10. Kapitel

Als am folgenden Morgen Liorens Arbeitstag schon so weit fortgeschritten war, daß sich sein Verdauungstrakt bereits über Beschäftigungslosigkeit zu beklagen begann, trat Braithwaite langsam und bedächtig an den Schreibtisch des Tarlaners heran. Mit seinen wabbeligen, rosa Handflächen nach unten stützte er sich auf einer Stelle der Schreibtischplatte ab, die nicht völlig überfüllt war, winkelte dabei die Arme mit den Ellbogen nach außen an, so daß sich sein Kopf nahe Liorens befand, und sagte leise: „Sie haben jetzt seit mehr als vier Stunden kein einziges Wort gesprochen. Ist was?“

Darüber verärgert, daß ihm der Terrestrier unaufgefordert so nah auf die Pelle gerückt war und bei früheren Gelegenheiten mehrmals an ihm kritisiert hatte, zu viel zu reden, lehnte sich Lioren zurück. Obwohl Braithwaite besorgt war und nur versuchte, hilfsbereit zu sein, hätte es der Tarlaner lieber gesehen, wenn das Verhalten seines unmittelbaren Vorgesetzten nicht so wechselhaft gewesen wäre. Es gab sogar Momente, in denen er es bei weitem vorzog, wenn O'Mara an ihn herantrat, zumal der Chefpsychologe wenigstens durchweg gehässig war.

Am Nebentisch tat Cha Thrat so, als hörte sie nicht zu, indem sie sich noch stärker auf ihren Bildschirm konzentrierte. Aus irgendeinem Grund waren die Probleme, mit denen sich Lioren durch seinen Auftrag konfrontiert sah, sowie einige der Lösungen, die er vorgeschlagen hatte, in den vergangenen Tagen Anlaß für beträchtliche Belustigung gewesen, doch diesmal sollten Braithwaite und die Sommaradvanerin eine Enttäuschung erleben.

„Ich bin die ganze Zeit so schweigsam gewesen, weil ich mich darauf konzentriert habe, die Routinearbeiten zu erledigen, damit mir mehr Zeit für Seldal zur Verfügung steht“, antwortete Lioren. „Ein spezielles Problem habe ich nicht, mich entmutigt nur, daß ich in keiner Richtung irgendwelche Fortschritte erziele.“

Braithwaite nahm die Hände vom Schreibtisch, richtete sich auf und fragte mit entblößten Zähnen: „In welcher Hinsicht kommen Sie denn am wenigsten voran?“

Mit zwei seiner mittleren Glieder machte Lioren eine ungeduldige Geste. „Negative Fortschritte zu messen ist schwierig“, antwortete er. „In den vergangenen Tagen habe ich Seldal bei größeren Operationen beobachtet und mit anderen Zuschauern Gespräche über sein Verhalten geführt, in deren Verlauf sich Informationen ergeben haben, die aus seiner psychologischen Akte nicht hervorgegangen sind. Allerdings beruhen diese Neuigkeiten auf unbestätigten Gerüchten und entsprechen vielleicht nicht ganz den Tatsachen. Bei seinen medizinischen Untergebenen ist Seldal äußerst geachtet und beliebt. Diese Beliebtheit scheint er jedoch nicht bewußt angestrebt, sondern sich eher verdient zu haben. Ich kann an Seldal einfach nichts Unnormales feststellen.“

„Aber offenbar ist das nicht Ihre endgültige Schlußfolgerung, denn sonst würden Sie ja nicht versuchen, sich mehr Zeit für die weitere Untersuchung zu verschaffen“, meinte Braithwaite. „Wie beabsichtigen Sie denn diese Zeit zu verbringen?“

Lioren dachte kurz nach und entgegnete dann: „Da es nicht für immer und ewig möglich sein wird, Zuschauer bei den Operationen oder Seldals OP-Personal auszuhorchen, ohne die Gründe für meine Fragen zu verraten, werde ich mich an.“

„Nein!“ fiel ihm Braithwaite in scharfem Ton ins Wort, wobei sich die buschigen Halbmonde in seinem Gesicht so weit senkten, daß sie fast die Augen verdeckten. „Seldal selbst dürfen Sie auf keinen Fall direkt fragen. Sollten Sie irgendeine Unstimmigkeit entdecken, berichten Sie O'Mara davon, und erwähnen Sie sie Seldal gegenüber mit keinem Wort. Denken Sie bitte stets daran.“

„Was das letztemal passiert ist, als ich die Initiative ergriffen habe, werde ich wohl kaum vergessen können“, erwiderte Lioren leise.

