18. Kapitel

Er traf Chefarzt Prilicla in der Kantine an, der mit seinen zwei langsam schlagenden schimmernden Flügelpaaren ruhig über der Tischplatte schwebte, während er eine gelbliche, fadenartige Substanz zu sich nahm, die auf dem Speisekartendisplay als terrestrische Spaghetti ausgewiesen wurde. Die Art und Weise, auf die der kleine Empath die Fäden vom Teller zog und seine zierlichen vorderen Greiforgane einsetzte, um sie zu einem feinen fortlaufenden Strang zusammenzuflechten, der langsam in seiner Eßöffnung verschwand, bot einen der faszinierendsten Anblicke, die Lioren jemals gesehen hatte.

Er wollte sich gerade dafür entschuldigen, Prilicla beim Essen zu stören, als er feststellte, daß aus einer anderen Öffnung des Empathen die melodischen, rollenden Schnalzlaute der cinrusskischen Sprache kamen.

„Freund Lioren“, begrüßte ihn Prilicla. „Wie ich spüren kann, haben Sie keinen Hunger und sind nicht einmal von meiner ungewöhnlichen Methode, im Fliegen zu essen, abgestoßen. Das bei Ihnen vorherrschende Gefühl, das wahrscheinlich auch die Ursache ist, weshalb Sie an mich herantreten, ist Neugier. Wie kann ich diese stillen?“

Bei cinrusskischen GLNOs handelte es sich um für Emotionen empfängliche Empathen, die gezwungen waren, mit allem, was in ihrer Macht stand, sicherzustellen, die emotionale Ausstrahlung der Wesen in ihrer näheren Umgebung so angenehm wie möglich zu gestalten, da sie ansonsten unter denselben unerfreulichen Gefühlen zu leiden gehabt hätten, die durch beispielsweise unfreundliches Verhalten bei den anderen Wesen verursacht worden wären. Folglich waren die Cinrussker in Worten und Taten stets freundlich und hilfsbereit. Priliclas Hinweis, daß es unnötig sei, Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu vergeuden, erleichterte Lioren trotzdem, und er war dem Cinrussker dafür dankbar.

„Ich bin auf Ihre empathischen Fähigkeiten schon sehr gespannt und insbesondere auf deren Ähnlichkeiten mit uneingeschränkter Telepathie“,

sagte er. „Dabei gilt mein spezielles Interesse den organischen Strukturen, den Nervenverbindungen, der Blutversorgung und den Funktionsmechanismen eines organischen Senders und Empfängers sowie den medizinischen Symptomen und den subjektiven Eindrücken des Telepathen, wenn diese Fähigkeiten versagen. Falls es gestattet ist, würde ich gern alle Telepathen befragen, die es beim Hospitalpersonal oder unter den Patienten gibt, oder auch Lebewesen wie Sie, die nicht ausschließlich auf die akustische Verständigung angewiesen sind. Bei dieser Angelegenheit handelt es sich eher um eine Art Privatvorhaben, und es fällt mir sehr schwer, mir Informationen zu diesem Thema zu beschaffen.“

„Das liegt daran, daß die vorhandenen Informationen spärlich und bisher zu spekulativ sind, um sie in die medizinische Bibliothek aufzunehmen“, erklärte ihm Prilicla. „Aber beruhigen Sie sich bitte, mein Freund. Die wachsende Besorgnis, die Sie empfinden, läßt darauf schließen, daß Sie Angst haben, andere könnten etwas von Ihrem Privatvorhaben erfahren. Ich versichere Ihnen, das wird meinerseits nicht ohne Ihre vorherige Erlaubnis geschehen. Aha, Sie fühlen sich bereits besser und ich mich natürlich auch. Jetzt werde ich Ihnen das wenige erzählen, das bekannt ist.“

Der scheinbar endlose Spaghettistrang verschwand, und der Teller war bereits in den Rückgabeschlitz gewandert, als der Cinrussker federleicht auf dem Tisch landete.

„Fliegen regt die Verdauung an“, sagte er. „Zunächst einmal sind Telepathie und Empathie zwei grundlegend verschiedene Fähigkeiten, mein Freund, obwohl ein Empath hin und wieder den Eindruck eines Telepathen erwecken kann, wenn die emotionale Ausstrahlung seines Gegenübers durch Äußerungen und Verhaltensweisen des betreffenden Wesens untermauert wird und der Empath selbst über einiges Hintergrundwissen verfügt. Im Gegensatz zur Telepathie handelt es sich bei der Empathie um keine seltene Fähigkeit. Die meisten intelligenten Spezies besitzen sie bis zu einem gewissen Grad, sonst hätten sie sich nie bis zur Zivilisation weiterentwickeln können. Viele glauben, über telepathische Fähigkeiten hätten zunächst alle Spezies verfügt, und erst mit der Entwicklung der genaueren gesprochenen und visuell reproduzierbaren Sprache seien diese Fähigkeiten in Vergessenheit geraten oder verkümmert. Uneingeschränkte Telepathie ist selten, und der telepathische Kontakt zwischen verschiedenen Spezies kommt so gut wie nie vor. Haben Sie schon einmal Erfahrung mit solch einer geistigen Verbindung gemacht?“

„Davon habe ich jedenfalls bislang noch nie etwas gemerkt“, antwortete Lioren.

„Gut, wenn dies nämlich der Fall gewesen wäre, hätten Sie bestimmt etwas davon gemerkt“, versicherte ihm der Empath.

