„Bei Nallajimern weiß ich nie so recht, ob ich dabei zusehe, wie ein Patient operiert wird, oder ob ich Zeuge bin, wie er gerade vom Chirurgen verspeist wird“, stellte Tarsedth angewidert fest, als sie sich spät abends zu dritt die Videoaufzeichnung von Seldals Operation ansahen.
„In der Frühzeit der MSVKs, bevor es Geld gegeben hat, ist das für einen nallajimischen Arzt wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen, um von seinem Patienten das Honorar zu bekommen“, meinte der Hudlarer, wobei der Tonfall seiner eigenen Stimme, die trotz der Übersetzung des Translators zu hören war, zu verstehen gab, daß diese Bemerkung nicht ganz ernst genommen werden durfte.
„Zunächst einmal finde ich es äußerst bewundernswert, daß eine Lebensform, die drei Beine und zwei nicht ganz verkümmerte Flügel hat, aber über keinerlei Hände verfügt, Chirurgen hervorbringen konnte“, sagte Lioren. „Beziehungsweise überhaupt dazu in der Lage ist, irgendeine der anderen Tätigkeiten auszuüben, die äußerst knifflige Handgriffe erfordern und die früher einmal zur Entwicklung von Intelligenz und einer auf Technologie gegründeten Zivilisation geführt haben. Die MSVKs haben ihre Entwicklung mit so vielen physiologischen Nachteilen angefangen, hat man.“
„Das haben die geschafft, indem sie ihre Schnäbel in die unmöglichsten Dinge gesteckt haben“, unterbrach ihn Tarsedth, deren Fell vor Ungeduld in heftige Bewegung geriet. „Wollen Sie sich die Operation ansehen oder sich über den Chirurgen unterhalten?“
Sowohl als auch, dachte Lioren, sprach es aber nicht laut aus.
Bei der physiologischen Klassifikation MSVK, zu der Seldal gehörte, handelte es sich um eine Spezies von warmblütigen Sauerstoffatmern, die sich auf Nallajim entwickelt hatte, einem Planeten, auf dem aufgrund der hohen Rotationsgeschwindigkeit, der dichten Atmosphäre und der geringen Schwerkraft in den äußerst fruchtbaren Gebieten am Äquator Umweltbedingungen entstanden waren, die flugfähigen Lebensformen eine starke Vermehrung ermöglicht hatten. Dank dieser äußeren Umstände konnten sich sehr große Raubvogelarten entwickeln, die zwar sehr unterschiedlich waren, jedoch alle über so viele natürliche Waffen und eine derart schwere Panzerung verfügten, daß sie sich schließlich nach und nach gegenseitig ausrotteten. Im Verlauf des Jahrtausends, in dem sich diese gewaltsamen Vorgänge abspielten und schließlich von selbst ein Ende fanden, waren die relativ kleinen MSVKs dazu gezwungen, ihren Lebensraum in der Luft und ihre in großer Höhe gebauten und relativ ungeschützten Nester zu verlassen und Zuflucht in Bäumen, tiefen Schluchten und Höhlen zu suchen.
Sehr schnell paßten sie sich daran an, den Lebensraum auf und über dem Boden mit den kleinen Tieren und Insekten zu teilen, die vorher ihre Beute gewesen waren.
Nach und nach verloren die Nallajimer die Fähigkeit, längere Zeit zu fliegen, und ihre Evolution als Spezies war bereits zu weit fortgeschritten, als daß sich ihre Flügel noch zu Armen hätten entwickeln können oder auch nur eine Aufspaltung der Flügelspitzen in Finger möglich gewesen wäre, die sich für die Herstellung von Werkzeugen oder Waffen geeignet hätten. Doch die große, sinnlose und ständige Bedrohung durch kleine und große Insekten, die über das Land herfielen und es durch ihre bloße Masse beherrschten, so, wie die großen Raubvögel den Aufstieg in die Luft unmöglich machten, rief die kleinen Veränderungen im Knochenbau und an der Schnabelmuskulatur hervor, durch die die Nallajimer letztendlich Intelligenz entwickelten.
