16. Kapitel

Hellishomar konzentrierte seinen Angriff auf eine Stelle, an der die Haut dünn und das darunter liegende Gewebe weich war, indem er mit allen vier Knochenplatten das Fleisch aufriß, bis der blutige Krater so groß und tief war, daß er mitsamt der Ausrüstung hindurchpaßte. Dann klappte er hinter sich den Fleischlappen der Öffnung zu, die er in den Körper geschnitten hatte, und verschloß ihn hermetisch, schaltete die Lampe und die Wischer der Augenschützer an, überprüfte die Füllmenge des Brennstoffbehälters und grub sich weiter voran.

Dieser Elternteil war alt, alt genug, um der Vorfahre von Hellishomars Großelternteil zu sein, und die graue Fäule, von der der alte FLSU befallen war, hatte sich bereits über den gesamten gewaltigen Körper und auch ein ganzes Stück nach innen ausgebreitet. Wie es bei Eltern üblich war, hatte auch dieser Patient die ersten Symptome verheimlicht, um den tagelang anhaltenden starken Schmerzen und gewaltsam zugefügten Wunden aus dem Weg zu gehen, die eine Operation mit sich gebracht hätte, bis ihn die zusehends wachsenden Krebsgeschwülste bewegungsunfähig gemacht hatten und der Verband der Messerheiler von einem der zufällig vorbeikommenden Kleinen über seinen Zustand unterrichtet worden war.

Zwar war Hellishomar für einen Kleinen bereits recht alt und für einen Messerheiler ziemlich groß, doch seine umfassenden Kenntnisse und unvergleichlichen Erfahrungen glichen den Schaden mehr als aus, den er dadurch verursachte, daß er so große Einschnitte machen mußte, um in den Körper des Patienten zu gelangen; die tieferen Gewebeschichten waren jedoch stets sehr weich, so daß er häufig nur einen einzigen Schnitt zu machen brauchte, um sich hindurchzuzwängen, und sich nicht erst einen blutigen Tunnel durch völlig gesundes Fleisch hacken mußte.

Indem er die größeren Blutgefäße umging oder diejenigen, bei denen dies nicht möglich war, durch Hitze versiegelte und die beschädigten Kapillaren, die sich auf natürlichem Wege wieder verschließen würden, einfach nicht beachtete, drang Helishomar mit raschen und genauen Schnitten, ohne Zeit zu verlieren, voran. Bei Operationen tief im Körper mußten die Behälter mit der komprimierten Luft klein sein, denn sonst hätte der Messerheiler einen größeren Einschnitt vornehmen müssen, um in den Körper des Patienten zu gelangen. Zudem hätte er in dem Fall mehr Schaden angerichtet und wäre langsamer vorangekommen.

Dann war es plötzlich zu sehen, das erste innere Anzeichen für die Wucherung, und zwar genau an der vorhergesagten Stelle.

Schräg über den frisch vertieften Einschnitt verlief eine dünne gelbe Röhre, die durch ihre harten Wände und ölige Oberfläche unter den messerscharfen Knochenplatten des Tentakels hatte wegrutschen können. Während sie Nährstoffe aus der grauen, brandigen Wucherung sog, die sich auf der Haut des Elternteils ausgebreitet hatte, und zu der oder den wurzelartigen Herzgeschwülsten tief im Körper leitete, pulsierte sie schwach. Hellishomar änderte die Richtung, um der Röhre weiter nach unten zu folgen.

Innerhalb weniger Augenblicke war auf der einen Seite des Tunnels eine zweite gelbe Röhre zu sehen, zu der sich eine weitere gesellte und dann noch eine, die alle einem einzigen Punkt unter ihm zustrebten. Hellishomar schnitt und zwängte sich zwischen ihnen hindurch, bis die Herzgeschwulst selbst wie eine geäderte, unebene Kugel, die im eigenen schwachen gelben Licht zu glimmen schien, offen vor ihm lag. Vom Umfang her war die Wucherung nur wenig kleiner als Hellishomars Kopf.

Schnell schaffte er sich mit den Knochenplatten über und rings um die wurzelartige Geschwulst Platz, wobei er mehr als zwanzig Wurzelfasern und zwei dickere Röhren durchtrennte, die die Verbindung zu einer oder mehreren weiteren Tochtergeschwülsten darstellten. Dann rückte Hellishomar dem bösartigen Gebilde mit auf volle Stärke gedrehtem Brenner zu Leibe, indem er eine Stellung einnahm, durch die der heiße und blutige Dampf den Einschnitt entlang entweichen und sich auflösen konnte, damit er sozusagen nicht im eigenen Saft geschmort wurde.