Einen Augenblick lang waren Cha Thrat und Braithwaite wie erstarrt und sagten keinen Ton, aber das Gesicht des Terrestriers hatte eine deutlich dunklere Farbe angenommen.

„Ich wollte eben sagen, daß ich mich an Seldals Patienten wenden muß, und zwar diskret“, fuhr Lioren fort. „Durch belanglose Plaudereien mit ihnen erfahre ich vielleicht, ob an Seldals Verhalten bei seinen Visiten vor und nach den Operationen irgendwelche ungewöhnlichen Veränderungen stattgefunden haben. Dafür brauche ich eine Liste der Patienten, die Seldal operiert hat, und Angaben darüber, auf welchen Stationen sie gegenwärtig liegen. Außerdem muß ich wissen, zu welchen Zeiten er seine Rundgänge durch die Stationen macht, damit ich mit den Patienten sprechen kann, ohne Seldal persönlich zu begegnen. Um Gerede beim Personal der betreffenden Stationen zu vermeiden, wäre es besser, wenn nicht ich, sondern jemand anders um diese Auskünfte bitten würde.“

Braithwaite nickte. „Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Aber unter welchem Vorwand wollen Sie mit diesen Patienten sprechen, noch dazu über Seldal?“

„Als Grund für meinen Besuch werde ich den Patienten gegenüber angeben, daß ich mich nach Anmerkungen oder eventueller Kritik zum Ambiente der verschiedenen Genesungsstationen erkundigen möchte, da die Umgebung einen wichtigen nichtmedizinischen Beitrag zur Genesung leiste und die Abteilung derartige Kontrollen von Zeit zu Zeit durchführe“, antwortete Lioren. „Nach ihrem Gesundheitszustand und ihrem Chirurgen werde ich die Patienten gar nicht fragen. Aber ich habe keine Zweifel, daß beide Themen ganz automatisch zur Sprache kommen, und dann werde ich, während ich mich völlig desinteressiert gebe, so viele Informationen wie möglich sammeln.“

„Eine glänzend inszenierte, ausgeklügelte und gut kaschierte Beschwörung“, lobte ihn Cha Thrat, bevor Braithwaite etwas sagen konnte. „Kompliment, Lioren. Schon jetzt zeigen Sie erste Ansätze, mal ein großer Zauberer zu werden.“

Braithwaite nickte erneut. „Sie scheinen alle Eventualitäten bedacht zu haben. Gibt es noch weitere Informationen oder Hilfsmittel, die Sie benötigen?“

„Im Moment nicht“, antwortete Lioren.

Ganz ehrlich war er nicht, denn er wäre gern über Cha Thrats Kompliment aufgeklärt worden, das für einen hochqualifizierten ehemaligen Arzt wie ihn an eine Beleidigung gegrenzt hatte. Vielleicht bedeuteten ̃̄„Beschwörung“ und ̃̄„Zauberer“ — Begriffe, die Cha Thrat häufig benutzte — auf Sommaradva etwas anderes als auf Tarla. Doch hatte es ganz den Anschein, daß seine Neugier schon bald befriedigt werden sollte, denn die Sommaradvanerin wollte es sich nicht nehmen lassen, einem tarlanischen Zauberlehrling bei der Arbeit zuzusehen.

Den ersten Patienten hatte Lioren gezwungenermaßen ausgewählt, weil für die anderen beiden gerade die angeordnete Schlafenszeit begonnen hatte und Mitarbeiter der psychologischen Abteilung nicht befugt waren, sich in laufende medizinische Behandlungen einzumischen, wozu auch gehörte, nicht den Schlaf eines Patienten zu stören. Von den vier Kranken, die ihm Braithwaite aufgelistet hatte, versprach das Gespräch mit diesem Patienten das schwierigste und kitzligste zu werden.

„Sind Sie sich wirklich sicher, daß Sie sich mit dem hier unterhalten wollen, Lioren?“ fragte Cha Thrat mit den leichten Bewegungen der oberen Gliedmaßen, die, wie Lioren gehört hatte, große Besorgnis ausdrückten. „Das ist ein äußerst heikler Fall.“

Lioren antwortete nicht sofort. Auf jedem bewohnten Planeten der Föderation war es eine Binsenwahrheit, daß Ärzte die schlechtesten Patienten abgaben. Dieser hier war nicht nur ein Arzt von bestem fachlichen Ruf, obendrein würde das Gespräch mit großer Vorsicht geführt werden müssen, weil der Patient Mannon unheilbar krank war.