Ohne Hände, aber nicht mehr hilflos, waren die MSVKs dazu gezwungen worden, ihren Kopf zu benutzen.
Auf Nallajim waren die Fluginsekten, die in Schwärmen auftraten und ihre Beute zu Tode stachen, gegenüber denjenigen Insekten in der Minderheit, die in Löchern in der Erde lebten und die Eier tief im Körper ihrer schlafenden Opfer ablegten. Die einzige Möglichkeit, diese in der Erde lebenden Insekten aus dem Körper zu entfernen, bestand für die Nallajimer darin, sie mit dem langen, dünnen und äußerst biegsamen Schnabel herauszupicken.
Anfangs nur ein einfaches Mittel, um sich in der Familie oder im Stamm gegenseitig von Schädlingen zu befreien, hatte sich der Schnabel bald so weit entwickelt, daß die MSVKs mit ihm ziemlich komplizierte, vor Insekten geschützte Wohnungen, Werkzeuge, Waffen zum Töten von Insekten, Städte und schließlich Raumschiffe hatten bauen können.
„Seldal arbeitet ja ungeheuer schnell“, staunte Lioren nach einem besonders komplizierten chirurgischen Eingriff voller Bewunderung, „und er erteilt dem OP-Personal außerordentlich wenige Anweisungen.“
„Haben Sie keine Augen im Kopf?“ fragte ihn Tarsedth. „Er braucht gar nicht erst mit dem Personal zu sprechen, weil es sowieso mehr damit beschäftigt ist, dem Patienten beizustehen als dem Chirurgen. Sehen Sie sich nur mal an, mit welcher Geschwindigkeit Seldals Schnabel überall auf den Instrumentenkasten einsticht. In der Zeit, in der er der Schwester die entsprechende Anweisung gegeben hätte und ihm das richtige Instrument in den Schnabel gesteckt worden wäre, kann sich Seldal das Instrument selbst nehmen, den Schnitt durchführen und sich schon auf den nächsten Schritt vorbereiten.
Bei diesem Chirurgen ist es die genaue Auswahl und die richtige Anordnung der Instrumente in den Fächern, die zählt“, fuhr die Kelgianerin fort. „Da gibt es kein Jonglieren mit Klammern und Messern, keine Ablenkungen durch irgendwelche Bemerkungen oder Zwischenlager und keine Wutanfälle, weil irgendeine OP-Schwester zu langsam ist oder wieder mal etwas falsch versteht. Ich glaube, mit diesem flügellahmen Chefarzt würde ich gerne zusammenarbeiten.“
Allmählich entfernte sich das Gespräch von der Operation und ging zu Seldal selbst über, was genau das war, worauf Lioren gehofft hatte. Doch bevor er die Lage ausnutzen konnte, versuchte sich der Hudlarer, der zweifellos ebenfalls ein begeisterter Anhänger nallajimischer Operationskunst war, nützlich zu machen, indem er nun seine Fachkenntnis an den Tag legte.
„Der Eingriff geht sehr schnell vor sich und mag Ihnen verwirrend erscheinen, Lioren“, sagte er, „besonders deshalb, weil Sie, wie Sie uns erzählt haben, bisher über keine chirurgische Erfahrung mit melfanischen ELNTs verfügen. Wie Sie sehen, sind die sechs Gliedmaßen und der gesamte Körper des Patienten von einem Ektoskelett umhüllt. Die lebenswichtigen Organe befinden sich innerhalb dieses Knochenpanzers und sind derart gut geschützt, daß gewaltsame Verletzungen nur selten auftreten, obwohl diese Organe bedauerlicherweise für mehrere Funktionsstörungen anfällig sind, die einen operativen Eingriff erfordern.“
„Langsam klingen Sie schon wie Cresk-Sar“, unterbrach ihn Tarsedth, deren Fell sich zu verärgerten Stacheln aufrichtete.
