„Die Umbauten an der Station, die für die Durchführung dieser Operation erforderlich sind, werden noch in dieser Stunde abgeschlossen sein, und das chirurgische Team hält sich schon bereit“, sagte Diagnostiker Conway laut genug zu Hellishomar, um über dem metallischen Lärm gewaltiger Ausrüstungsgegenstände, die an ihren Platz gebracht und an denen letzte Funktionskontrollen vorgenommen wurden, und den rufenden Stimmen hinweg verstanden zu werden. „Doch jede Untersuchung des Schädels bei einer neu entdeckten intelligenten Lebensform — und insbesondere bei einer Großlebensform wie Sie selbst — muß zwangsläufig eine Erforschung des Unbekannten darstellen und stellt einen hohen Risikofaktor dar. Aus anatomischen und medizinischen Gründen, nämlich aufgrund Ihrer schieren Körpergröße und Ihres Metabolismus, wird jegliche Einschätzung der benötigten Medikamentenmenge zur bloßen Raterei, so daß wir die Operation ohne Narkotika durchführen müssen.
Da solch ein Eingriff im vollkommenen Gegensatz zum üblichen Verfahren steht“, fuhr Conway in einem Ton fort, der alles andere als selbstsicher wirkte, „müssen sich Chefpsychologe O'Mara und ich davon überzeugen, daß es eher die psychologischen als die medizinischen Vorbereitungen sind, die wir abgeschlossen haben.“
Hellishomar sagte nichts. Wahrscheinlich hatte der Groalterri keine Ahnung von der lästigen Angewohnheit der Terrestrier, Fragen in Form von Aussagen zu stellen.
Bevor er fortfuhr, warf Conway einen raschen Blick auf die riesigen Öffnungen, die man ringsum in Boden, Decke und Wände geschnitten hatte, und auf die stark versteiften Träger für die Traktor- und Pressorstrahlenprojektoren, die über sie hinausragten. „Es ist unbedingt erforderlich, daß Sie sich während der Operation nicht bewegen, und Sie haben uns ja mehrmals versichert, daß Sie ruhig bleiben werden. Doch wenn man die Stärke der Schmerzen, die beim Eingriff verursacht werden, nicht kennt, und außerdem die Gefahr besteht, daß unsere Instrumente die Fortbewegungsmuskulatur stimulieren, wodurch unwillkürliche Körperbewegungen hervorgerufen werden könnten, ist das, bei allem Respekt, von einem Patienten, der bei vollem Bewußtsein ist, zu viel verlangt. Deshalb werden wir Sie durch den Einsatz breit gefächerter Traktor- und Pressorstrahlen vollkommen bewegungsunfähig machen, auch wenn das vielleicht, wie Sie uns versichert haben, gar nicht nötig ist.“
Einen Augenblick lang schwieg Hellishomar; dann sagte er: „Unter Betäubung werden von groalterrischen Messerheilern ohnehin keine Eingriffe vorgenommen, deshalb würde ich weder Ihre Vorgehensweise als anomal betrachten noch die Beschwerden, die mit dem wichtigen Zugangseinschnitt zusammenhängen. Außerdem haben Seldal, Lioren und Sie selbst mir versichert, bei den meisten Lebensformen, mit denen Sie medizinische Erfahrung haben, tiefe Eingriffe im Schädelbereich vornehmen zu können, ohne Beschwerden zu verursachen, da der durch die Dicke der Schädeldecke gewährte Schutz den Einsatz von Schmerzsensoren im Gehirn selbst überflüssig macht.“
„Das stimmt“, bestätigte Conway. „Doch die groalterrische Lebensform ist anders als alle anderen Spezies, mit denen das Orbit Hospital Erfahrung hat, darum ist nicht sicher, ob diese Umstände auch für Sie gelten.
Ein weiterer und wichtigerer Grund, weshalb wir keine Betäubungsmittel einsetzen, ist der, daß wir gezwungen sind, Sie während der Operation von Zeit zu Zeit um einen Bericht über die subjektiven Auswirkungen unseres Eingriffs zu bitten“, fuhr der Diagnostiker fort, bevor Hellishomar etwas sagen konnte. „Die hohe Strahlungsstärke des Scanners, die wir benötigen, um den Schädel zu durchdringen und das Innere zu erfassen und graphisch darzustellen, wird sich, auch wenn sie an sich harmlos ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die dortigen Nervennetze auswirken und zu einem.“
„All das hat mir bereits Lioren erklärt“, unterbrach ihn Hellishomar plötzlich.
