8. Kapitel

Lioren durchquerte die chirurgische Station für Melfaner mit einem Tempo, daß man den Eindruck bekam, er wüßte genau, wohin er ging und was er vorhatte, sobald er dort angekommen war. Die diensthabende illensanische Oberschwester blickte von ihrem Tisch auf und bewegte sich unruhig im Schutzanzug hin und her, beachtete ihn aber nicht weiter, und die übrigen Schwestern und Krankenpfleger waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich um die frisch operierten ELNT-Patienten zu kümmern, als daß sie überhaupt etwas von ihm bemerkt hätten. Doch als er zwischen der Doppelreihe gepolsterter Stützgestelle hindurchging, die bei den Melfanern die Funktion von Krankenbetten erfüllten, stellte sich heraus, daß Chefarzt Seldal gar nicht anwesend war, obwohl sein Name an der Tafel auf der Station gestanden hatte, auf der das diensthabende Personal aufgeführt wurde. Auch die Lernschwester Tarsedth fehlte.

Unter den illensanischen, kelgianischen und tralthanischen Schwestern und Krankenpflegern, die rings um ihn arbeiteten, wäre ein Nallajimer nur schwer zu übersehen gewesen, und das bedeutete, Seldal mußte sich noch in dem an die Station angrenzenden Operationssaal befinden. Über die nach oben führende Rampe stieg Lioren zur Zuschauergalerie hinauf — viele medizinische Mitarbeiter waren physiologisch nicht in der Lage, Treppen zu steigen — und sah von dort aus, daß er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte. Zudem stellte er fest, daß sich noch zwei weitere Zuschauer auf der Galerie befanden. Wie er gehofft und insgeheim auch erwartet hatte, handelte es sich bei einem der beiden um Tarsedth, die kelgianische Krankenschwester, die ihn bei seinem ersten Besuch in der Kantine vor einigen Tagen angesprochen hatte.

„Was machen Sie denn hier?“ erkundigte sich die Kelgianerin auch sogleich neugierig, wobei ihr Fell vor Überraschung unregelmäßige Wellen schlug. „Nach dem Schlamassel, den Sie auf Cromsag angerichtet haben, hat man uns gesagt, Sie würden in nächster Zeit nichts mehr mit Aderlässen bei fremden Spezies zu tun haben.“

Nach Liorens Ansicht wäre es höchst niederträchtig, eine Angehörige einer anderen Spezies zu belügen, die selbst nicht einmal dazu imstande war, auch nur leise zu flunkern, und deshalb entschied er sich für den Kompromiß, nicht die ganze Wahrheit zu sagen.

„Für die chirurgische Kunst fremder Spezies interessiere ich mich immer noch, Schwester Tarsedth, auch wenn ich selbst nicht mehr operieren darf“, antwortete er. „Ist diese Operation denn interessant?“

„Für mich jedenfalls weniger“, entgegnete Tarsedth und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Vorgängen unterhalb der Galerie zu. „Mein Hauptinteresse gilt hier dem Vorgehen des OP-Personals, der künstlichen Schwerkraftregulierung, der operativen Vorbereitung des Patienten sowie dem Einsatz der Instrumente und bestimmt nicht diesem ganzen chirurgischen Herumgestochere in irgendwelchen unseligen melfanischen Eingeweiden.“

Der andere Zuschauer auf der Galerie, ein FROB, ließ seine Sprechmembran vibrieren — das war die Art, auf die sich ein Hudlarer räusperte — und sagte: „Ich interessiere mich allerdings schon für die Operation, Lioren. Wie Sie sehen können, nähert sie sich allmählich dem Abschluß. Aber falls für Sie irgendein Teil der vorher vorgenommenen Eingriffe von besonderem Interesse ist, würde ich mich freuen, Sie Ihnen darlegen zu dürfen.“

Lioren richtete sämtliche Augen auf den Sprecher, war aber wie die meisten Mitarbeiter des Hospitals nicht in der Lage, einen Hudlarer vom anderen zu unterscheiden.

Die durchsichtigen Augendeckel waren genau wie der untersetzte, massige Körper und die sechs spitz zulaufenden, ungeheuer starken Tentakel, die ihn trugen, vollkommen glatt. Die Haut, die vom Aussehen und von der Struktur her einem nahtlosen Panzer glich, war von verfärbten Flecken aus getrocknetem und aufgebrauchtem Nahrungspräparat übersät, ein Anzeichen dafür, daß sich der Hudlarer dringend neu besprühen mußte. Doch der FROB schien Lioren zu kennen oder zumindest von ihm gehört zu haben. War es möglich, daß sich dieser freundliche Hudlarer wie Tarsedth schon einmal mit ihm unterhalten hatte?