„Für Zeitvergeudung habe ich nichts übrig, und eine Gelegenheit lasse ich mir genauso ungern entgehen“, erwiderte Lioren schließlich.

„Heute vormittag haben Sie Braithwaite noch gesagt, daß Sie Ihre Lektion gelernt hätten, was das voreilige Ergreifen von Initiative betrifft“, gab Cha Thrat zu bedenken. „Bei allem Respekt, Lioren, am Vorfall auf Cromsag waren in erster Linie Ihre Ungeduld und Ihre Weigerung, Zeit zu verlieren, schuld.“ Lioren antwortete nicht.

Mannon war ein terrestrischer DBDG, der sich für seine vergleichsweise kurzlebige Spezies in einem fortgeschrittenen Alter befand. Er war ans Orbit Hospital gekommen, nachdem er seine Ausbildung an einem der führenden medizinischen Lehrinstitute seines Heimatplaneten mit den höchsten Auszeichnungen abgeschlossen hatte. Rasch war er erst zum Chefarzt und wenige Jahre später zum Chefausbilder befördert worden, zu dessen Schülern solch illustre Mitarbeiter wie Conway, Prilicla und Edanelt gehört hatten, die heute in der medizinischen Hierarchie ganz oben standen, bevor er diese Stellung wegen seiner Beförderung zum Diagnostiker Cresk-Sar hatte überlassen müssen. Schließlich war unvermeidlicherweise die Zeit gekommen, wo die fortschrittlichsten medizinischen und mechanischen Hilfsmittel des Hospitals sein Leben nicht mehr verlängern konnten, auch wenn sein Verstand so scharfsinnig und klar wie der eines jungen Erwachsenen geblieben war.

Der ehemalige Diagnostiker und augenblickliche Patient Mannon lag mit Biosensoren, die seine Körperfunktionen überwachten, aber auf eigenen Wunsch ohne die üblichen Lebenserhaltungsmechanismen in einem Privatzimmer abseits der medizinischen Hauptstation für DBDGs. Sein Gesundheitszustand war beinahe kritisch, aber stabil, und als Lioren und Cha Thrat das Zimmer betreten hatten, waren seine Augen geschlossen geblieben, was darauf hindeutete, daß er entweder bewußtlos war oder schlief. Daß sie den Patienten unbeaufsichtigt antrafen, hatte Lioren zunächst gleichzeitig gefreut und überrascht, denn die Terrestrier wurden zu jenen intelligenten Spezies gezählt, die sich gern im Kreis der Familie oder unter Freunden befinden, wenn ihr Leben zu Ende geht. Doch seine Überraschung hatte sich gelegt, als ihnen von der Oberschwester der Station mitgeteilt worden war, daß sich zahlreiche Besucher beim Patienten aufgehalten hätten, die erst wenige Augenblicke vor Liorens und Cha Thrats Ankunft gegangen oder fortgeschickt worden seien.

„Lassen Sie uns gehen, bevor er aufwacht“, drängte Cha Thrat sehr leise. „Der Vorwand für Ihren Besuch, ihn zu fragen, ob er mit der Atmosphäre des Zimmers zufrieden sei, ist unter diesen Umständen nicht nur albern, sondern auch gefühllos. Außerdem kriegt es nicht mal O'Mara hin, einen Bewußtlosen zu beschwören.“

Einen Moment lang betrachtete Lioren die Bildschirme, aber er konnte sich nicht mehr an die vor so langer Zeit gelernten Meßwerte der Lebensvorgänge bei Terrestriern erinnern. Dieses Zimmer war ein sehr ruhiger und ungestörter Ort, der sich nach seinem Dafürhalten dazu eignete, persönliche Fragen zu stellen.

„Cha Thrat, was genau meinen Sie mit ̃̄„beschwören“?“ erkundigte er sich leise.

Es handelte sich um eine einfache Frage, für die eine lange und komplizierte Antwort erforderlich war, die von Cha Thrat nicht gerade dadurch verkürzt oder vereinfacht wurde, indem sie alle paar Minuten innehielt, um einen beunruhigten Blick auf den Patienten zu werfen.

Die sommaradvanische Zivilisation gliederte sich in drei verschiedene gesellschaftliche Klassen — Sklaven, Krieger und Herrscher — , und die medizinische Zunft, die für ihr Wohlergehen verantwortlich war, teilte sich genauso auf.