Wie Lioren Priliclas weiteren Ausführungen entnehmen konnte, war uneingeschränkte Telepathie normalerweise nur zwischen Mitgliedern derselben Spezies möglich. Versuchte ein Telepath mit einem Nichttelepathen in Verbindung zu treten, hätte man die Stimulation der beim letzteren seit langem schlummernden Fähigkeit als Versuch eines Nachrichtenaustauschs zwischen zwei organischen Sendern und Empfängern beschreiben können, die schlichtweg nicht zusammenpaßten. Am Anfang waren die subjektiven Eindrücke des Nichttelepathen alles andere als angenehm.

Momentan befanden sich Vertreter dreier telepathischer Spezies im Hospital, die allesamt zu den Patienten zählten. Die Lebensform namens ̃̄„Telfi“ gehörte zur physiologischen Klassifikation VTXM. Bei ihr handelte es sich um eine Spezies mit käferähnlichem Körper, die sich durch die direkte Umwandlung harter Strahlung ernährte und bei der die Artgenossen ihre Gehirne zu einem Gruppenverstand zusammenschlossen. Obwohl die einzelnen VTXMs ziemlich dumm waren, verfügten die zu einer Einheit, der sogenannten Gestalt, zusammengeschlossenen Individuen über eine hohe Intelligenz. Den extrem heißen Metabolismus dieser Spezies eingehend zu untersuchen, bedeutete, den Tod durch Strahlenschäden zu riskieren.

Der Zugang zu den übrigen telepathischen Lebensformen war eingeschränkt. Bei ihnen handelte es sich um die gogleskanische Ärztin Khone und ihren jüngsten Nachkommen sowie um zwei Beschützer von Ungeborenen, die sich alle zur medizinischen und psychologischen Untersuchung durch Diagnostiker Conway, Chefpsychologe O'Mara und Prilicla selbst am Orbit Hospital aufhielten.

„Conway hat nicht nur chirurgische Erfahrungen mit diesen beiden Lebensformen gesammelt, sondern ist auch erfolgreich mit ihnen in Kontakt getreten, obwohl dieses Ereignis noch nicht lange genug zurückliegt und zu extrem verlaufen ist, um bereits Eingang in die Literatur gefunden zu haben“, fuhr der Empath fort. „Auch Ihre Kollegin Cha Thrat ist schon mit Khone in Berührung gekommen und hat ihr geholfen, das Kind zur Welt zu bringen. Sie würden sich Zeit und Mühe sparen, wenn Sie sich einfach mit diesen Wesen unterhalten oder darum bitten würden, daß Ihnen die relevanten medizinischen Aufzeichnungen zugänglich gemacht werden. Tut mir leid, mein Freund. Durch die Stärke Ihrer emotionalen Ausstrahlung ist mir klar, daß mein Vorschlag für Sie keine Hilfe gewesen ist.“

Prilicla zitterte, als würden sein zerbrechlich wirkender Körper und die bleistiftdünnen Beine von einem kräftigen Wind durchgeschüttelt, den nur er wahrnehmen konnte. Doch in Wirklichkeit handelte es sich um einen Gefühlssturm, den Lioren ausgelöst hatte, und deshalb bemühte sich der Tarlaner, seine Gefühle zu beherrschen, bis der Körper des Empathen schließlich wieder zur Ruhe gekommen war.

„Ich bin es, der sich entschuldigen muß, Ihnen Unbehagen bereitet zu haben“, sagte Lioren. „Sie haben völlig recht; ich habe triftige persönliche Gründe, die anderen Mitarbeiter meiner Abteilung nicht in diese Sache hineinzuziehen, zumindest so lange nicht, bis ich genügend weiß, um mit ihnen zu sprechen, ohne ihre Zeit unnötig in Anspruch zu nehmen. Aber ich würde für mein Leben gern die medizinischen Aufzeichnungen des Diagnostikers lesen und die Patienten besuchen, die Sie erwähnt haben.“

„Ihre Neugier kann ich zwar spüren, mein Freund“, sagte Prilicla, „aber natürlich nicht die Gründe dafür. Ich vermute, das Ganze hat irgendwas mit dem groalterrischen Patienten zu tun.“

Der Cinrussker machte eine Pause, und wieder zitterte sein Körper, aber nur einen Augenblick lang. „Die Kontrolle über Ihre emotionale Ausstrahlung verbessert sich allmählich, und dazu möchte ich Ihnen gratulieren und mich bei Ihnen bedanken, mein Freund. Doch für Ihre innerliche Angst besteht überhaupt kein Grund. Zwar weiß ich, daß Sie irgend etwas vor mir verheimlichen, aber da ich kein Telepath bin, habe ich keine Ahnung, worum es sich dabei handelt. Meine Vermutungen werde ich niemandem gegenüber aussprechen, damit ich Sie keiner emotionalen Belastung aussetze, zumal diese nur auf mich selbst zurückfallen würde.“

Dankbar und beruhigt entspannte sich Lioren, da er wußte, daß er seine Gefühle bei diesem Wesen nicht in Worte zu fassen brauchte. Doch der Empath war mit seinen Ausführungen noch nicht am Ende.