Hellishomar hörte erst auf, als die Herzgeschwulst in Asche verwandelt war, und dann schichtete er die Asche zu einem kleinen Haufen auf und setzte sie erneut in Brand. Nun folgte er der Verbindung zur Tochtergeschwulst, die er dabei gleichzeitig hinter sich verbrannte, bis er die zweite Herzgeschwulst entdeckte und ebenfalls mit dem Brenner entfernte. Wenn die Oberflächenmesserheiler später ihre Arbeit beendet hatten, würden die feinen Verbindungen der wurzelartigen Herzgeschwülste zu den Wucherungen auf der Haut des Patienten austrocknen und einschrumpfen, da sie an beiden Enden durchtrennt waren und ihnen keine Nährstoffe mehr zugeführt werden konnten, so daß sie unter minimalen Beschwerden aus dem Körper des Elternteils gezogen werden könnten.

Trotz der Wischer, die sich hin- und herbewegten, um die Augenschützer sauberzuhalten, verschlechterte sich Helishomars Sicht in unregelmäßigen Schüben zunehmend. Dadurch wurden seine Bewegungen stetig langsamer, die Schläge mit den Knochenplatten ungenauer, und die Qualität der Operation sank allmählich auf unterstes Niveau. Nach Helishomars Diagnose war dieser Zustand auf eine Kombination aus kurz bevorstehendem Hitzschlag und drohender Erstickung zurückzuführen, und er machte sofort kehrt, um sich einen Weg zur nächsten Luftröhre zu bahnen.

Plötzlich stießen die Knochenplatten auf erhöhten Widerstand, was darauf hindeutete, daß Hellishomar an die Außenmembran einer Luftröhre gelangt war. Vorsichtig zwängte er sich durch einen Schnitt, der nicht zu lang war, um möglichst wenig Blut austreten zu lassen, aber auch nicht zu kurz, damit Kopf und Oberkörper hindurchpaßten. Dann legte er eine Pause ein und machte sich die Kiemen frei.

Wasser, das noch nicht vom Körper des Elternteils angewärmt war, umspülte Hellishomars überhitzten Körper, ersetzte in seiner Lunge die schale Luft aus dem Behälter und machte ihm sowohl den Kopf als auch die Augenschützer wieder frei. Doch seine Freude währte nicht lange, denn als der Elternteil ein paar Augenblicke später zur Sauerstoffatmung überging, wurde aus dem Schwall klaren, durch die Kiemen gefilterten Wassers ein dünnes Rinnsal. Rasch zog Hellishomar auch den übrigen Körper durch den Einschnitt, streckte die Tentakel mit den Knochenplatten an der Spitze zu voller Länge aus und trieb die flachen, winkelförmigen Kerben in die Wand der Luftröhre, die es ihm ermöglichen würden, sich über dem Einschnitt festzuhalten, wenn der eingeatmete Luftstrom an ihm vorbeistürmte.

Durch das Nervensystem waren dem Elternteil sämtliche Vorgänge in seinem gewaltigen Körper bewußt und auch die genaue Stelle, an der sie sich ereigneten, und zudem wußte er, daß Wunden an der Luft leichter als im Wasser verheilten. Während Hellishomar die Ränder des Schnitts in der Luftröhre fachmännisch zusammenzog und vernähte, wünschte er sich, daß einer der großen Groalterri nur ein einziges Mal seinen Verstand benutzen würde, um ihm eventuell für den operativen Eingriff zu danken, der das Leben der Patienten zu verlängern pflegte, oder auch nur um seine Selbstsucht zu tadeln, die in ihm den Wunsch nach solchen Danksagungen hervorrief, oder einfach nur um seine Existenz zur Kenntnis zu nehmen.

Eltern wußten zwar alles, sprachen über ihr Wissen aber nur mit anderen Eltern.

Der durchs Einatmen hervorgerufene Wind legte sich, und bevor sich das Elternteil zum Ausatmen anschickte, herrschte einen Augenblick lang völlige Windstille. Hellishomar überprüfte ein letztes Mal die Nähte der Wunde, ließ die Wand los und ließ sich auf den weichen Boden der Luftröhre fallen. Dort rollte er sich zu einer Kugel zusammen, indem er die Tentakel um den Körper schlang, und wartete.