Auf der untersten Stufe befanden sich die Sklaven, Sommaradvaner, die nicht nach Beförderung streben wollten. Ihre Arbeit stellte keine großen Anforderungen, hatte immer die gleichen Abläufe und war vollkommen ungefährlich, weil die Sklaven im täglichen Leben vor schweren körperlichen Schäden geschützt waren. Bei den für ihre gesundheitliche Versorgung verantwortlichen Heilern handelte es sich um Ärzte, die rein medizinische Behandlungsmethoden anwandten. Die zweite Klasse, bei weitem nicht so groß wie die der Sklaven, bildeten die Krieger, die höchst verantwortungsvolle Positionen bekleideten und in der Vergangenheit häufig beträchtlichen körperlichen Gefahren ausgesetzt gewesen waren.

Zwar hatte es seit vielen Generationen keinen Krieg mehr auf Sommaradva gegeben, aber die Krieger hatten trotzdem ihre Bezeichnung beibehalten, weil sie die Nachfahren der Sommaradvaner waren, die gekämpft hatten, um ihre Heimatländer zu schützen. Sie lebten damals von der Jagd und errichteten Verteidigungsanlagen, während sich um ihre körperlichen Bedürfnisse die Sklaven kümmerten. Heutzutage waren die Angehörigen dieser Klasse Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler, die nach wie vor die lebensgefährlichen Arbeiten leisteten oder die Aufgaben mit dem höchsten Prestigewert erfüllten, zu denen auch das Schützen der Herrscher gehörte. Aus diesem Grund lag es in der Natur der Sache, daß die Verletzungen der Krieger normalerweise durch Gewalteinwirkung zustande gekommen waren und eher chirurgische Eingriffe als medizinische Behandlungen erforderlich machten. Und diese Aufgabe fiel in den Verantwortungsbereich der Chirurgen für Krieger. An der Spitze der medizinischen Hierarchie von Sommaradva standen die Heiler für Herrscher, die eine noch größere Verantwortung trugen, die ihnen aber zuweilen viel weniger Belohnung oder Befriedigung einbrachte.

Gegen sämtliche Unfälle und Verletzungen geschützt, stellte die Klasse der Herrscher die Administratoren, Akademiker, Forscher und Planer auf Sommaradva. Sie waren diejenigen, die mit der reibungslosen Führung der Städte, Kontinente und des gesamten Planeten betraut waren, und die Krankheiten, von denen sie befallen wurden, entsprangen ausnahmslos Trugbildern ihrer Phantasie. Ihre Heiler beschäftigten sich ausschließlich mit Zauberei, Beschwörungen, Wunderheilung und all den anderen Seiten nichtnaturwissenschaftlicher Medizin.

„Natürlich ist es mit den sozialen und wissenschaftlichen Fortschritten unserer Zivilisation zu einer zunehmenden Überschneidung der Verantwortungsbereiche gekommen“, fuhr Cha Thrat fort. „Hin und wieder brechen sich Sklaven eine Gliedmaße. Manchmal bedroht auch der psychische Stress, in den ein Sklave gerät, der für die Prüfung lernt, die er zur Beförderung innerhalb seiner Klasse oder zum Aufstieg in eine höhere Klasse ablegen muß, seine geistige Gesundheit, oder ein Herrscher bekommt eine simple Magenverstimmung. All das sind Fälle, die eine Behandlung durch Heiler erforderlich machen, die eigentlich für eine andere gesellschaftliche Klasse zuständig sind.

Schon seit frühester Zeit sind unsere Heiler in die drei Kategorien Ärzte, Chirurgen und Zauberer unterteilt“, schloß Cha Thrat.

„Danke“, sagte Lioren. „Jetzt verstehe ich. Meine Verständnisschwierigkeiten haben lediglich auf einer gewissen Verwirrung bezüglich der Wortbedeutungen und einer zu wörtlichen Übersetzung beruht. Für Sie beschreibt der Begriff ̃̄„Beschwörung“ eine Psychotherapie, die kurz und einfach oder langwierig und kompliziert sein kann, und bei dem dafür verantwortlichen ̃̄„Zauberer“ handelt es sich nach Ihrem Verständnis um einen Psychologen, der.“

„Nein, es handelt sich eben nicht um einen Psychologen!“ widersprach Cha Thrat in scharfem Ton; dann fiel ihr wieder der Patient ein, und mit gesenkter Stimme fuhr sie fort:

„Jeder Nicht-Sommaradvaner, den ich kennengelernt habe, begeht den gleichen Fehler. Auf meinem Heimatplaneten ist ein Psychologe ein Wesen von niedrigem gesellschaftlichen Rang, das sich um wissenschaftliche Erkenntnisse bemüht, indem es durch körperliche und seelische Anspannung hervorgerufene Gehirnströme oder Veränderungen im Körper mißt oder eingehende Beobachtungen bezüglich des nachfolgenden Verhaltens des Betreffenden anstellt. Ein Psychologe versucht, auf dem Gebiet der Alpträume und wechselnden subjektiven Realitäten unumstößliche Gesetze aufzustellen und aus dem eine Wissenschaft zu machen, was schon immer eine Kunst gewesen ist, und zwar eine ausschließlich von Zauberern ausgeübte Kunst.

Ein Zauberer hingegen kann sich für seine Beschwörungen die Hilfsmittel und tabellarischen Aufstellungen des Psychologen zunutze machen, um die komplizierten, unstofflichen Strukturen des Bewußtseins zu beeinflussen, muß es aber nicht unbedingt“, fuhr die Sommaradvanerin fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Ein Zauberer wendet Worte, Schweigen, sehr genaue Beobachtungen und — am allerwichtigsten — die eigene Intuition an, um die anormale subjektive Wirklichkeit des Patienten zum Vorschein zu bringen und sie der objektiven Wirklichkeit schrittweise anzupassen. Zwischen einem bloßen Psychologen und einem Zauberer besteht ein Riesenunterschied.“

Cha Thrats Stimme war im Verlauf ihrer Erklärungen wieder lauter geworden, doch die Sensoren zeigten beim Patienten keine Veränderung des Zustands an.

Lioren leuchtete ein, daß sich der Sommaradvanerin nur wenig Gelegenheit bot, ungehindert über ihren Heimatplaneten und die wenigen Freunde zu sprechen, die sie dort zurückgelassen hatte, oder ihren Gefühlen über die Intoleranz ihrer gleichrangigen Berufskollegen Luft zu machen, durch die sie gezwungen worden war, ans Orbit Hospital zu kommen. Cha Thrat fuhr fort, ausführlich von den Irrungen und Wirrungen zu erzählen, die durch ihr außerordentlich strenges Berufsethos überall im Hospital verursacht worden waren, bis sie schließlich vom Zauberer O'Mara gerettet worden war, und verschwieg dabei auch ihre persönlichen Gefühle und Reaktionen auf all diese Vorfälle nicht. Ganz offensichtlich wollte Cha Thrat über sich selbst reden — und mußte es vielleicht sogar dringend.

Aber Vertrauen erweckt Vertrauen, und langsam fragte sich Lioren, ob er, wo er als einziges Mitglied der tarlanischen Spezies beim Hospitalpersonal schon einmal dabei war, sich so offen mit der einzigen sommaradvanischen Mitarbeiterin zu unterhalten, nicht dasselbe Bedürfnis verspürte. Nach und nach entwickelte sich ein beiderseitiger Gedankenaustausch, in dem die Fragen und Antworten in der Tat sehr persönlich wurden.

Lioren ertappte sich dabei, wie er Cha Thrat von seinen Empfindungen während und nach dem Vorfall auf Cromsag berichtete, von seinen Schuldgefühlen, die unglaublich und unbeschreiblich schrecklich gewesen waren, und von seiner hilflosen Wut auf den Monitorkorps und O'Mara, weil sie ihm den voll und ganz verdienten Tod verweigert und ihn statt dessen zur allergrößten Grausamkeit des Lebens verurteilt hatten.

An diesem Punkt lenkte Cha Thrat, die seine wachsende emotionale Anspannung gespürt haben mußte, das Gespräch zielstrebig auf O'Mara und die Gründe des obersten Zauberers, sie und Lioren in die psychologische Abteilung aufzunehmen, und von dort aus weiter auf die Aufgabe, die Lioren in der Hoffnung hierhergeführt hatte, Auskünfte von einem Patienten einzuholen, der zweifellos nicht in der Verfassung war, diese zu erteilen.

Sie unterhielten sich immer noch über Seldal und fragten sich gerade laut, ob es nicht besser wäre, am nächsten Tag noch einmal einen Versuch zu unternehmen, mit Mannon zu sprechen, falls er noch so lange leben sollte, als der vermeintlich bewußtlose Patient die Augen aufschlug und die beiden ansah.

