. „Aber nicht heute Nacht, Drek’Thar. Nicht heute Nacht.“


Als er und seine Gefährten langsam über das taufeuchte Gras der Wiese in Richtung der nächsten Stadt gingen, hinter ihnen die aufragende Silhouette der Wälder von Terokkar, war Velens Herz schwer.

Zwei der Ata’mal-Kristalle befanden sich in den Händen der Orcs. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Durotan recht behielt und ihre Schamanen schnell ihre Geheimnisse entdecken würden. Aber einer war ihnen entgangen.

Er war ihnen entgangen, weil er nicht gefunden werden wollte. Als sie durchsucht wurden, hatte sich der violette Kristall derart verändert, dass er vor den suchenden Blicken der Orcs verborgen blieb. Velen hielt ihn nah an seinem Herzen und fühlte die Wärme in sein altes Fleisch sickern.

Er hatte gespielt und verloren. Nicht vollständig, dass er und die seinen noch am Leben waren, war der Beweis dafür. Doch er hatte gehofft, die Orcs würden zuhören. Dass sie ihn zumindest in das Herz ihres heiligen Berges begleiten würden. Dann hätten sie etwas zu sehen bekommen, etwas, das ihrem Glauben nicht entgegensprach, sondern ihn eigentlich erst geschaffen hatte.

Die Aussichten waren düster. Als er in das Lager gebracht worden war, hatte er gesehen, was dort vor sich ging. Bereits Kinder trainierten so hart, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Die Schmieden arbeiteten sogar nachts. Obwohl er sich in Freiheit befand, wusste Velen, dass nichts, was er an diesem Tag getan hatte, die Ereignisse aufhalten würde. Die Orcs, selbst die Gemäßigteren, bereiteten sich nicht nur auf die Möglichkeit eines Krieges vor – sie waren davon überzeugt, dass er kommen würde. Wenn die Sonne dieser Welt ihr gelbes Haupt wieder zeigte, würde sie auf das Unausweichliche hinabsehen.

Der Kristall, den er so nah an sein Herz hielt, pulsierte. Er spürte seine Gedanken. Velen wandte sich seinen Begleitern zu und sah sie sorgenvoll an.

„Die Orcs werden sich nicht von ihrem Weg abbringen lassen“, sagte er. „Wenn wir selbst überleben wollen, müssen auch wir den Weg des Krieges gehen.“


Weit in der Ferne, tief unter den Wassern des heiligen Beckens, stieß ein gebrochenes, sterbendes Wesen namens K’ure einen tiefen gequälten Schrei aus.

Velen erkannte die Stimme und neigte das Haupt.

Die Frostwolf-Orcs schnappten bei dem Geräusch nach Luft und schauten zum Oshu’gun mit seiner perfekten dreieckigen Form.

„Die Ahnen zürnen uns!“, rief ein junger Schamane. „Sie sind wütend, weil wir Velen gehen ließen!“

Durotan schüttelte den Kopf. Er hätte den Neuling zurechtweisen müssen. Und er würde es auch tun, wenn der noch einmal so etwas verlauten ließ. Aber jetzt war sein Herz voller Trauer. Es war kein Schrei der Wut, der vom heiligen Berg gekommen war. Er war das berstende Geräusch des absoluten Kummers. Er schüttelte sich innerlich und fragte sich, warum seine Ahnen so sehr und so tief trauerten.

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