Mit einemmal wurde sein Körper in die Höhe gehoben und von einem orkanartigen Sturm die Luftröhre entlanggewirbelt, bis er schließlich draußen auf dem Boden der Außenwelt landete.

„Dort hat sich Hellishomar ausgeruht und die Luft- und Brennstoffvorräte aufgefüllt“, fuhr Lioren fort, „weil sein Patient alt und groß gewesen ist und noch eine Menge Arbeit zu erledigen war.“

Er machte eine Pause, um O'Mara Gelegenheit zu einer Anmerkung zu geben. Als Lioren bei seiner Rückkehr von der Station des Groalterris umgehend um Erlaubnis gebeten hatte, O'Mara einen mündlichen Bericht zu erstatten, hatte der Chefpsychologe seiner Überraschung in einem Ton Ausdruck gegeben, den Lioren mittlerweile als Sarkasmus erkannte, doch danach hatte der Major zugehört, ohne den Tarlaner zu unterbrechen oder sich zu regen.

„Fahren Sie fort“, forderte O'Mara ihn auf „Wie mir Hellishomar erzählt hat, setzt sich die Geschichte der Groalterri ausschließlich aus Erinnerungen zusammen, die über die Jahrhunderte hinweg weitergegeben wurden. Die Richtigkeit dieser mündlichen Überlieferungen hat er mir zwar versichert, aber archäologische Beweise zu ihrer Erhärtung sind nicht vorhanden. Folglich verfügt die groalterrische Kultur über keine Geschichte, die in die Zeit vor der Entwicklung von Intelligenz zurückreicht, und darum wird mein Bericht hauptsächlich auf Schlußfolgerungen und weniger auf Fakten beruhen.“

„Dann ziehen Sie endlich Ihre Schlußfolgerungen“, drängte O'Mara.

Auf dem von mineralarmen Meeren und Sümpfen bedeckten Planeten der Groalterri waren keine geschichtlichen Aufzeichnungen geführt worden, weil die Lebensspanne der FLSUs länger und ihre Erinnerungen klarer und zuverlässiger waren als alle auf Tierhäuten oder pflanzlichem Gewebe festgehaltenen Schriftzeichen, die lange vor dem Lebensende des Schreibers verblaßt oder verfault gewesen wären. Groalter war ein riesiger Planet, der seine kleine heiße Sonne in zweieinviertel terrestrischen Jahren einmal umkreiste, und eine der gewaltigen Lebensformen, die ihn bewohnten, hätte schon sehr krank gewesen sein oder wirklich Pech gehabt haben müssen, um nicht wenigstens fünfhundert dieser Umkreisungen zu erleben.

Erst mit dem Aufkommen der Technologie der Kleinen in jüngster Zeit — wobei ̃̄„jüngst“ im Sinne der groalterrischen Zeitmessung zu verstehen ist — waren geschichtliche Aufzeichnungen geführt und aufbewahrt worden. Diese Aufzeichnungen beruhten in erster Linie auf den Entdeckungen und Beobachtungen durch die wissenschaftlichen Stützpunkte, die trotz großer Schwierigkeiten und enormer Verluste bei den Kleinen unter den hohen Schwerkraftverhältnissen in den Polargebieten errichtet worden waren. Durch Groalters schnelle Rotation herrschte nur in jeweils einem breiten Streifen über und unter dem Äquator geringe Schwerkraft, wo die weit ausgedehnten und bewohnten Meere und Sümpfe durch den großen Mond des Planeten und die mit ihm verbundenen Gezeiten in ständiger Bewegung gehalten wurden. Aufgrund dieses fortwährenden Wechsels von Ebbe und Flut waren die wenigen äquatorialen Landmassen Groalters schon vor langer Zeit abgetragen worden.

Mit der Zeit — die selbst nach groalterrischen Maßstäben lang war — würde die Bahn des großen, unbewohnten Mondes immer enger werden, bis schließlich er und sein Mutterplanet miteinander kollidieren und sich gegenseitig zerstören würden.

In technologischer Hinsicht machten die Kleinen solche Fortschritte, wie es ihnen in ihrer unbeständigen Umwelt möglich war. Und jeden Tag in ihrem jungen Leben versuchten sie, das animalische Wesen, das in ihnen steckte, zu bekämpfen, damit sie schneller die geistige Reife der Eltern erreichten, die ihr langes Leben damit verbrachten, über bedeutende Dinge nachzudenken, während sie die Ressourcen des einzigen Planeten kontrollierten und bewahrten, den sie aufgrund ihrer gewaltigen Größe jemals kennenlernen konnten.