„Tut mir leid“, entschuldigte sich der Hudlarer. „Ich wollte nur erklären, was Seldal gerade getan hat, und keineswegs unangenehme Erinnerungen an unseren Ausbilder wachrufen.“
„Ach, machen Sie sich deswegen keine Gedanken“, beschwichtigte ihn Lioren. Zwar waren die FROBs von Hudlar körperlich die anerkanntermaßen kräftigste Lebensform in der galaktischen Föderation und besaßen die undurchdringlichste Haut, doch emotional hatten sie ein äußerst dünnes Fell. „Fahren Sie bitte ruhig fort — solange Sie mir hinterher keine Fragen stellen, um zu überprüfen, ob ich auch alles verstanden habe“, fügte er hinzu.
Aus der vibrierenden Sprechmembran des Hudlarers drang ein unübersetzbarer Laut. „Keine Angst, das werde ich nicht. Aber ich hatte gerade zu erklären versucht, weshalb Geschwindigkeit bei der Operation an einem Melfaner so eine große Rolle spielt. Die wichtigen inneren Organe schwimmen zur Dämpfung von Erschütterungen in einer Körperflüssigkeit und sind nur lose mit der Innenseite des Panzers und der Körperunterseite verbunden. Wird diese Flüssigkeit vor der Operation vorübergehend abgelassen, werden die Organe nicht mehr abgestützt und senken sich aufeinander, wodurch sie zusammengedrückt und verformt werden, was unter anderem wiederum die Blutzufuhr einschränkt. Dabei treten bleibende Veränderungen auf, die zum Tod des Patienten führen können, wenn man diesen Zustand länger als ein paar Minuten andauern läßt.“
Mit einer Intensität, die seinen Sinnesapparat wie eine gewaltsame Verletzung erschütterte, verspürte Lioren plötzlich den Wunsch nach dem Unmöglichen, nach seiner jüngsten Vergangenheit, die es ihm, wenn es nicht für ihn zu solch einer tragischen Wendung gekommen wäre, ermöglicht hätte, die Begeisterung dieses Auszubildenden für die Chirurgie fremder Spezies zu teilen, anstatt ein erniedrigendes und wahrscheinlich unergiebiges Interesse für den Verstand eines Chirurgen hegen zu müssen. Der Gedanke, daß dieser Kummer, egal, wie groß er war und wie oft er auch wiederkehren mochte, immer noch sehr viel geringer sein würde, als er ihn wegen seines Verbrechens verdiente, war dabei nur ein geringer Trost.
„Normalerweise braucht man für den operativen Eingriff an einem ELNT ein großes Operationsfeld und viele Assistenten, deren Hauptaufgabe es ist, die nicht mehr in der Flüssigkeit schwimmenden Organe mit speziell geformten Pfannen abzustützen, während der leitende Chirurg die eigentliche Operation durchführt“, fuhr der Hudlarer fort. „Solch ein Eingriff hat den Nachteil, eine unnötig große Öffnung in den Panzer sägen zu müssen, damit die Pfannen unter die Organe geführt werden können. Zudem verläuft die Heilung einer derartigen Wunde nur langsam und hinterläßt manchmal an der Stelle, an dem das Panzerstück vorübergehend entfernt worden war, häßliche Vernarbungen und Verfärbungen. Das wiederum kann beim Patienten zu einem schweren seelischen Trauma führen, da der Panzer, der Reichtum und die Abstufungen seiner Farben und die Besonderheit seiner Muster bei der Partnersuche eine wichtige Rolle spielen. Operiert jedoch ein einzelner Nallajimer, verringert sich durch die höhere Geschwindigkeit des Eingriffs und die kleinere Zugangsöffnung im Panzer sowohl die Größe als auch die Wahrscheinlichkeit einer nach der Operation auftretenden Verunstaltung erheblich.“
„Das ist auch gut so“, merkte Tarsedth an, deren Fell sich vor starkem Mitgefühl kräuselte; denn zu ihrem beweglichen silbernen Fell hatten kelgianische DBLFs die gleiche Einstellung wie melfanische ELNTs zu ihren prächtig gezeichneten Panzern. „Aber schauen Sie sich doch nur mal an,