„Wie allgemein bekannt ist, sind Sie der einzige im ganzen Hospital, der offen mit Hellishomar gesprochen hat“, fuhr Prilicla fort. „Da meine empathischen Fähigkeiten durch das Gesetz der umgekehrten Proportion zum Quadrat der Entfernung bestimmt sind, nimmt ihre Empfindlichkeit mit der Nähe zu demjenigen zu, von dem die Emotionen ausgehen. Ich habe es bewußt vermieden, mich dem Groalterri zu nähern, weil es sich bei Hellishomar um ein zutiefst betrübtes und äußerst unglückliches Wesen handelt, das von Schuld, Leid und Schmerz erfüllt ist und eine so starke emotionale Ausstrahlung hat, daß es im Hospital keinen Ort gibt, an den ich vor diesen furchtbaren und ständig anhaltenden Gefühlen fliehen kann. Seit Sie jedoch begonnen haben, Hellishomar zu besuchen, ist die Stärke dieser quälenden emotionalen Ausstrahlung merklich zurückgegangen, und dafür bin ich Ihnen wirklich sehr dankbar, mein Freund.

Immer, wenn Hellishomars Name erwähnt wird, nehme ich an Ihnen eine Empfindung wahr, die einer starken Hoffnung näherkommt als einer Erwartung“, fuhr der Empath fort, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Am stärksten war diese Emotion, als wir über Telepathie gesprochen haben. Darum erhalten Sie von mir die Erlaubnis, die telepathischen Patienten zu besuchen. Zudem werden Ihnen Kopien der medizinischen Akten, die für Sie von Belang sind, zu Studienzwecken zur Verfügung gestellt. Falls es Ihnen jetzt schon recht ist, werden wir gleich mit einem Besuch bei den Beschützern der Ungeborenen beginnen.“

Die vier schimmernden Flügel des Empathen begannen langsam zu schlagen, und er erhob sich anmutig vom Tisch in die Luft.

„Sie strahlen zwar ein heftiges Gefühl der Dankbarkeit aus“, stellte Prilicla fest, während er direkt über Liorens Kopf auf den Kantinenausgang zuflog, „aber diese Emotion ist nicht stark genug, um vor mir Ihre unterschwellige Besorgnis und das Mißtrauen zu verbergen. Was bedrückt Sie, mein Freund?“

Liorens erster Impuls war abzustreiten, daß ihn irgend etwas bedrückte, doch wäre ein solcher Versuch ungefähr das gleiche gewesen, als würden zwei Kelgianer versuchen, sich gegenseitig zu belügen; zumal seine innersten Gefühle für Prilicla genauso sichtbar waren wie das bewegliche Fell der Kelgianer. „Ich bin besorgt, weil es sich um Conways Patienten handelt“, antwortete er deshalb wahrheitsgemäß. „Und wenn Sie es mir ohne seine Erlaubnis gestatten, die beiden zu besuchen, könnten Sie Ärger bekommen. Außerdem bin ich mißtrauisch, weil ich den Verdacht habe, Conway könnte Ihnen diese Erlaubnis bereits erteilt haben, und Sie sagen mir aus irgendeinem Grund nicht, weshalb.“

„Ihre Besorgnis ist unbegründet, Ihr Verdacht trifft jedoch zu“, klärte ihn Prilicla auf. „Conway wollte Sie nämlich sowieso demnächst darum bitten, diese Patienten zu besuchen. Die sind zur genauen Beobachtung und Untersuchung hier, was die Patienten wie eine Gefängnisstrafe von unbekannter Dauer empfinden. Sie verhalten sich zwar kooperativ, sind aber nicht glücklich und vermissen ihre Heimatplaneten. Wir wissen von zwei Patienten, Mannon und Hellishomar, die von den Gesprächen mit Ihnen profitiert haben, und Freund Conway meinte — und entschuldigen Sie, falls ich jetzt Ihre Gefühle verletze — , wenn ein Besuch- on Ihnen bei seinen Patienten möglicherweise auch nichts nützen würde, so könnte er jedenfalls auch nichts schaden.

Ich habe keine Ahnung, was Sie zu Mannon und Hellishomar gesagt haben, und den Gerüchten zufolge wollten Sie nicht einmal O'Mara verraten, wie Sie Ihre Erfolge erzielt haben“, fuhr der Empath fort. „Nach meiner eigenen Theorie bedienen Sie sich der Technik der Umkehrung, bei der nicht der Arzt dem Patienten Mitgefühl entgegenbringt, sondern das Gegenteil eintritt, und setzen von dort aus Ihre Arbeit fort. Hin und wieder habe ich diese Technik selbst eingesetzt. Da ich zerbrechlich wirke und für Emotionen außerordentlich empfänglich bin, neigen andere dazu, mich zu unrecht zu bedauern und mir, wie Conway es ausdrückt, allerhand durchgehen zu lassen. Sie hingegen können den Patienten wirklich leid tun, mein Freund, weil Sie.“

Als die furchtbaren Erinnerungen an einen entvölkerten Planeten auf Lioren einstürmten, wurde Priliclas Schwebefug für einen Augenblick alles andere als ruhig. Natürlich bedauerten alle Lioren, aber bestimmt nicht mehr als er sich selbst. Verzweifelt mühte er sich, diese Erinnerungen wieder in die sichere Ecke zu drängen, die er eigens für sie hergerichtet hatte und wo sie ihn nur im Schlaf beunruhigen konnten. Er schien damit Erfolg zu haben, denn der Cinrussker flog wieder ruhig und in gerader Linie.