„Folglich gibt es auf Groalter zwei verschiedene Kulturen“, setzte Lioren seine Ausführungen fort. „Da sind einerseits die sogenannten Kleinen, zu denen auch unser riesiger Patient gehört, und andererseits die Eltern, von denen selbst die eigenen Nachkommen nur wenig wissen.“

In ihrem ersten groalterrischen Lebensjahr wurden die Kleinen gezwungen, die Eltern zu verlassen, um von etwas älteren Nachkommen betreut und erzogen zu werden. Diese scheinbar grausame Maßnahme war nötig, um das geistig-seelische Wohlbefinden und das zukünftige Überleben der Eltern zu garantieren, da die Kleinen von ihnen für wenig mehr als wilde Tiere gehalten wurden, deren Denkweise und Verhalten von den Erwachsenen als unerträglich abstoßend empfunden wurde.

Obwohl die Eltern die ungestümen, nur für Unruhe sorgenden Nachkommen nicht in ihrer Nähe ertragen konnten, liebten sie diese doch von ganzem Herzen und wachten aus der Ferne über ihr Wohlergehen.

Doch verglichen mit dem Intelligenzgrad und dem Sozialverhalten der durchschnittlichen Mitgliedspezies der Föderation war der Verstand eines kleinen Groalterri weder als primitiv noch als dumm zu bezeichnen. Viele tausend terrestrische Jahre lang, während ihrer langen Wartezeit zwischen der Geburt und dem Eintritt ins Erwachsenenalter, waren sie allein für die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie auf Groalterri verantwortlich gewesen. In dieser Zeit kam es zwischen ihnen und den Eltern zu keinerlei Kommunikation, und die körperlichen Kontakte waren unglaublich gewaltsam und ausschließlich auf chirurgische Eingriffe beschränkt, die darauf abzielten, das Leben der Eltern zu verlängern.

„Dieses Verhalten liegt außerhalb meines Erfahrungsbereichs“, fuhr Lioren fort. „Offensichtlich schätzen die Kleinen die Eltern. Sie respektieren sie, gehorchen ihnen und versuchen, ihnen so gut wie möglich zu helfen, doch die Eltern reagieren darauf auf keine andere Weise, als sich hin und wieder widerwillig einer Operation durch einen Kleinen zu unterziehen.

Die Kleinen bedienen sich gesprochener und geschriebener Sprache, wohingegen die Eltern über große, aber nicht genau angegebene Geisteskräfte verfügen sollen, zu denen auch weitreichende Telepathie gehört. Diese Fähigkeit setzen sie zum Gedankenaustausch untereinander und zur Überwachung und zur Erhaltung sämtlicher nichtintelligenter Lebewesen im groalterrischen Meer ein. Aus irgendeinem Grund wollen sie sich ihrer telepathischen Kräfte nicht bedienen, um sich mit ihren eigenen Nachkommen zu unterhalten oder, was das betrifft, mit den Kontaktspezialisten des Monitorkorps, die sich gegenwärtig in der Umlaufbahn um ihren Planeten befinden.

Ein solches Verhalten ist noch nie dagewesen und geht über mein Verständnis“, schloß Lioren hilflos.

O'Mara entblößte die Zähne. „Es geht über Ihr gegenwärtiges Verständnis. Dennoch ist Ihr Bericht für mich von großem Interesse und für die Kontaktspezialisten von noch beträchtlicherem Wert. Jetzt wissen wir zumindest etwas über die Groalterri, und das Korps wird seinem ehemaligen Oberstabsarzt dankbar und mit ihm zufrieden sein. Ich hingegen bin zwar beeindruckt, aber keineswegs zufrieden, weil der Bericht des rangniedrigsten Mitarbeiters meiner Abteilung, des Auszubildenden Lioren, weit davon entfernt ist, vollständig zu sein. Sie versuchen nämlich nach wie vor, wichtige Informationen vor mir zu verheimlichen.“

Zweifellos konnte der Chefpsychologe den Gesichtsausdruck und Tonfall bei einem Tarlaner sehr viel besser deuten als Lioren umgekehrt bei einem Terrestrier, der nun zur Abwechslung schwieg.