„Und ich erkläre es Ihnen noch einmal, weil ich die Operation durchführe und mir absolut sicher sein muß, daß sich der Patient aller Risiken voll und ganz bewußt ist“, entgegnete Conway. „Ist das bei Ihnen der Fall?“
„Ja.“
„Na gut“, gab Conway nach. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie über den Eingriff wissen wollen? Oder irgend etwas, das Sie sagen oder tun möchten, wozu auch durchaus gehören könnte, daß Sie Ihre Meinung ändern und die Operation lieber ganz absagen wollen? Denn das könnten Sie immer noch tun, ohne in unseren Augen an Selbstachtung zu verlieren. Offen gesagt, würde ich das sogar für eine kluge Entscheidung halten.“
„Ich habe zwei Bitten“, antwortete Hellishomar prompt. „Bald werde ich die erste Schädeloperation erleben, die jemals an einem Mitglied meiner Spezies vorgenommen worden ist. Sowohl als Messerheiler als auch als Patient bin ich an dem Eingriff höchst interessiert, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir während der Operation über einen Kanal des Translators Ihre Maßnahmen und die Gründe dafür beschreiben würden. Auf einem anderen Kanal werde ich mich gleichzeitig vielleicht mit Lioren unterhalten müssen, aber in vertraulichem Rahmen. Falls dieses Gespräch notwendig wird, darf niemand im Hospital unseren Wortwechsel mithören. Das ist meine zweite und wichtigere Bedingung.“
Sowohl der Diagnostiker als auch der Chefpsychologe wandten sich um und blickten Lioren an. Er hatte die beiden bereits vorgewarnt, daß Hellishomar einen derartigen Wunsch äußern und sich keineswegs mit einer abschlägigen Antwort abfinden würde.
In beruhigendem Ton sagte Conway: „Ich beabsichtige ohnehin, alle operativen Maßnahmen zu kommentieren und Bild und Ton für Ausbildungszwecke aufzuzeichnen, deshalb gibt es keinen Grund, weshalb Sie das nicht mithören sollten. Eine zweite Sprechverbindung können wir Ihnen ebenfalls zur Verfügung stellen, allerdings werden Sie die nicht selbst kontrollieren können, weil Ihre Greiforgane für den Betätigungsmechanismus zu groß sind. Ich schlage vor, beide Kanäle von Lioren steuern zu lassen und allen vertraulichen Mitteilungen, die Sie Lioren zu machen haben, seinen Namen voranzustellen, damit dann alle anderen von dem Gespräch ausgeschlossen werden können. Wäre das eine zufriedenstellende Lösung?“
Hellishomar antwortete nicht.
„Daß die Intimsphäre für Sie in solchen Momenten von großer Bedeutung sein kann, verstehen wir“, mischte sich plötzlich O'Mara ein, wobei er auf eins der gewaltigen geschlossenen Augen des Patienten blickte. „Als Chefpsychologe dieser Einrichtung besitze ich praktisch die Machtbefugnis eines Elternteils. Ich kann Ihnen versichern, Hellishomar, daß Ihre zweite Sprechverbindung privat und abhörsicher sein wird.“
Die Neugier des Chefpsychologen auf das, worüber Hellishomar und Lioren gesprochen hatten und noch sprechen würden, war einerseits persönlich, andererseits berufich, vor allem aber ungeheuer groß. Doch selbst wenn in O'Maras Stimme Enttäuschung mitgeschwungen hatte, war sie in der Übersetzung durch den Translator verlorengegangen.
„Dann wäre es mir lieb, wenn es jetzt mit möglichst wenig Verzögerung weitergehen würde, damit ich letztendlich nicht doch noch Diagnostiker Conways guten Rat befolge und meine Meinung ändere“, drängte Hellishomar.
„Doktor Prilicla, was meinen Sie dazu?“ erkundigte sich Conway leise.
„Die emotionale Ausstrahlung von Freund Hellishomar bestätigt seinen Entschluß, endlich fortzufahren, voll und ganz“, antwortete der Empath, der sich zum erstenmal am Gespräch beteiligte. „Unter diesen Umständen ist seine Ungeduld natürlich, und der Ausdruck des Zweifels an sich selbst ist vielleicht eher als indirekter Scherz und weniger als Unschlüssigkeit zu verstehen. Der Patient ist bereit.“
Eine starke Woge der Erleichterung brach über Lioren herein, die so heftig war, daß er sehen konnte, wie auch Prilicla davon ergriffen wurde. Doch das Zittern des Empathen war langsam und regelmäßig und den Bewegungen eines würdevollen Tanzes vergleichbar — der Beweis dafür, daß die emotionale Ausstrahlung angenehm und nicht schmerzhaft war. Obwohl der Cinrussker von O'Mara in jeder Phase beraten worden war, hatte er fünf Tage und fast genauso viele Nächte lang Argumente vorbringen müssen, die manchmal genau durchdacht, dann aber auch wieder rein emotional gewesen waren, um Hellishomars Zustimmung zur Operation zu bekommen. Erst jetzt wußte Lioren, daß der Chefpsychologe Erfolg damit gehabt hatte.