„Ich, das heißt, wir möchten uns entschuldigen, Sir“, sagte Cha Thrat schnell. „Wir hatten angenommen, Sie seien bewußtlos, weil Sie seit unserer Ankunft mit geschlossenen Augen dagelegen und die Biosensoren keine Veränderung angezeigt haben. Ich kann nur vermuten, daß Sie unseren Irrtum bemerkt haben und, weil sich unser Gespräch um vertrauliche Dinge gedreht hat, aus Höflichkeit weiterhin so getan haben, als würden Sie schlafen, um uns nicht in große Verlegenheit zu bringen.“ Langsam bewegte sich Mannons Kopf von einer Seite zur anderen, eine Geste, die bei Terrestriern ̃̄„nein“ bedeutete, und es schien, als wären die Augen, mit denen er sie von unten musterte, auf irgendeine medizinisch unerklärliche Weise jünger als die unglaublich runzligen Züge und der von der Zeit schwer gezeichnete Körper. Als er sprach, klangen seine Worte wie das Flüstern des Winds in hochwüchsigen Pflanzen; durch die Anstrengung beim Sprechen wurden sie zudem gebremst.

„Eine weitere. falsche Vermutung“, sagte er. „Ich bin. nie höfich.“

„Höflichkeit verdienen wir auch gar nicht, Diagnostiker Mannon“, rügte sich Lioren selbst, indem er seine Stimme und Gedanken aus einem großen, tiefen Meer der Verlegenheit an die Oberfläche zerrte. „Ich allein bin für diesen Besuch verantwortlich, und die Schuld dafür liegt ganz und gar bei mir. Der Grund für unser Kommen scheint mir nicht mehr einleuchtend zu sein, deshalb werden wir sofort gehen. Nochmals Entschuldigung.“

Eine der dürren, abgezehrten Hände, die neben der Bettdecke lagen, zuckte schwach, als hätte der Terrestrier sie, wenn die Armmuskulatur kräftig genug gewesen wäre, erhoben, um wortlos um Ruhe zu bitten. Lioren schwieg.

„Ich weiß, warum. Sie gekommen sind“, sagte Mannon mit einer Stimme, die kaum laut genug war, um die paar Zentimeter bis zum Translator neben dem Bett zurückzulegen. „Ich habe alles. gehört, was Sie. über Seldal und. sich selbst. gesagt haben. Das war sehr interessant. Aber die Anstrengung, die. es mich. gekostet hat, Ihnen. fast zwei Stunden lang. zuzuhören, hat mich. erschöpft, und bald wird mein Schlaf. nicht mehr bloß Verstellung sein. Sie müssen jetzt gehen.“

„Sofort, Sir“, sagte Lioren.

„Und falls Sie. wiederkommen möchten, suchen Sie sich eine. bessere Zeit dafür aus“, fuhr Mannon fort, „denn ich möchte Ihnen nicht nur zuhören, sondern. auch Fragen stellen. Aber warten Sie nicht. zu lange mit Ihrem Besuch.“

„Ich verstehe“, sagte Lioren. „Ich werde schon sehr bald wiederkommen.“

„Vielleicht kann ich Ihnen. bei der Sache mit Seldal helfen, und als Gegenleistung. können Sie mir von Cromsag erzählen. und mir noch einen anderen kleinen Gefallen tun.“

Der Terrestrier Mannon war viele Jahre lang Diagnostiker gewesen. Seine Hilfe und sein Verständnis für das Problem mit Seldal wären unschätzbar, weil er sie vor allem bereitwillig leisten würde und Lioren keine Zeit damit zu vergeuden brauchte, die Gründe für seine Fragen zu verheimlichen. Aber der Tarlaner wußte auch, daß der Preis, den er selbst für diese Hilfe zu bezahlen hätte, nämlich als Gegenleistung von den Ereignissen auf Cromsag zu erzählen, höher wäre, als es dem Patienten klar war.

Bevor Lioren darauf etwas erwidern konnte, verzogen sich Mannons Lippen und Gesichtszüge langsam zu der eigenartigen terrestrischen Grimasse, die manchmal entweder eine Reaktion auf etwas Witziges oder der stumme Ausdruck von Freundschaft oder Zuneigung sein konnte. „Und ich dachte, ich hätte Probleme“, seufzte Mannon.

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