„Ich möchte Sie daran erinnern, daß es sich bei Hellishomar um einen Patienten handelt und diesem Hospital, zu dem nicht nur Sie, sondern auch Seldal und ich gehören, die Verantwortung dafür übertragen worden ist, sein gesundheitliches Problem zu lösen“, sagte O'Mara mit lauterer Stimme. „Zweifellos hat Seldal geahnt, daß dieses klinische Problem auch eine psychologische Komponente haben könnte. Er hat Sie gebeten, mit dem Patienten zu sprechen, da er die Erfolge Ihrer Gespräche mit Mannon gesehen hat und ihm klar gewesen ist, daß er sich nicht offiziell an mich wenden konnte, weil diese Abteilung nur für das psychische Wohlbefinden des Personals verantwortlich ist. Zwar mag das Orbit Hospital keine psychiatrische Klinik sein, doch handelt es sich bei diesem Hellishomar um einen sehr speziellen Fall. Schließlich ist er der erste Groalterri, mit dem wir, oder genauer gesagt, mit dem Sie jemals gesprochen haben. Ich möchte ihm genauso helfen wie Sie, und mit dem Herumdoktern an den Denkweisen fremder Spezies verfüge ich über größere Erfahrung als Sie. Mein Interesse an dem Fall ist rein beruflich, ebenso wie meine Neugier auf alle persönlichen Informationen, die er Ihnen vielleicht verraten hat — Informationen, die ich ausschließlich zu therapeutischen Zwecken benutzen und über die ich mit niemandem sprechen werde. Können Sie meinen Standpunkt verstehen?“

„Ja“, antwortete Lioren.

„Na schön“, sagte O'Mara, als klar wurde, daß Lioren ansonsten nichts hinzufügen wollte. „Wenn Sie schon zu dumm und aufsässig sind, um auf den Wunsch eines Vorgesetzten einzugehen, dann sind Sie vielleicht wenigstens intelligent genug, Vorschläge anzunehmen. Fragen Sie den Patienten, wie er sich die Verletzungen zugezogen hat, falls Sie das nicht schon getan haben und mir die Antworten verheimlichen. Und fragen Sie Hellishomar, ob er es selbst gewesen ist oder jemand anders, der das Schweigen der Groalterri gebrochen hat, um medizinische Hilfe zu erbitten. Den Kontaktspezialisten sind die Umstände des Notrufs ein Rätsel, und sie wünschen, darüber aufgeklärt zu werden.“

„Ich habe bereits versucht, ihm diese Fragen zu stellen“, sagte Lioren. „Aber der Patient ist in Erregung geraten und hat mir lediglich zu verstehen gegeben, er persönlich habe nicht um Hilfe gebeten.“

„Was genau hat er denn gesagt?“ hakte O'Mara schnell nach. „Wie lauteten seine Worte?“

Lioren schwieg.

Der Chefpsychologe stieß einen kurzen unübersetzbaren Laut aus und lehnte sich im Sessel zurück. „Der Auftrag, den Sie bezüglich Seldal erhalten haben, ist an sich nicht wichtig, aber die Einschränkungen, die Ihnen auferlegt worden sind, waren das ganz bestimmt. Mir ist von vornherein klar gewesen, daß Sie sich alle Patienten von Seldal würden vornehmen müssen, um Erkundigungen einzuziehen, und auch, daß es sich bei einem der Patienten um Mannon gehandelt hat. Indem ich Sie beide zusammengebracht habe — den Patienten, der vor seinem Tod emotionale Qualen leidet und jeglichen Kontakt mit Freunden und Kollegen verweigert, und einen Tarlaner, gegen dessen Probleme Mannons wirklich unbedeutend aussehen — , hatte ich gehofft, er würde sich wenigstens so weit öffnen, daß ich ihm möglicherweise seelischen Beistand leisten könnte. Ohne ein weiteres Eingreifen meinerseits haben Sie Erfolge erzielt, die viel größer sind, als ich es mir hätte träumen lassen, und ich bin Ihnen wirklich dankbar. Meine Dankbarkeit und die Geringfügigkeit der Angelegenheit haben es mir gestattet, Ihre lästige Aufsässigkeit zu übersehen, doch diesmal liegen die Dinge anders.