„Na gut“, sagte Conway. „Falls das Team bereit ist, fangen wir an. Doktor Seldal, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nun mit der Öffnung des Patienten beginnen würden.“
Die Instrumente, die für diesen riesigen Eingriff benötigt wurden — die Bohr- und Schneidemaschinen und Schläuche zum Absaugen, die so groß und schwer waren, daß sie teilweise eigens von jemandem bedient werden mußten — , hingen rings um die beteiligten Ärzte an ihrem Platz. Auf Lioren hatten die Vorbereitungen den Eindruck gemacht, sie würden eher irgendwelchen Bergwerksarbeiten als einem operativen Eingriff dienen. Doch die Worte des Diagnostikers waren ein weiteres Beispiel für einen indirekten Scherz, denn das Operationsteam war schon lange bereit und wartete, und Seldal war längst ausführlich über jenen Teil, den er in den einzelnen Phasen der Operation übernehmen sollte, instruiert worden.
Höflichkeit ist zwar ein Schmiermittel, das die Reibung vermindert, dachte Lioren, aber letztendlich vergeudet man nur Zeit damit.
Auch wenn Hellishomar einer riesigen Spezies angehörte und einen Kopf besaß, der selbst im Verhältnis zu seinem gewaltigen Körper groß war, versetzten Lioren die bloßen Ausmaße des Operationsfelds einen Schock. Der Hautlappen, der herausgeschnitten und zurückgeklappt wurde, um die darunter befindlichen Knochen freizulegen, war größer als sämtliche Läufer zusammengenommen, die überall in Liorens Unterkunft ausgelegt waren.
„Doktor Seldal stillt die Blutung unter der Haut, indem er die aufgeschnittenen Kapillargefäße abklemmt, die bei diesem Patienten eher Ähnlichkeit mit größeren Blutgefäßen haben“, sagte Conway gerade. „Währenddessen bohre ich senkrecht ein Loch durch den Schädel bis zur obersten Hirnhautschicht. An der Spitze des Bohrers sitzt eine an den Hauptmonitor angeschlossene Miniaturkamera, die uns zeigen wird, wann wir bis zur Oberfläche der Hirnhaut vorgedrungen sind. Da wären wir schon.
Der Bohrer ist aus dem Knochen herausgezogen worden, und jetzt wird eine Hochgeschwindigkeits-Stichsäge von der gleichen Länge in Aktion treten“, fuhr der Diagnostiker ein paar Minuten später fort. „Mit dieser Säge wird das ursprüngliche Bohrloch seitlich vergrößert, bis in der Schädeldecke eine runde Öffnung von ausreichendem Durchmesser entstanden ist, um es den Chirurgen, nachdem der dadurch erzeugte Knochenpfropfen entfernt worden ist, zu ermöglichen, in den Schädel einzusteigen und dort ungehindert zu arbeiten. Das war's. Der Pfropfen wird jetzt entfernt und bei mäßiger Temperatur gekühlt, bis wir ihn wieder einsetzen. Wie geht es dem Patienten?“
„Die emotionale Ausstrahlung von Freund Hellishomar läßt auf leichte oder auf ernsthaftere Beschwerden schließen, die er aber fest im Griff hat“, berichtete Prilicla umgehend. „Auch Gefühle wie Unsicherheit und Angst, die unter diesen Umständen normal sind, kann ich wahrnehmen.“
„Eine Antwort von mir ist anscheinend überflüssig“, merkte Hellishomar an, wobei er das Auge öffnete, das dem Bildschirm am nächsten war.
„Im Moment ja“, bestätigte Conway. „Aber später werde ich genau die Hilfe benötigen, die nur Sie mir leisten können. Keine Angst, Hellishomar, das machen Sie ganz prima. Seldal, steigen Sie ein.“
Plötzlich wünschte sich Lioren, ihm würde etwas Beruhigendes einfallen, das er dem Patienten sagen könnte, denn schließlich trug er die Verantwortung für das, was hier geschehen sollte, da er O'Mara, Conway und zuletzt auch Hellishomar von der Notwendigkeit der Operation überzeugt hatte. Doch er konnte es nicht vor sich rechtfertigen, unaufgefordert die Unterhaltung des Operationsteams zu unterbrechen, und die private Sprechverbindung war für ihn so lange gesperrt, bis Hellishomar seinen Namen nannte. Darum schwieg er und sah weiterhin aufmerksam zu.