„Sie haben Ihre Gefühle gut unter Kontrolle, mein Freund“, lobte ihn Prilicla prompt. „Zwar ist Ihre emotionale Ausstrahlung für mich auf kurze Entfernung immer noch unangenehm, aber längst nicht mehr so quälend wie während der Verhandlung vorm Militärgericht und danach. Das freut mich für uns beide. Unterwegs werde ich Ihnen von den ersten beiden Patienten erzählen.“

Der Beschützer der Ungeborenen gehörte zur physiologischen Klassifikation FSOJ. Es handelte sich bei ihm um ein riesiges, ungeheuer kräftiges Lebewesen mit einem starken geschlitzten Panzer, aus dem vier dicke Tentakel hervorragten, sowie mit einem schweren gezackten Schwanz und einem Kopf. Die Tentakel endeten in mehreren scharfen, knochigen Spitzen und ähnelten dadurch mit Nägeln versehenen Keulen. Die Hauptmerkmale des Kopfs bestanden in gut geschützten tiefliegenden Augen, dem gewaltigen Ober- und Unterkiefer sowie Zähnen, die imstande waren, mit Ausnahme der härtesten Metallegierungen wortwörtlich alles zu zermalmen.

Die Beschützer hatten sich in einer Welt aus flachen Meeren und dampfenden Urwaldsümpfen entwickelt, in der es, was körperliche Beweglichkeit und Angriffslust anging, keine eindeutige Grenze zwischen tierischem und pflanzlichem Leben gab. Um überhaupt zu überleben, mußte eine Lebensform ungeheuer kräftig, äußerst beweglich und ständig wach sein, und die dominante Spezies hatte sich auf diesem Planeten ihren Platz erobert, indem sie kämpfte, sich schneller fortbewegte und sich mit größerem Überlebenspotential vermehrte als sämtliche anderen Lebensformen.

Durch die brutalen Umweltbedingungen waren sie gezwungen, eine physiologische Form zu entwickeln, die den lebenswichtigen Organen größtmöglichen Schutz bot. Gehirn, Herz, Lunge und die stark vergrößerte Gebärmutter — sie alle befanden sich tief im Innern der organischen Kampfmaschine, die der Körper des Beschützers war. Die Schwangerschaft der FSOJs dehnte sich ungewöhnlich lange aus, weil der Embryo vor der Geburt praktisch bis zur Reife heranwachsen mußte. Ein alternder Elternteil war normalerweise zu schwach, um sich gegen den Angriff des Letztgeborenen zu verteidigen.

Der ausschlaggebende Grund für den Aufstieg der Beschützer zur dominanten Lebensform ihres Planeten war, daß die Jungen schon lange vor der Geburt sämtliche Überlebenstechniken gelernt hatten. Am Anfang ihrer Evolution hatte diese Entwicklung auf genetischer Ebene als einfache Vererbung von vielen komplexen Überlebensinstinkten begonnen, aber das enge Nebeneinander der Gehirne des Elternteils und des sich entwickelnden Embryos führte zu einer ähnlichen Wirkung, wie wir sie von der Auslösung von Gedanken durch elektrochemische Vorgänge kennen. Die Folge war, daß die Embryos die Fähigkeit zur Telepathie über kurze Strecken entwickelten und alles empfingen, was der Elternteil sah oder spürte.

Und noch bevor der Embryo zur Hälfte ausgewachsen war, entstand in diesem der nächste Embryo, der sich ebenfalls in zunehmendem Maße der brutalen Welt außerhalb seines selbstbefruchtenden Großelternteils bewußt war. Schließlich vergrößerte sich nach und nach die telepathische Reichweite, bis sie die Kommunikation zwischen Embryos ermöglichte,

deren Elternteile sich bis auf Sichtweite einander genähert hatten.

Um die Schäden an den inneren Organen des Elternteils auf ein Minimum zu reduzieren, war der heranwachsende Embryo in der Gebärmutter gelähmt. Durch die vor der Geburt stattfindende Aufhebung der Lähmung verlor der Embryo sowohl die Intelligenz als auch die Fähigkeit zur Telepathie. Denn ein neugeborener Beschützer würde in seiner unglaublich grausamen Umwelt nicht lange überlebt haben, wenn er durch das Vermögen zu denken gehandikapt gewesen wäre.

Da sie nichts anderes zu tun hatten, als Eindrücke von der Außenwelt zu gewinnen, Gedanken mit anderen Ungeborenen auszutauschen und zu versuchen, die Grenzen ihrer telepathischen Fähigkeiten durch den Kontakt mit verschiedenen nichtintelligenten Lebewesen in ihrer Umgebung auszuweiten, entwickelten die Embryos einen Verstand von großer Kraft und Intelligenz. Sie konnten jedoch nichts Gegenständliches erschaffen, in irgendeiner Form technische Forschungen betreiben oder überhaupt etwas zur Beeinflussung der Betätigungen ihrer Elternteile und Beschützer tun, die zur Versorgung ihrer immer wachen Körper und den in ihnen enthaltenen Ungeborenen unaufhörlich kämpfen, töten und fressen mußten.

„Das sind die Umstände gewesen, bevor es Freund Conway gelungen ist, ein Ungeborenes ohne den Verlust der Intelligenz zur Welt zu bringen“, fuhr Prilicla fort. „Jetzt gibt es den ursprünglichen Beschützer und seinen Nachkommen, der selbst ein junger Beschützer ist, und in beiden wachsen Embryos heran. Bis auf den ursprünglichen Elternteil stehen sie alle miteinander in telepathischer Verbindung. Ihre Station, die den heimischen Umweltbedingungen der FSOJs nachgebildet ist, liegt hinter der nächsten Öffnung auf der linken Seite. Möglicherweise werden Sie sich an dem Anblick stören, mein Freund, der Lärm, der dort veranstaltet wird, ist auf jeden Fall entsetzlich.“