Daß Sie mit dem Groalterri sprechen sollten, war Seldals Idee, nicht meine, und ich habe erst hinterher davon erfahren“, fuhr O'Mara fort. „Bisher weiß ich nichts von dem, was Sie beide miteinander gesprochen haben, und ich will jetzt alles wissen. Der Inhalt Ihrer Gespräche ist nämlich auch für eine Erstkontaktsituation mit einer Spezies von Bedeutung, die nicht nur hochintelligent ist, sondern bis jetzt auch tiefstes Schweigen bewahrt. Doch Sie haben es geschafft, sich mit einem Mitglied dieser Spezies zu unterhalten, und haben aus irgendeinem Grund in ein paar Tagen mehr erreicht als das Monitorkorps in genauso vielen Jahren. Ich bin beeindruckt, und das wird man beim Korps auch sein. Dennoch müssen Sie endlich einsehen, daß es dumm und geradezu kriminell ist, Informationen zurückzuhalten, die — egal, welcher Art sie sind — helfen könnten, den Kontakt auszuweiten.

Verdammt noch mal, das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für moralische Spielchen“, schloß O'Mara mit leiserer Stimme. „Dafür ist das Ganze viel zu wichtig, finden Sie nicht auch?“

„Bei allem Respekt, aber ich.“, begann Lioren, als ihn O'Mara mit einer plötzlichen Handbewegung zum Schweigen brachte.

„Das heißt also ̃̄„nein““, sagte der Chefpsychologe verärgert. „Vergessen Sie diese ganzen Höflichkeitsfloskeln. Also, warum stimmen Sie dem nicht zu, Lioren?“

„Weil ich nicht die Erlaubnis erhalten habe, diese Art von Informationen weiterzugeben, und weil ich es für wichtig halte, mich weiterhin den Wünschen des Patienten gemäß zu verhalten“, antwortete Lioren prompt.

„Hellishomars Bereitschaft, Auskünfte über Groalter zu erteilen, nimmt zu, zumindest was solche Angaben betrifft, die allgemein bekannt gemacht werden dürfen. Hätte ich nicht von Anfang das in mich gesetzte Vertrauen erfüllt, hätten wir wahrscheinlich überhaupt keine Information irgendwelcher Art von ihm erhalten. Ich werde noch viel mehr Einzelheiten über die Groalterri erfahren, aber nur, wenn Sie und das Korps Geduld haben und ich Schweigen bewahre, bis mir der Patient ausdrücklich andere Anweisung gibt. Wenn ich Hellishomars Vertrauen breche, wird der Informationsfluß versiegen.“

Während Liorens Erklärung hatte O'Maras Gesichtsfarbe wieder einen dunklen Rosaton angenommen. Im Bemühen, das abzuwenden, was nach seinen Erfahrungen ein stärkerer Gefühlsausbruch zu werden versprach, fuhr Lioren fort: „Für mein aufsässiges Verhalten möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, aber mein fortgesetzter Ungehorsam ist weniger auf einen Mangel an Respekt zurückzuführen, sondern wird mir vielmehr vom Patienten aufgezwungen. Das ist Ihnen gegenüber äußerst unfair, Sir, weil Sie dem Patienten nur helfen wollen. Auch wenn ich es nicht verdient habe, wäre mir jede Hilfe oder jeder Ratschlag willkommen, die oder den Sie mir zu geben bereit sind.“

Unter O'Maras starrem ungerührten Blick wurde Lioren recht unbehaglich zumute. Er hatte das Gefühl, die Augen des Majors konnten ihm direkt in den Kopf blicken und jeden einzelnen Gedanken darin lesen. Das war natürlich unsinnig, weil die terrestrischen DBDGs nicht zu den telepathischen Spezies gehörten. Die Gesichtsfarbe des Chefpsychologen war zwar wieder etwas heller geworden, doch ansonsten zeigte er keinerlei Reaktion.

„Als ich vorhin gesagt habe, das Verhalten des Groalterris gehe über mein Verständnis hinaus, da haben Sie mich berichtigt, indem Sie anführten, daß das Verhalten lediglich über mein gegenwärtiges Verständnis hinausgehe“, sagte Lioren. „Wollten Sie damit andeuten, daß es eine solche Situation schon einmal gegeben hat?“