„Das ist sehr nett von Ihnen“, bedankte sich Lioren. Indem er die Worte sorgsam wählte, fuhr er fort: „Natürlich interessiert mich die chirurgische Vorgehensweise der Nallajimer und besonders, wer dieser.“

„Ich dachte, ihr Psychologen wißt immer alles über jeden“, unterbrach ihn Tarsedth, deren Fell durch ihre starken Gefühle in heftige Bewegung geriet. „Sie haben Cresk-Sars Bericht über uns gelesen, wußten also, daß ich hier bin und meine Freizeit dafür opfere, mich mit den Operationsverfahren fremder Spezies vertraut zu machen. Daß ich mich bemühe, unseren miesen, kleinen nidianischen Ausbilder mit meinen Kenntnissen und meinem Interesse für dieses Fachgebiet zu beeindrucken, damit er mir den Wunsch erfüllt, im neuen ELNT-OP auf der dreiundfünfzigsten Ebene zu arbeiten, und auch wegen der frühzeitigen Beförderung, die das mit sich bringen würde, ist Ihnen ebenfalls bekannt. Es würde mich nicht überraschen, wenn Sie von O'Mara oder Cresk-Sar hierhergeschickt worden wären.

Ihr Psychologen wißt zwar alles“, schloß Tarsedth, wobei sich ihr Fell beunruhigt zu Stacheln aufrichtete, „sagt aber nie einen Ton.“

Lioren unterdrückte seine Wut, indem er sich noch einmal vor Augen hielt, daß die Kelgianerin nicht anders konnte, als offen ihre Meinung zu sagen, und seine Antwort fiel diesbezüglich genauso schonungslos und ehrlich aus.

„Ich bin hergekommen, um Seldal bei der Arbeit zuzusehen, und interessiere mich weder für Ihre Zukunftspläne noch für Ihre Methoden, diese voranzutreiben“, antwortete er. „Cresk-Sars letzten Bericht habe ich heute morgen bekommen, und durch die Lektüre habe ich, wie auch schon aus früheren Berichten, in peinlichster Genauigkeit und in den langweiligsten Einzelheiten von Ihren Fortschritten erfahren. Zudem bin ich mir bewußt, daß die Informationen in Ihrer Akte vertraulich sind und mit niemandem außerhalb meiner Abteilung besprochen werden dürfen. Dennoch möchte ich Ihnen sagen, daß Sie ausgesprochen.“

Plötzlich vibrierte die Sprechmembran des Hudlarers. „Lioren, seien Sie vorsichtig!“ fiel er dem Tarlaner ins Wort. „Falls Sie über Informationen verfügen, die nicht bekanntgemacht werden dürfen, obwohl Ihnen die Gründe dafür nicht als therapeutisch zweckvoll, sondern als völlig unsinnig und rein verwaltungstechnisch erscheinen, erinnern Sie sich bitte daran, daß Sie wieder ein Auszubildender sind und Ihre Zukunft genau wie unsere davon abhängt, unsere Abteilungsleiter bei guter Laune zu halten oder sie zumindest nicht durch Ungehorsam oder Aufsässigkeit mutwillig gegen uns aufzubringen.

Tarsedth bemüht sich wirklich ernsthaft um diese Beförderung und ist über das, was sie für eine unnötige Geheimnistuerei hinsichtlich ihrer Chancen hält, äußerst verärgert“, fuhr der FROB schnell fort. „Dennoch würde selbst sie nicht wollen, daß Sie ihre Hoffnungen bestätigen oder zunichte machen, wenn diese Auskunft zu Ihrer Entlassung führen würde. Wie die anderen Lernschwestern und Krankenpflegeschüler, die sich ausnahmslos in aller Ausführlichkeit über Sie unterhalten haben, glaubt auch Tarsedth, daß für Sie die einzige Hoffnung, sich mit Ihrem furchtbaren Problem abzufinden, darin besteht, am Hospital zu bleiben.

Hüten Sie also bitte Ihre Zunge, Lioren!“ warnte er zum Schluß.