Mehr als die Hälfte der Station wurde von einem hohlen Endloszylinder aus ungeheuer stabilem Gitterwerk eingenommen. Diese Konstruktion war vom Durchmesser gerade groß genug, um den FSOJ-Patienten, die sich in ihr befanden, einen ständigen ungehinderten Durchgang in einer Richtung zu ermöglichen, und verlief serpentinenartig, damit die Beschützer die gesamte verfügbare Bodenfläche der Station, die nicht für den Eingang für das Pflegepersonal oder für Geräte zur Aufrechterhaltung der Umweltbedingungen benötigt wurde, zur Bewegung nutzen konnten. Der Zylinderboden bildete von der Form her die unebene Oberfläche und die natürlichen Hindernisse nach wie zum Beispiel die beweglichen und gefräßigen Wanderwurzeln, die auf dem Heimatplaneten des Beschützers vorzufinden waren, und durch die Öffnungen zwischen den Gitterstäben hatten die Patienten ständig Sicht auf die rings um die Außenfläche des Zylinders aufgestellten Bildschirme. Über diese Schirme liefen bewegte dreidimensionale Bilder heimischer tierischer und pflanzlicher Lebensformen, denen die Patienten auf ihrem Planeten unter normalen Umständen begegnet wären.

Dem Pflegepersonal ermöglichte die offene Zylinderkonstruktion zudem, die Patienten in den Genuß der positiveren Seiten des Lebenserhaltungssystems zu bringen. Zwischen den Bildschirmen waren nämlich die Mechanismen aufgestellt, deren einziger Zweck darin bestand, die sich schnell durch den Zylinder bewegenden Körper der Patienten so rasch und so heftig wie nötig zu schlagen, zu rupfen, zu zwicken oder zu stoßen.

Wie Lioren feststellen konnte, hatte man offenbar alles Erdenkliche getan, um es den Beschützern so richtig gemütlich zu machen.

„Werden die Beschützer uns hören können?“ schrie er über den Lärm hinweg in Richtung des Empathen. „Oder wir sie?“

„Nein, mein Freund“, antwortete der Prilicla. „Die Schreie und die grunzenden Laute, die sie ausstoßen, sind keine sprachlichen Äußerungen, sondern lediglich ein Mittel, um natürliche Feinde einzuschüchtern. Bis zu der kürzlich erfolgreichen Geburt sind die intelligenten Ungeborenen im Körper des nicht vernunftbegabten Beschützers geblieben und haben nur die inneren organischen Geräusche des Elternteils gehört. Sprechen konnten sie nicht, und es ist auch unnötig gewesen. Die einzige Form der Verständigung, die uns offensteht, ist die Telepathie.“

„Ich bin aber kein Telepath“, wandte Lioren ein.

„Das sind Conway, Thornnastor und die anderen, zu denen der damalige Ungeborene Kontakt aufgenommen hatte, auch nicht“, stellte Prilicla klar. „Die wenigen bekannten Spezies, die über telepathische Fähigkeiten verfügen, haben organische Sender und Empfänger entwickelt, die sich mit denen ihrer Artgenossen automatisch in Übereinstimmung befinden. Aus diesem Grund ist der telepathische Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener telepathischer Spezies nicht immer möglich. Kommt zwischen einem dieser Wesen und einem Nichttelepathen eine geistige Verbindung zustande, bedeutet das normalerweise, daß der Nichttelepath eher über schlummernde oder verkümmerte als über gar keine telepathischen Kräfte verfügt. Wird ein solcher Kontakt hergestellt, kann das für den Nichttelepathen zwar ein äußerst unangenehmes Erlebnis sein, aber an dem betroffenen Gehirn treten weder physische Veränderungen noch bleibende psychologische Schäden auf.

Gehen Sie ruhig näher an den Laufkäfig heran, mein Freund“, forderte ihn Prilicla auf. „Können Sie fühlen, wie der Beschützer mit Ihrem Geist Verbindung aufnimmt?“

„Nein.“

„Ich spüre Ihre Enttäuschung, Lioren“, sagte der Empath. Sein Körper zitterte leicht, und er führ fort: „Aber ich nehme auch die emotionale Ausstrahlung des jungen Beschützers wahr, die ganz typisch für heftige Neugier und angestrengte Konzentration ist. Er bemüht sich ernsthaft, mit Ihnen in Verbindung zu treten.“

„Tut mir leid, ich spüre noch immer nichts“, sagte Lioren.

Kurz sprach Prilicla in seinen Kommunikator, dann sagte er: „Ich habe die Heftigkeit des Angriffsmechanismus steigern lassen. Dadurch wird der Patient nicht etwa verletzt. Vielmehr haben wir herausgefunden, daß die Denkvorgänge durch die Auswirkungen erhöhter Aktivität und drohender Gefahr auf das innere Sekretionssystem unterstützt werden. Versuchen Sie, Ihr Gehirn aufnahmefähig zu machen.“

„Immer noch nichts“, sagte Lioren, wobei er sich mit einer Hand an die Seite des Kopfs faßte. „Außer einem leichten Unbehagen im Schädel, das langsam sehr.“ Der Rest war ein unübersetzbarer Laut, der es von der Lautstärke her mit dem Geschrei aufnehmen konnte, das aus dem Lebenserhaltungssystem des Beschützers drang.

Die Empfindung, die Lioren hatte, war wie ein heftiger Juckreiz tief im Gehirn, zu dem sich eine Art mißtönendes, unhörbares Geräusch gesellte, das immer lauter wurde.

So wie jetzt muß es sein, wenn eine schlummernde Fähigkeit wachgerufen und gezwungen wird, sich zu entfalten, dachte Lioren hilflos. Wie bei einem lange nicht benutzten Muskel kam es zu Schmerzen, Steifheit und einer Art Protest gegen die Veränderung der alten bequemen Ordnung der Dinge.