Inzwischen hatte O'Maras Gesicht wieder die normale Farbe angenommen. Kurz entblößte er die Zähne. „Die hat es sogar schon häufig gegeben, fast immer dann, wenn die Föderation eine neue Spezies entdeckt, doch Sie haben zu sehr in der Situation dringesteckt, um sie auch von außen zu sehen. Denken Sie bitte mal an die Folge von Ereignissen, die sich beim Wachstum eines Embryos zwischen dem Zeitpunkt der Empfängnis und der Geburt abspielt, obwohl ich diese Vorkommnisse aus naheliegenden Gründen so beschreiben werde, wie sie bei meiner eigenen Spezies ablaufen.“

Der Chefpsychologe faltete locker die Hände auf dem Schreibtisch und nahm die ruhige, sachliche Haltung eines Vortragenden an. „Die Wachstumsveränderungen des Embryos im Mutterleib folgen ziemlich genau der evohjtionsgeschichtlichen Entwicklung der Spezies insgesamt, wenn auch in einem kürzeren Zeitraum. Das Ungeborene beginnt als ein blinder und primitiver Wasserbewohner ohne Gliedmaßen, der in einem Meer aus Fruchtwasser treibt, und endet als kleines, körperlich hilfloses und dummes Ebenbild eines Erwachsenen, verfügt jedoch über einen Verstand, der dem seiner Eltern in relativ kurzer Zeit ebenbürtig oder überlegen ist. Auf der Erde ist der evolutionsgeschichtliche Weg, der zum vierbeinigen Landlebewesen geführt hat, aus dem schließlich das denkende Wesen namens ̃̄„Mensch“ geworden ist, sehr lang gewesen. Zudem hat er viele fruchtlose Abzweigungen genommen, die auf Lebensformen hinausgelaufen sind, die zwar eine ähnliche Gestalt wie der Mensch gehabt haben, nicht aber seine Intelligenz.“

„Ich verstehe“, warf Lioren ein. „Auf Tarla war das auch so. Aber welche Rolle spielt das für diesen Fall?“

„Auf der Erde wie auch auf Tarla hat es in der Entwicklung zu einer vollkommen intelligenten, sich selbst bewußten Lebensform ein Zwischenstadium gegeben“, fuhr O'Mara fort, ohne auf Liorens Zwischenfrage einzugehen. „Auf unserem Planeten haben wir den weniger intelligenten Altmenschen ̃̄„Neandertaler“ genannt und die Form, die durch Gewalt an seine Stelle getreten ist, den ̃̄„Cromagnontypus“. Zwar haben zwischen den beiden geringe körperliche Abweichungen bestanden, doch der entscheidende Unterschied war nicht sichtbar. Obwohl der Cromagnontypus erst wenig mehr als ein wildes Tier war, besaß er das, was als der ̃̄„neue Verstand“ bezeichnet wird, jene Art von Verstand, die es Zivilisationen ermöglicht, zu wachsen und zu gedeihen und nicht nur eine Welt zu bereisen, sondern viele. Hätte der Cromagnontypus versuchen sollen, den Neandertaler über dessen Lernfähigkeit hinaus zu unterrichten, oder hätte er ihn einfach in Ruhe lassen sollen? Die Ureinwohner haben in der Vergangenheit auf der Erde mit den sogenannten zivilisierten Menschen viele unheilvolle Erfahrungen gemacht.“

Zuerst verstand Lioren nicht, warum O'Mara in solch allzu stark vereinfachten Gemeinplätzen sprach, doch auf einmal erkannte er, worauf der Major hinauswollte.

„Wenn wir zur Ähnlichkeit zwischen der pränatalen Entwicklung des Embryos und der vorgeschichtlichen Evolution zurückkehren und davon ausgehen, daß die Schwangerschaftsperiode der Groalterri im proportionalen Verhältnis zu ihrer Lebensspanne steht, ist es dann nicht möglich, daß die FLSUs diese frühere Entwicklungsstufe, auf der die Intelligenz geringer gewesen ist, ebenfalls durchlaufen haben?“ setzte der Chefpsychologe seine Ausführungen fort. „Nehmen wir jedoch zusätzlich an, die jungen Nachkommen der FLSUs durchlaufen diese Phase nicht vor, sondern nach ihrer Geburt. Das würde bedeuten, die Kleinen gehören in der Zeit von der Geburt bis zur Vorpubertät vorübergehend einer anderen Spezies an als ihre Eltern, einer Spezies, die von den erwachsenen FLSUs für wild und grausam gehalten wird und der sie — relativ gesehen — nur geringe Intelligenz und verminderte Sensitivität zugestehen. Doch bei diesen jungen und wilden Groalterri handelt es sich um die heißgeliebten Nachkommen dieser Eltern.“