Für einen Augenblick legte ein plötzlicher Gefühlsausbruch Liorens Sprachzentrum lahm. Anscheinend war die Abneigung des medizinischen Personals gegenüber den Mitarbeitern der psychologischen Abteilung nicht allgemein. Doch durfte er nicht vergessen, daß er eigentlich hierhergekommen war, um Informationen über Seldal zu sammeln, und die beste Möglichkeit, das zu tun, wäre vielleicht, diese beiden Wesen in eine Situation zu bringen, durch die sie ihm verpflichtet wären.

„Wie ich vorhin sagen wollte, darf ich nicht über geheime Unterlagen sprechen“, fuhr Lioren fort, „ob sie sich nun auf die verborgenen Gedankengänge einer Krankenschwester in der Ausbildung beziehen oder auf den fähigen und hochgeachteten Chefarzt Cresk-Sar.“ Tarsedth stieß einen Laut aus, der vom Translator nicht übersetzt wurde, doch dafür machte ihr sich unregelmäßig kräuselndes Fell deutlich, was sie von ihrem Hauptausbilder hielt.

„Trotzdem hindert Sie das keineswegs daran, solche Fragen mit Ihresgleichen zu erörtern oder Theorien über die eigene zukünftige Laufbahn aufzustellen, die auf dem Wissen beruhen, das man sich in der Vergangenheit durch die persönliche Bekanntschaft mit dem betreffenden Wesen aus erster Hand angeeignet hat“, setzte Lioren seine Ausführungen fort. „Sie könnten damit beginnen, sich zu überlegen, daß Cresk-Sar schon seit unzähligen Jahren dafür bekannt ist, der fachlich kompromißloseste und persönlich unangenehmste Ausbilder des ganzen Personals zu sein, der mehr als alle anderen mit Leib und Seele bei der Sache ist und dessen peinliche Genauigkeit sämtliche Rekorde bricht; und daß seine Auszubildenden zwar die schwersten geistigen und emotionalen Qualen erleiden müssen, ihre Prüfungen aber nur selten nicht bestehen. Vielleicht aus Angst, von den vielversprechendsten Schülern enttäuscht zu werden, weil sie nicht ihre volle Leistungsfähigkeit erreichen, läßt er gerade sie die schlimmsten Unannehmlichkeiten erdulden. Vielleicht halten Sie sich auch vor Augen, daß Cresk-Sar ausschließlich an seinen Lehrauftrag denkt und deshalb seine Schüler sogar häufig in ihrer Freizeit stört und nach ihren Fortschritten fragt. Außerdem könnten Sie über den Eindruck nachdenken, den irgendein hypothetischer Schüler, der offenbar ehrgeizig, begeistert oder dumm genug ist, seine gesamte Freizeit zu opfern und sogar auf eine Mahlzeit zu verzichten, wie Sie es tun, bei einem derartigen Ausbilder hinterläßt, indem er durch dieses Verhalten dessen Bestreben unterstützt.

Nachdem Sie selbst all diese Umstände sorgsam erwogen haben“, fügte Lioren hinzu, „könnten Sie zu der Überzeugung gelangen, daß Ihr hypothetischer Schüler keinen Grund zur Sorge hat, und rein hypothetisch sähe ich mich dann gezwungen, Ihnen zuzustimmen.“

„Lioren, Sie verletzen die Vorschriften oder legen Sie zumindest sehr weit aus“, sagte Tarsedth, deren Fell sich beruhigte und jetzt langsame, erleichterte Wellen schlug. „Und ehrgeizig mag ich ja sein, aber dumm bin ich nicht; ich habe nämlich ein Lunchpaket eingepackt. Aber der da.“ — sie deutete mit dem Kopf auf den Hudlarer — „ist hierhergekommen, ohne sich sein Nahrungspräparat mitzunehmen. Entweder wird er sich gegenüber der Oberschwester äußerst höflich und zurückhaltend — was immer das für einen Hudlarer heißt — benehmen und sie darum bitten müssen, ihn schnell zu besprühen, oder er wird unsere nächste Unterrichtsstunde nicht mehr erleben.“

„Ich bin immer höflich und zurückhaltend, besonders Oberschwestern gegenüber, die von vergeßlichen und hungrigen FROBs, die auf der Suche nach einer milden Gabe zu den unmöglichsten Zeiten auftauchen, allmählich genug haben“, wehrte sich der Hudlarer scherzhaft. „Zwar wird mir die Schwester kritische, vielleicht sogar persönlich beleidigende Worte an den Kopf werfen, mir meine Bitte aber nicht abschlagen. Schließlich würde ihre Station keine guten Eindruck machen, wenn mitten auf dem Flur ein Hudlarer aus Nahrungsmangel zusammenbricht.“