Plötzlich war das Unbehagen verflogen, und das ungehörte Getöse löste sich auf und wurde zu einem tiefen, ruhigen Meer geistigen Schweigens, auf das der äußere Lärm auf der Station keinen Einfluß ausübte. Dann drangen aus der Stille unausgesprochene Worte eines Wesens, das zwar keinen Namen hatte, dessen Verstand und ungewöhnliche Persönlichkeit jedoch so einzigartig waren, daß man das dazugehörige Individuum niemals mehr mit jemand anders hätte verwechseln können.

„Sie sind äußerst beunruhigt, mein Freund“, stellte Prilicla fest. „Hat der Beschützer Kontakt zu Ihrem Verstand aufgenommen?“

Der hat meinen Verstand eher überwältigt, antwortete Lioren in Gedanken. „Ja, er hat eine Verbindung hergestellt und schnell wieder abgebrochen. Ich habe ihm zu helfen versucht, indem ich ihm vorgeschlagen habe, daß wir. Jedenfalls hat er mich um einen weiteren Besuch zu einem späteren Zeitpunkt gebeten. Können wir jetzt gehen?“

Wortlos flog ihm Prilicla auf den Korridor voran, doch Lioren brauchte keine empathischen Fähigkeiten, um die heftige Neugier des Cinrusskers zu bemerken.

„Mir ist bisher nicht klar gewesen, daß man in solch kurzer Zeit derart viel Wissen austauschen kann“, sagte Lioren. „Worte teilen einen Sinn wie ein Rinnsal mit, Gedanken dagegen wie eine riesige Flutwelle, und letztere machen einem sofort und in sämtlichen Einzelheiten die vorhandenen Probleme nachvollziehbar. Ich brauche Zeit, um allein über alles nachzudenken, was mir der Beschützer mitgeteilt hat, damit ich ihm keine wirren und halbfertigen Antworten gebe. Einen Telepathen zu belügen ist unmöglich.“

„Oder einen Empathen“, fügte Prilicla hinzu. „Möchten Sie den Besuch bei der Gogleskanerin vielleicht verschieben?“

„Nein. Allein und ungestört nachdenken kann ich auch heute abend noch. Wird Khone mit mir in telepathischen Kontakt treten?“

Aus irgendeinem Grund wurde Priliclas Flug einen Augenblick lang unruhig, dann gewann er die Fassung zurück. „Das will ich nicht hoffen.“

Wie ihm der Empath erklärte, benutzten erwachsene Gogleskaner eine Form der Telepathie, für die enger Körperkontakt erforderlich war, taten jedoch alles mögliche, um eine solche Berührung zu vermeiden, es sei denn, ihr Leben war bedroht. Das lag nicht an einer simplen Xenophobie, sondern an der pathologischen Angst, sich irgendeinem großen Lebewesen zu nähern — einschließlich den Angehörigen der eigenen Spezies, die nicht zur Familie gehörten. Die Gogleskaner verfügten über eine fortgeschrittene gesprochene und geschriebene Sprache, die ihnen die für die Entwicklung der Zivilisation notwendige Zusammenarbeit als Individuen oder in der Gruppe ermöglichte. Doch sie sprachen nur selten miteinander und wenn, dann aus größtmöglicher Entfernung und in ganz unpersönlichen Worten. Daß ihr technologischer Stand auf niedrigem Niveau geblieben war, überraschte nicht.

Der Grund für ihr abnorm furchtsames Verhalten war eine Rassenpsychose, von der sie in ihrer vorgeschichtlichen Vergangenheit befallen worden waren. Lioren erhielt die strenge Anweisung, auf dieses Thema nur mit äußerster Vorsicht zu sprechen zu kommen.

„Sonst riskieren Sie es, die Patientin zu beunruhigen, und gefährden das Vertrauen, das nach und nach zwischen Khone und dem für die Behandlung verantwortlichen medizinischen Personal aufgebaut worden ist“, sagte Prilicla, als er in der Luft über dem Eingang der Nebenstation schweben blieb, die Gogleskanern vorbehalten war. „Da ich Khone nicht der emotionalen Belastung eines Besuchs von zwei Fremden aussetzen will, werde ich Sie jetzt verlassen. Die Ärztin Khone ist zwar ängstlich und schüchtern, aber auch außerordentlich neugierig. Versuchen Sie, wie ich es Ihnen schon empfohlen habe, sich mit ihr in unpersönlichen Worten zu unterhalten, mein Freund, und denken Sie immer erst gut nach, bevor Sie etwas sagen.“

Eine Wand aus dickem, durchsichtigen Kunststoff, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckte, teilte den Raum in zwei gleiche Hälften. In der Wand befanden sich Öffnungen, die wie leere weiße Bilderrahmen scheinbar frei in der Luft schwebten und zum Durchreichen von Essen und für ferngesteuerte Greif- und Untersuchungsvorrichtungen bestimmt waren. Die für die Behandlung vorgesehene Hälfte der Station enthielt die üblichen medizinischen Untersuchungsinstrumente, die zum Gebrauch aus größerer Entfernung modifiziert waren, und drei Bildschirme. Davon konnte die erwachsene Gogleskanerin nur zwei sehen, denn beim dritten handelte es sich um einen Repeaterschirm für den Patientenmonitor, der sich im Kontrollraum der Hauptstation befand. Da es Lioren nicht riskieren wollte, Khone zu beleidigen, indem er sie direkt anstarrte, konzentrierte er sich auf das Bild auf dem Repeaterschirm.