Erneut entblößte O'Mara die Zähne. „Die hochintelligenten und äußerst empfindlichen Eltern gehen den Kleinen so oft wie möglich aus dem Weg, weil der telepathische Kontakt mit derart jungen und aus ihrer Sicht unterentwickelten Gehirnen vermutlich überaus unangenehm wäre. Wahrscheinlich ist auch, daß die Eltern deshalb nicht in telepathischen Kontakt mit den Kleinen treten, da die Gefahr bestünde, den jungen Verstand zu schädigen und die spätere philosophische Entwicklung der Nachkommen dadurch zu hemmen, daß die jungen Groalterri unterwiesen werden, bevor ihre unreifen Gehirne physiologisch genügend entwickelt sind, um die Lehren der Erwachsenen zu verstehen.

Hierbei handelte es sich um jenes Verhalten, das wir von einem liebenden und verantwortungsbewußten Elternteil erwarten.“

Lioren wandte dem ältlichen Terrestrier sämtliche Augen zu und versuchte vergeblich, respektvolle und bewundernde Worte zu finden, die dem Anlaß gerecht geworden wären. Schließlich sagte er: „Ihre Äußerungen sind keine bloßen Vermutungen. Ich glaube, sie entsprechen in allen wesentlichen Punkten genau den Tatsachen. Diese Informationen werden mir sehr helfen, Hellishomars emotionale Qualen besser zu verstehen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Sir.“

„Es gäbe da eine Möglichkeit, wie Sie mir Ihre Dankbarkeit beweisen könnten“, entgegnete O'Mara.

Lioren schwieg.

O'Mara schüttelte den Kopf und blickte an Lioren vorbei auf die Bürotür. „Bevor Sie gehen, gibt es noch etwas, das Sie wissen sollten, Lioren. Außerdem möchten wir, daß Sie dem Patienten eine bestimmte Frage stellen. Wer hat für ihn um medizinische Hilfe gebeten und wie? Die normalen Funkfrequenzen sind nicht benutzt worden, und Telepathie soll, da sie sozusagen von einem organischen, ungerichteten Sender mit ganz geringer Leistung stammt, auf Entfernungen von über ein paar hundert Metern angeblich nicht möglich sein. Außerdem verursacht es einem Nichttelepathen großes geistiges Unbehagen, wenn ein Telepath versucht, die Verständigung mit ihm zu erzwingen.

Doch die Sache ist die, daß Captain Stillson, der Kommandant des Kontaktschiffs, das sich gegenwärtig auf der Umlaufbahn um Groalter befindet, davon berichtet hat, genau solch einen eigenartigen Eindruck gehabt zu haben“, fuhr der Chefpsychologe fort. „Er ist das einzige Besatzungsmitglied, das von diesem Gefühl ergriffen wurde, und er hegte den Verdacht, auf der Planetenoberfläche stimme irgend etwas nicht. Bis dahin hatte niemand auch nur mit dem Gedanken gespielt, ohne Erlaubnis der Planetenbewohner auf Groalter zu landen. Doch Stillson flog mit seinem Schiff haargenau zu der Stelle hinunter, wo der verletzte Helishomar auf Rettung wartete, und leitete unverzüglich den Transport des Patienten zum Orbit Hospital in die Wege, und das alles nur, weil er den überwältigenden Eindruck hatte, diese Maßnahmen ergreifen zu müssen. Der Captain beteuert, zu keiner Zeit unter irgendeinem äußeren Einfluß gestanden oder auch nur eine Sekunde lang die Kontrolle über den eigenen Verstand verloren zu haben.“

Lioren versuchte noch, diese Neuigkeiten zu verdauen, und fragte sich, ob er sie an den Patienten weitergeben sollte oder nicht, als O'Mara schon fortfuhr.

„Was die geistigen Fähigkeiten der erwachsenen Groalterri betrifft, gibt mir das schon zu denken“, sagte er mit einer so leisen Stimme, daß es sich durchaus um ein Selbstgespräch hätte handeln können. „Falls sie, wie es jetzt erwiesen scheint, mit ihren eigenen Nachkommen nicht kommunizieren, weil die Gefahr besteht, die spätere geistige und philosophische Entwicklung der Kleinen zu hemmen, dann muß das gleichzeitig der Grund sein, weshalb sie jeden Kontakt mit den vermeintlich fortschrittlichen Zivilisationen der Föderation ablehnen.“

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