Lioren musterte den FROB jetzt genauer, dessen glatter und unglaublich massiger Körper trotz der sechs weit auseinandergesetzten Tentakel allmählich absackte. Die FROBs lebten auf einem Planeten mit großer Schwerkraft und einem verhältnismäßig hohen atmosphärischen Druck. Die Atmosphäre des Planeten ähnelte einer dickflüssigen Suppe, in der es von winzigen, schwebenden Nahrungspartikeln wimmelte, die die FROBs durch einen Absorptionsmechanismus aufnahmen, der den gesamten Rücken und die Seiten des Körpers bedeckte. Da es sich bei den Hudlarern um eine Spezies mit einem hohen Energieverbrauch handelte, mußte diese Nahrungsaufnahme ununterbrochen erfolgen. In den Umweltbedingungen auf anderen Planeten und im Hospital selbst hatte es sich als praktischer herausgestellt, sie in regelmäßigen Abständen mit dem Nahrungspräparat zu besprühen. Möglicherweise hatte dieser Hudlarer seine Energiereserven gefährlich gering werden lassen, weil er Seldals Operation so spannend gefunden hatte.

„Warten Sie hier, während ich die Oberschwester um eine Sprühdose bitte“, forderte Lioren den FROB in energischem Ton auf. „Es wäre für alle Beteiligten weniger lästig, wenn Sie nur auf der Zuschauergalerie für Chaos sorgen, anstatt womöglich auf der Hauptstation zusammenzubrechen. Und hier oben riskieren wir es nicht, Ihr übelriechendes hudlarisches Nahrungspräparat auf den blankpolierten Fußboden oder auf die Patienten zu sprühen.“

Als er mit dem Behälter und der Sprühdose mit dem Nahrungspräparat zurückkam, war der Hudlarer zu Boden gesunken. Seine Tentakel zuckten schwach, und aus der Sprechmembran drangen nur noch kaum hörbare, unübersetzbare Laute. Lioren setzte die Sprühdose gekonnt und genau ein — zusammen mit seinen Offffzierskameraden vom Monitorkorps hatte er gelernt, FROBs diesen Gefallen zu erweisen, die im luftleeren Raum mit Bauarbeiten beschäftigt waren — , und innerhalb weniger Minuten hatte sich der Hudlarer wieder vollkommen erholt. Im OP unter der Galerie war von Seldal und seinem Patienten keine Spur mehr zu sehen, und auch das OP-Personal verließ nach und nach den Saal.

„Durch diesen besonderen Akt der Nächstenliebe haben Sie den Abschluß der Operation verpaßt“, stellte Tarsedth fest, und ihr Fell richtete sich mißbilligend in Richtung des Hudlarers auf. „Seldal ist in die Kantine gegangen und wird erst zurückkehren, wenn es.“

„Entschuldigung, Tarsedth“, schnitt ihr der Hudlarer das Wort ab, „aber Sie vergessen, daß ich die gesamte Operation aufgenommen habe. Ich würde mich freuen, wenn Sie beide nach dem Unterricht in meine Unterkunft kommen würden, um sich das Video anzusehen.“

„Nein!“ weigerte sich Tarsedth. „Hudlarer benutzen keine Betten oder Stühle, und für mich und meinen weichen Körper oder selbst für den von Lioren gäbe es nichts, worauf man es sich bequem machen könnte. Und meine eigene Unterkunft ist viel zu klein, um zwei riesige Thrennigs wie Sie beide hineinzulassen. Wenn Lioren die Operation so brennend interessiert, kann er sich ja irgendwann das Band von Ihnen ausleihen.“

„Sie könnten beide auch gern zu mir kommen“, schlug Lioren schnell vor. „Ich habe noch nie einem nallajimischen Chirurgen bei der Operation zugesehen, und irgendwelche Anmerkungen, die Sie womöglich dazu machen können, wären bestimmt hilfreich für mich.“

„Wann?“ fragte Tarsedth.