wie der auf das Operationsfeld einhackt, manchmal mit dem bloßen Schnabel, wie ein astigmatischer Geier!“
Seldals Instrumentenkasten hing direkt hinter dem Operationsfeld senkrecht von oben herab und war somit für den Schnabel des Chirurgen leicht zu erreichen. In jedem Fach steckte ein spezielles Instrument mit einem hohlen, kegelförmigen Griff, der es dem Nallajimer ermöglichte, die obere oder untere Schnabelhälfte oder auch den ganzen Schnabel hineinzustecken und die Instrumente mit verblüffender Schnelligkeit zu nehmen, zu benutzen, zu wechseln oder wieder in das entsprechende Fach zu stecken. Hin und wieder näherte sich Seldal auch nur mit den beiden langen, zylindrischen Linsen dem Operationsfeld, die für die Dauer der Operation vor seine winzigen Augen geschnallt waren und sich fast bis zur Schnabelspitze erstreckten, um die Weitsichtigkeit zu korrigieren, zu der er wie alle vogelartigen Lebensformen neigte. Mit den Krallen an den drei Beinen klammerte er sich an der Stange fest, die am Operationsgestell angebracht war, und um sich zusätzliche Stabilität zu verschaffen, wenn er mit dem Schnabel zustieß, schlug er ständig mit den verkümmerten Stummelflügeln.
„Sowohl die Eier als auch die eierlegenden Insekten, die in früheren Zeiten aus dem Körper der Patienten entfernt werden mußten, sind eßbar, und damals hat man es für richtig gehalten, daß der Chirurg sie gegessen hat“, erklärte der Hudlarer. „Melfanisches Zellgewebe wäre für einen Nallajimer nicht schädlich, und aus der Grundausbildung werden Sie noch wissen, daß keiner der ELNT-Krankheitserreger, die vielleicht darin enthalten sind, ein Lebewesen befallen oder infizieren könnte, das sich auf einem anderen Planeten entwickelt hat. Doch in einem Krankenhaus mit vielfältigen Umweltbedingungen wie dem Orbit Hospital kann der Verzehr von Teilen eines Patienten, wie klein diese Partikel auch sein mögen, auf Zuschauer äußerst abstoßend wirken. Deshalb werden Sie feststellen, daß solche Stellen aus dem Video herausgeschnitten werden, bevor die Aufzeichnung allgemein zugänglich gemacht wird. Ziel der Operation ist die Entfernung von.“
„Was mich trotz der vorhin geschilderten Vorteile, die eine Operation durch einen Nallajimer für einen ELNT hat, überrascht“, fiel ihm Lioren ins Wort, um zu versuchen, das Gespräch wieder von der Operation weg auf den Chirurgen selbst zu lenken, „ist, daß man den Eingriff keinem Chirurgen derselben Spezies, wie zum Beispiel Chefarzt Edanelt, übertragen hat, sondern einer Lebensform, der das erforderliche physiologische Wissen erst durch ein melfanisches Schulungsband vermittelt werden muß, bevor sie.“
„Das wäre ja dasselbe, als würde man von Diagnostiker Conway erwarten, auf alle Operationen an fremden Spezies zu verzichten, bis er die terrestrischen DBDGs im Hospital behandelt hat“, unterbrach ihn Tarsedth. „Seien Sie doch nicht albern, Lioren. Patienten einer fremden Spezies zu operieren ist weit interessanter und spannender als einen Angehörigen der eigenen Art, und je mehr physiologische Unterschiede es gibt, desto größer ist die berufliche Herausforderung. Aber das wissen Sie doch selbst am besten. Schließlich haben Sie auf Cromsag ja auch eine Spezies behandelt, die.“