Wie er auf den ersten Blick sah, gehörte die gogleskanische Ärztin zur physiologischen Klassifikation FOKT. Ihr aufgerichteter, eiförmiger Körper war von dichtem, farbenprächtigem Haar und biegsamen Stacheln bedeckt, von denen einige kleine, knollenförmige Schutzkappen am Ende trugen und zu Fingerbüscheln gruppiert waren, damit die FOKT Eßgeräte, Werkzeuge oder medizinische Instrumente greifen und handhaben konnte. Auch die vier langen blassen Fühler, die unter dem buntscheckigen Haupthaar lagen und bei telepathischem Kontakt benutzt wurden, konnte Lioren erkennen. Den Kopf umgab ein dünnes Metallband, das als Stütze für eine Korrekturlinse diente, die sich vor einem der vier gleichmäßig um den Kopf verteilten,

tieffiegenden Augen befand. Rings um den Unterkörper zog sich ein dickes Muskelband, auf dem die Gogleskanerin saß, und immer, wenn sie den Körper in eine andere Stellung brachte, streckte sie vier kurze Beine unter dem Rand dieses Muskelbands hervor. Ihrem Kind gegenüber, das fast unbehaart, ansonsten aber das verkleinerte Ebenbild seiner Mutter war, gab sie unübersetzbare jammernde Laute von sich, bei denen es sich nach Liorens Ansicht um wortlose Musik handeln konnte. Die Stimme schien aus einer Zahl schmaler, senkrechter Atemöffnungen zu kommen, die sich um die Hüfte herumzogen.

Hinter der durchsichtigen Wand war die Metallverkleidung mit einer Vertäfelung abgedeckt worden, die anscheinend aus dunklem, ungeschliffenem Holz bestand, und entlang der drei Innenwände waren niedrige Möbel und Regale aus demselben Material verteilt. Der Raum war mit Büscheln von Duftpflanzen geschmückt, und die Beleuchtung reproduzierte den gedämpften orangefarbenen Schein des gogleskanischen Sonnenlichts, das durch hohe Zweige fiel. Khones Unterkunft war so heimisch, wie es die Techniker für Umweltbedingungssysteme des Hospitals nur hatten bewerkstelligen können, wenngleich die Gogleskanerin ohnehin zu schüchtern war, um sich über irgend etwas zu beklagen, außer über die plötzliche und unmittelbare Annäherung eines Fremden.

Als ein schüchternes Wesen, das ständig Angst hatte und außerordentlich neugierig war, hatte Prilicla sie beschrieben.

„Ist es dem Auszubildenden Lioren gestattet, sich die medizinischen Aufzeichnungen über die Patientin und Ärztin Khone anzusehen?“ fragte er in der vorgeschriebenen unpersönlichen Form. „Das dient lediglich der Absicht, die Neugier zu stillen, nicht, eine medizinische Untersuchung durchzuführen.“

Wie ihm Prilicla mitgeteilt hatte, durfte ein Eigenname nur ein einziges Mal genannt werden, um sich bei der ersten Begegnung auszuweisen und vorzustellen, und mit Ausnahme eines etwaigen Schriftwechselverkehrs nie wieder erwähnt werden. Khones Körperbehaarung bewegte sich unruhig hin und her und stand einen Augenblick lang senkrecht vom Körper ab,

wodurch die kleine Gogleskanerin doppelt so groß erschien, wie sie in Wirklichkeit war. Außerdem wurden bei diesem Vorgang die langen, unter den Schutzkappen mit scharfen Spitzen versehenen Stacheln entblößt, die sich zuckend an die Wölbung des Unterkörpers schmiegten. Bei diesen Stacheln handelte es sich zwar um die einzigen natürlichen Waffen der Gogleskaner, doch das Gift, das sie absonderten, war für die Metabolismen sämtlicher warmblütigen Sauerstoffatmer augenblicklich tödlich.

Schließlich verstummten die jammernden Laute. „Es ist erleichternd, daß keine medizinische Untersuchung durch ein weiteres gräßlich anzusehendes, wenn auch wohlmeinendes Ungeheuer droht“, sagte Khone. „Die Erlaubnis ist hiermit erteilt, und da die Einsichtnahme in die medizinischen Unterlagen ohnehin nicht verboten werden kann, sei für die höfliche Formulierung der Bitte gedankt. Sind vielleicht einige Hinweise erwünscht?“

„Sie wären sehr willkommen“, antwortete Lioren, wobei er dachte, daß die direkte Art der Gogleskanerin eigentlich nicht dem entsprach, was er erwartet hatte. Womöglich sprang ihre Schüchternheit bei Gesprächen nicht so deutlich ins Auge.

„Die Wesen, die diese Station besuchen, sind immer höflich, und Unterhaltungen werden oft durch Höflichkeit gebremst“, sagte Khone. „Falls die Neugier des Auszubildenden nicht allgemein ist, sondern sich auf einen bestimmten Punkt bezieht, wäre es wahrscheinlich von Vorteil, eher die Patientin selbst als die medizinischen Aufzeichnungen zu Rate zu ziehen.“

„Ja, in der Tat“, stimmte Lioren ihr zu. „Haben Sie vielen Dank, das heißt, das war sehr hilfsbereit, danke. Das Hauptinteresse des Auszubildenden gilt den.“