Kaum hatte er mit den beiden einen Termin ausgemacht, der allen dreien paßte, fragte ihn der Hudlarer: „Lioren, sind Sie sich denn wirklich sicher, daß Sie ein Gespräch über die chirurgische Kunst einer fremden Spezies — denn genau darum wird es ja gehen — emotional nicht zu sehr belastet oder daß Sie durch das Getratsche mit Mitarbeitern, die nicht zu Ihrer Abteilung gehören, keinen Ärger mit O'Mara bekommen werden?“

„Unsinn“, widersprach Tarsedth für ihn. „Tratschen ist die befriedigendste nichtkörperliche Tätigkeit, die ich mir mit anderen Lebewesen vorstellen kann. Also bis dann, Lioren, und diesmal werde ich dafür sorgen, daß mein übergewichtiger Freund hier daran denkt, einen Reservebehälter mit Nahrungspräparat mitzunehmen.“

Als die beiden gegangen waren, brachte Lioren den leeren Behälter zur Oberschwester zurück, der er versichern mußte, mit dem Nahrungspräparat nicht die durchsichtigen Wände der Zuschauergalerie verschmiert zu haben. Warum jede Oberschwester einer Station unabhängig von Größe, Spezies und den Umweltbedingungen, die sie benötigte, so blindwütig darauf bestand, daß ihr medizinischer Herrschaftsbereich jederzeit in einem gepflegten, ordentlichen und peinlich sauberen Zustand gehalten werden mußte, hatte Lioren sich schon oft gefragt. Doch erst jetzt wurde ihm allmählich klar, daß die Station einer Oberschwester, die Perfektion im kleinsten Detail verlangte, besonders gut geeignet war, größere Notfälle zu bewältigen, egal, was das ihr unterstellte Pflegepersonal persönlich von seiner Vorgesetzten hielt.

Im Magen spürte Lioren ein schwaches, keineswegs schmerzhaftes Rumoren, das gewöhnlich Aufregung, einem nichtkörperlichen Vergnügen oder Hunger zuzuschreiben war — in diesem Fall glaubte er, daß es sich um eine Kombination aus allen drei Möglichkeiten handeln könnte. Im Bestreben, wenigstens einen dieser drei möglichen Gründe zu beseitigen, überlegte er sich einen Weg, der ihn so schnell wie möglich zur Kantine führte, auch wenn er nicht damit rechnete, dadurch das Rumoren im Magen voll und ganz loszuwerden, weil ihn sein erster Fall, der nichts mit praktischer Chirurgie zu tun hatte, zu sehr beschäftigte.

Sich als ehemaliger Oberstabsarzt beim Monitorkorps auf das berufliche Niveau von Auszubildenden herablassen zu müssen war ihm entgegen seinen Befürchtungen weder sonderlich schwergefallen, noch hatte es ihn in dem Maße beschämt, wie er es seiner Ansicht nach eigentlich verdient gehabt hätte. Er war sogar mit sich zufrieden, vorhin aus Cresk-Sars Bericht richtig gefolgert zu haben, daß sich Tarsedth Seldals Operation bestimmt ansehen würde. Nach dem Mittagessen wollte Lioren dann ins Büro zurückkehren, um den Terrestrier Braithwaite bei Laune zu halten und sich mit dem restlichen Bericht des Chefausbilders zu beschäftigen.

Alles in allem versprach es ein langer, arbeitsreicher Tag und ein noch längerer Abend zu werden, in dessen Verlauf er sich die Videoaufnahme von Seldals Operation ansehen und das Vorgehen des Nallajimers ausführlich besprechen könnte. Da die beiden Auszubildenden von Liorens beständigem Interesse für die Chirurgie fremder Spezies gehört hatten, würden sie viele Fragen von ihm erwarten. Unter diesen Umständen wäre es nur natürlich, wenn sich das Gespräch von der Operation auf die Persönlichkeit, die Gewohnheiten und das Verhalten des Chirurgen verlagerte. Jeder tratschte gern über seinen Vorgesetzten, und die Menge der vorhandenen, ganz persönlichen Informationen nahm normalerweise direkt proportional zum Dienstgrad des Betreffenden zu. Wenn er vorsichtig ans Werk ging, könnte er dem FROB und Tarsedth das, was sie über Seldal wußten, vielleicht so geschickt entlocken, daß weder seine beiden Informanten noch der Gegenstand seiner Untersuchung selbst merken würden, worum es in Wirklichkeit ging.

Für eine verdeckte Ermittlung war das ein vielversprechender Anfang, dachte Lioren und beglückwünschte sich mit einem leichten Schaudern selbst.

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