„Es ist nicht nötig, mich an die Folgen zu erinnern“, schnitt ihr Lioren in scharfem Ton das Wort ab. Obwohl ihm klar war, daß die Kelgianerin nichts dafür konnte, andere aufzuregen, ärgerte er sich. „Ich wollte damit sagen, daß bei Seldal, der im Gegensatz zu einem ELNT einen Schnabel, aber keine Arme hat, keinerlei Anzeichen für geistige Verwirrung zu bemerken sind, obwohl sich sein Verstand zum Teil unter der Kontrolle eines Wesens befindet, das gewohnt ist, sechs Gliedmaßen zu benutzen, mit denen es völlig unterschiedliche Handgriffe ausführen kann. Da muß Seldal doch unter beträchtlichem psychischen und emotionalen Druck stehen, ganz zu schweigen von den Impulsen, die von den nicht willkürlich innervierten Muskeln ausgehen.“
„Das stimmt allerdings“, pflichtete ihm der Hudlarer bei. „Offensichtlich hat er beide Gehirne gut im Griff. Aber ich frage mich, wie ich mich, als jemand der ebenfalls sechs Extremitäten besitzt, umgekehrt fühlen würde, wenn ich ein nallajimisches Band im Kopf speichern müßte. Ich besitze nichts, was auch nur entfernt einem Schnabel ähnelt, ja nicht einmal einen Mund.“
„Vergeuden Sie keine Zeit damit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen“, riet ihm Tarsedth. „Schulungsbänder werden nur dieser lernbegierigen, hochintelligenten und charakterlich gefestigten Sorte von Mitarbeitern angeboten, die zur Beförderung zum Chefarzt oder in eine noch höhere Position in Betracht gezogen werden. Können Sie sich vorstellen, daß einem von uns jemals ein solches Schulungsband angeboten wird, Lioren? Ich meine, so, wie er ständig an unserer Arbeit herumkrittelt, ist das doch wohl eher unwahrscheinlich, oder finden Sie nicht?“
Lioren entgegnete erst einmal nichts darauf. Zwar hatte sich im Orbit Hospital schon viel Merkwürdigeres ereignet — aus den Personalakten ging beispielsweise hervor, daß Thornnastors erste Assistentin, die zur physiologischen Klassifikation DBDG gehörende terrestrische Pathologin Murchison, am Hospital als Lernschwester angefangen hatte — , aber in der psychologischen Abteilung war es strenge Vorschrift, mit Auszubildenden, die für eine langfristige Beförderung ins Auge gefaßt wurden, weder über dieses Thema zu sprechen noch — außer in ganz allgemeinen Worten — irgendwelche Probleme zu erörtern, die mit dem Schulungsbandverfahren zusammenhingen.
Das Hauptproblem, von dem alle anderen Schwierigkeiten herrührten, bestand darin, daß, obwohl das Orbit Hospital die notwendige Ausstattung besaß, jede bekannte intelligente Lebensform zu behandeln, kein einzelnes Wesen auch nur einen Bruchteil der für diesen Zweck benötigten physiologischen Daten hätte im Kopf behalten können. Chirurgisches Geschick war eine Frage der Begabung, der Ausbildung und der Erfahrung, doch sämtliches Wissen über die physiologische Beschaffenheit eines Patienten konnte einzig und allein künstlich durch ein sogenanntes Schulungsband vermittelt werden. Auf einem solchen Band waren die Gehirnströme einer medizinischen Kapazität aufgezeichnet worden, die derselben oder einer ähnlichen Spezies angehörte wie der zu behandelnde Patient.
Wenn zum Beispiel ein melfanischer Arzt einen kelgianischen Patienten zu behandeln hatte, speicherte er ein DBLF-Physiologieband im Gehirn und behielt es so lange bei sich, bis die Behandlung abgeschlossen war. Danach ließ er es wieder löschen. Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel stellten Chefärzte wie Seldal dar, deren Charakterfestigkeit erwiesen war, sowie die Diagnostiker.
Ein Diagnostiker war eines jener seltenen Wesen, dessen Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurden, permanent sechs, sieben und in einem Fall sogar bis zu zehn Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.