„Vermutlich wird der Auszubildende nicht nur Fragen stellen, sondern auch beantworten“, fuhr die Gogleskanerin fort. „Die Patientin ist nach gogleskanischen Maßstäben eine erfahrene Ärztin und weiß, daß Mutter und Kind bei bester Gesundheit und vor körperlichen Gefahren und Krankheiten geschützt sind. Das Erstgeborene ist zu jung, um etwas anderes als Zufriedenheit zu verspüren, doch die Mutter ist vielen verschiedenen Gefühlen ausgesetzt, von denen das ausgeprägteste Langeweile ist. Versteht der Auszubildende das?“

„Der Auszubildende versteht das und wird versuchen, diesem Zustand abzuhelfen“, antwortete Lioren, wobei er auf die nach innen gedrehten Bildschirme deutete. „Über die Planeten und die Spezies der Föderation gibt es interessantes Bildmaterial.“

„.das scheußliche Kreaturen zeigt, die in überfüllten Städten wohnen“, fiel ihm Khone ins Wort. „Oder die in engem, nichtsexuellen Körperkontakt dicht im Innern von Luft- oder Bodenfahrzeugen zusammengepfercht sind. Solche und ähnlich schreckliche Bilder rufen nur Entsetzen hervor und sind keine angebrachte Kur gegen Langeweile. Wenn Kenntnisse über die optisch abscheulichen Spezies der Föderation und ihre Bräuche erworben werden sollen, muß das langsam und immer nur durch ein Lebewesen zur Zeit geschehen.“

Um das zu vollbringen, lebte nicht mal ein Groalterri lange genug, dachte Lioren. „Gehört es sich für den Auszubildenden nicht, als ungeladener Gast erst einmal Antworten zu geben, bevor er der Gastgeberin Fragen stellt?“

„Eine weitere überflüssige Höflichkeitsfloskel, die trotzdem dankbare Anerkennung findet“, antwortete Khone. „Wie lautet die erste Frage des Auszubildenden?“

Offenbar gestaltete sich die ganze Angelegenheit sehr viel einfacher, als Lioren erwartet hatte. „Der Auszubildende hätte gerne Informationen über die telepathischen Fähigkeiten der Gogleskaner und insbesondere über die organischen Mechanismen, durch die ihre Entfaltung ermöglicht wird, sowie über die körperlichen Ursachen für ein mögliches Versagen dieser Fähigkeiten, einschließlich aller medizinischen und subjektiven Symptome, die in so einem Fall aufzutreten pflegen. Diese Informationen könnten sich bei einem anderen Patienten als hilfreich erweisen, dessen Spezies ebenfalls über tele.“

„Nein!“ unterbrach ihn Khone mit einer solch lauten Stimme, daß ihr Kind ein aufgeregtes Pfeifen von sich gab, das Liorens Translator nicht übersetzte. Über einen weiten Bereich hinweg richtete sich Khones Körperbehaarung steif auf, verwob sich in einer Weise, die Lioren nicht genau sehen konnte, mit den kürzeren Strähnen des Kinds und zog es eng an den Körper der Mutter, bis das Kleine sich wieder beruhigt hatte.

„Das tut mir sehr leid“, entschuldigte sich Lioren, der in der Wut und Enttäuschung über sich selbst ganz vergaß, sich unpersönlich auszudrücken. Schnell formulierte er den Satz neu. „Man bedauert den Vorfall sehr und möchte sich entschuldigen. Es hat nicht die Absicht bestanden, Anstoß zu erregen. Wäre es besser, wenn sich der ungehörige Auszubildende zurückziehen würde?“

„Nein“, antwortete Khone erneut, dieses Mal in gedämpfteren Ton. „Die Telepathie und die gogleskanische Vorgeschichte sind höchst sensible Themen. Sie sind schon früher mit Conway, Prilicla und O'Mara besprochen worden, die zwar alle sonderbare und optisch bedrohliche Wesen sind, aber volles Vertrauen genießen. Der Auszubildende hingegen ist nicht nur sonderbar und furchterregend, sondern der Patientin zusätzlich vollkommen unbekannt.

Die telepathischen Fähigkeiten befinden sich weniger unter bewußter Kontrolle, sondern funktionieren eher unwillkürlich. Sie werden durch die Anwesenheit von Fremden oder durch irgend etwas anderes in Gang gesetzt, das die Gogleskaner unterbewußt als Bedrohung empfinden, was bei einer Spezies, die über dermaßen wenig Körperkraft verfügt, praktisch alles ist. Kann der Auszubildende die Schwierigkeit der Gogleskanerin verstehen und sich gedulden?“

„Das Verständnis dafür ist vorhanden und.“, setzte Lioren zu einer Antwort an.

„Dann kann das Thema erörtert werden“, unterbrach ihn Khone. „Aber nur, wenn die Patientin genügend über den Auszubildenden weiß, um die Augen schließen und das Wesen sehen zu können, das in der optisch entsetzlichen Gestalt steckt, um so die instinktive Kurzschlußreaktion zu umgehen, zu der es ansonsten käme.“

„Das Verständnis dafür ist vorhanden“, wiederholte Lioren. „Der Auszubildende wird die Fragen der Patientin mit Vergnügen beantworten.“

Bevor die Gogleskanerin fortfuhr, stellte sie sich auf die kurzen Beine, wodurch sie einige Zentimeter größer wurde, und ging ein paar Schritte zur Seite, um auf diese Weise offenbar einen besseren Blick auf Liorens Unterkörper zu haben, der für sie bisher durch einen der Bildschirme verdeckt worden war.

„Die erste Frage lautet, was wird der Auszubildende nach seiner Lehre sein?“ erkundigte sie sich.

„Ein Psychologe“, antwortete Lioren.

„Das ist keine Überraschung“, sagte Khone.

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