Mit einem Schulungsband wurden einem aber nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingeimpft, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und das komplette Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte. Praktisch setzte sich ein Diagnostiker somit freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus. Die fremden Persönlichkeiten, die seinen Geist scheinbar mit ihm teilten, konnten durchaus unangenehme, aggressive Wesen mit allen Arten von Reizbarkeit und Phobien sein — schließlich sind Genies nur selten charmante Persönlichkeiten. Bei der Durchführung einer Operation oder Behandlung machte sich das normalerweise nicht bemerkbar, weil sich sowohl der Diagnostiker als auch der Geist des Bandurhebers auf die rein medizinischen Aspekte der Arbeit konzentrierte. Die schlimmsten Auswirkungen wurden erst spürbar, wenn der Bandbesitzer schlief.
Wie Lioren aus eigener Erfahrung mit einigen wenigen Schulungsbändern wußte, konnten Alpträume von Aliens wirklich entsetzlich alptraumhaft sein. Die sexuellen Phantasien und Wunschträume von Aliens reichten aus, um in demjenigen, der das Band im Kopf gespeichert hatte, den Wunsch hervorzurufen, lieber tot zu sein — falls die betreffende Person überhaupt noch imstande war, einen zusammenhängenden Wunsch zu äußern. Und der körperliche und emotionale Einfluß des Empfindungsvermögens einer riesigen intelligenten Lebensform mit Ektoskelett auf die Psyche und den Verstand eines unglaublich feingledrigen, aber genauso intelligenten vogelähnlichen Wesens konnte Lioren nicht einmal erahnen.
Er beobachte weiterhin den fieberhaft geschäftigen Seldal, während er sich die Redensart ins Gedächtnis zurückrief, die oft vom Hospitalpersonal wiederholt wurde und besagte, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein mußte; ein Ausspruch, der angeblich von O'Mara selbst stammte.
„Seldals Operation am ELNT fasziniert mich“, sagte Lioren, womit er entschlossen zum Gegenstand seiner Untersuchung zurückkehrte. „Er zeigt keinerlei Unschlüssigkeit, macht keine Pausen, um zu überlegen oder alles noch einmal zu überdenken, und bewegt sich nicht übervorsichtig, wie man es sonst bei Chirurgen sieht, die mit einem Schulungsband im Kopf arbeiten. Ist das bei Nallajimern immer so, wenn sie an fremden Speziesangehörigen Operationen vornehmen?“
„Bei allem Respekt, Lioren“, sagte der Hudlarer, „aber könnten Sie bei der Geschwindigkeit, mit der Seldal operiert, überhaupt irgendeine Verlegenheitspause erkennen, wenn er tatsächlich eine einlegen würde? Wir haben ihm schon dabei zugesehen, wie er an einem Terrestrier eine Magenresektion vorgenommen und gleichzeitig irgend etwas mit einer DBLF angestellt hat, das Ihnen besser Tarsedth erklären sollte, weil ich den Fortpfianzungsmechanismus der Kelgianer schwer zu verstehen finde.“
„Sie müssen gerade reden!“ unterbrach ihn Tarsedth mit ungehaltenem Fell. „Jedesmal, wenn eine hudlarische Mutter ein Kind zur Welt bringt, wechselt sie das Geschlecht und wird männlich. Das ist. schlichtweg unanständig!“
„Vermutlich mußte Seldal für die beiden Patienten, von denen ich eben gesprochen habe, nur kurzfristig die Schulungsbänder im Kopf speichern“, fuhr der Hudlarer fort, „aber trotzdem hatte er sich ohne ersichtliche Mühe auf sie eingestellt. Die letzten sechs Wochen ist er vor allem mit Operationen an Tralthanern beschäftigt gewesen, und nach seinen eigenen Worten findet er diese Arbeit äußerst interessant, anregend und angenehm, und sie rangiert auf seiner Beliebtheitsskala gleich nach den chirurgischen Eingriffen an anderen Nallajimern an zweiter Stelle.“
„An anderen Nallajimerinnen, meint er“, warf Tarsedth ein, deren Fell sich mißbilligend oder sogar eifersüchtig kräuselte. „Wissen Sie, daß in den drei Jahren, die Seldal jetzt hier ist, fast jede weibliche MSVK-Auszubildende mit ihm angebändelt hat? Was die an so einem dürren Federgewicht finden, ist mir völlig unbegreiflich.“
„Funktioniert mein Translator nicht richtig oder soll das heißen, daß Seldal mit einigen Auszubildenden über seine Probleme mit den Schulungsbändern diskutiert hat? Oder was meinen Sie damit, daß fast jede Auszubildende mit ihm ̃̄„angebändelt“ hat?“ fragte Lioren, wobei er versuchte, seine Aufregung darüber zu verbergen, von diesem neuen und womöglich nützlichen Umstand erfahren zu haben.
„Die Diskussionen selbst waren wahrscheinlich immer nur zweitrangig“, antwortete der Hudlarer rasch, bevor Tarsedth etwas sagen konnte, „und haben sich wohl eher um persönliche Vorlieben als um Probleme gedreht. Jedenfalls ist Seldal für einen Chefarzt sehr zugänglich, und normalerweise bittet er nach der Operation jeden, der von der Zuschauergalerie aus zugesehen hat, um Fragen. Heute morgen ist dafür leider keine Zeit gewesen, sonst hätten Sie ihm selbst Fragen stellen können.
Und was Seldals Liebesleben angeht, das in den letzten Wochen anscheinend weniger auffällig geworden ist, so ist mein Interesse dafür bestenfalls akademisch“, fuhr er fort, indem er sich schwerfällig zur Seite wandte, um auch Tarsedth in das Gespräch einzubeziehen. „Doch selbst bei meiner eigenen Spezies ist es nichts Ungewöhnliches, wenn sich FROBs, die gerade zum weiblichen Geschlecht gehören, von männlichen Hudlarern angezogen fühlen, die eine genauso schüchterne und zurückhaltende Persönlichkeit haben wie Seldal. Solche Wesen sind häufig sensibler, zurückhaltender und als Liebhaber einfach interessanter.“
Er wandte sich wieder Lioren zu und fuhr fort: „Um eine Redensart von einem unserer Klassenkameraden abzuändern, die auf Betätigungen zu passen scheint, die mit der Fortpflanzung innerhalb einer Spezies zusammenhängen: ̃̄„Wer nicht wagt, der gewinnt auch manchmal:.“
„Er spricht von Hadley, einem terrestrischen Auszubildenden“, erläuterte Tarsedth. „Der soll mal in einem Wartungstunnel verschwunden sein, und zwar mit.“
Von diesem Gerücht speziell war Lioren bisher noch nichts zu Ohren gekommen, da man wahrscheinlich von dem Vorfall offiziell keine Notiz genommen hatte oder das Nachrichtensystem für den Hospitalklatsch an dem Tag mit noch skandalöseren Neuigkeiten überlastet gewesen war. Der Geschichte von Hadleys Fehlverhalten folgten weitere, von denen bereits viele als aktualisierende Nachträge zur entsprechenden psychologischen Akte den Weg in Liorens Abteilung gefunden hatten; wenn auch in einer weit weniger unterhaltenden Form und — bedauerlicherweise — frei von Tarsedths schöpferischen Übertreibungen. Um das Gespräch wieder auf den nallajimischen Chefarzt zu bringen und weitere Abschweifungen zu verhindern, sah er sich allmählich gezwungen, sich aller sprachlichen Tricks zu bedienen, die ihm einfielen. Dabei fand Lioren viel Interessantes über Seldals Verhalten sowie über dessen Persönlichkeit und Interessen heraus. Das waren Informationen, die er sich aus der Akte des Chefarztes nicht hätte verschaffen können. Was seinen Auftrag betraf, so verlief dieser Abend sehr einträglich und, wie er mit zunehmenden Schuldgefühlen dachte, auch sehr vergnüglich.