Der knöcherne Pfropfen, der wie ein rosa gesprenkelter, gehobelter Stamm von einem riesigen Baum aussah, wurde nun ganz herausgezogen, während Seldal, dessen drei spindeldürre Beine zusammengebunden waren, damit möglichst wenig von seinem Körper hervorragte, in Conways Rucksack gehoben wurde, so daß sein langer biegsamer Hals, der Kopf und der Schnabel frei waren. Fest um Brust und Bauch geschnallt trug Conway einen ähnlich aussehenden Rucksack, der die Instrumente und die aufblasbare Ausrüstung enthielt, die die beiden Chirurgen benutzen wollten. Die Beine des Diagnostikers waren zwar nicht zusammengebunden, doch seine spitz zulaufenden Füße waren in dicke Polster gehüllt, und seine Beine und der Großteil des Körpers steckten in einem weißen, reibungsarmen Anzug, der über die Schultern reichte und nur die Arme und den Kopf frei ließ. Außerdem trug er einen durchsichtigen Helm, der außen keinerlei vorspringende Teile aufwies und geräumig genug war, um auch noch den erforderlichen Beleuchtungskörpern und Kommunikationsgeräten Platz zu bieten. Seldal, dessen Körper von Natur aus stromlinienförmig war, hielt Kopf und Schnabel fest gegen Conways Helm gepreßt. Der Nallajimer trug nur einen Augenschutz und eine Befestigung für den dünnen Luftschlauch, der in einen Winkel seines Schnabels führte.
„Im Operationsfeld herrscht Schwerelosigkeit“, meldete Conway. „Fertig, Seldal? Wir dringen jetzt in die Wunde ein.“
Ein unsichtbarer Traktorstrahl ergriff ihre gewichtslosen Körper, drehte sie flink um und ließ sie kopfüber in die enge Öffnung hinab. Der dicke Kabelstrang, der aus Schläuchen für die Luftversorgung, zum Absaugen und zur Entnahme von Proben bestand, und die Notrettungsleine rollten wie ein bunter Schwanz hinter ihnen ab. Conways Helmscheinwerfer zeigte, wie die glatten grauen Wände des organischen Schachts, den sie gebohrt hatten, an ihnen vorbeiglitten, und ein vergrößertes und qualitativ verbessertes Bild dieser Vorgänge wurde auf den äußeren Bildschirm übertragen.
„Wir befinden uns jetzt auf dem Boden des Zugangsschachts, auf gleicher Höhe mit der Innenfläche der Schädeldecke, und sind auf etwas gestoßen, das wahrscheinlich der schützenden harten Gehirnhaut entspricht“, berichtete Conway. „Die Membran reagiert auf den festen Druck mit der Hand in einer Weise, die darauf schließen läßt, daß sich hinter ihr eine Flüssigkeit befindet, unter der wiederum das liegt, was die Außenseite des Gehirns selbst zu sein scheint. Eine genaue Schätzung der Entfernung ist schwierig, weil entweder die Membran oder die Flüssigkeit oder vielleicht auch beides nicht vollständig durchsichtig ist. Versuchsweise mache ich jetzt einen kurzen Schnitt durch die Membran. Oh, das ist eigenartig.“
Einen Augenblick später meldete sich der Diagnostiker erneut: „Ich habe den Schnitt verlängert und auseinandergezogen, aber es kommt trotzdem zu keinem nennenswerten Austritt von Flüssigkeit. Aha, daran liegt es also.“
Als Conway damit fortfuhr zu erklären, daß die Gehirnflüssigkeit, die das Gehirn vor Erschütterungen zu schützen hilft, indem sie als Schmiermittel zwischen der Innenseite des Schädels und dem Gehirn dient, bei den Groalterris im Gegensatz zu den anderen Spezies, die er kannte, nicht flüssig war, klang seine Stimme zufrieden und aufgeregt zugleich. Statt dessen handelte es sich hier um eine durchsichtige, halbfeste Substanz von der Konsistenz eines dünnen Gelees. Als eine geringe Menge dieser gallertartigen Masse zur näheren Untersuchung herausgeschnitten wurde, schloß sie sich sofort wieder zusammen, ohne eine Spur des Schnitts zu hinterlassen. Das war Glück, da Conway und Seldal aufgrund dieses Umstands durch die Hirnhäute dringen konnten, ohne sich über die Eindämmung von Flüssigkeitsverlusten Sorgen machen zu müssen. Außerdem konnten sie sich gegen minimalen Widerstand und unter geringer Zeiteinbuße seitlich zwischen der Gehirnoberfläche und der Hirnhautschicht zum ersten Ziel bewegen, bei dem es sich um einen tiefen Spalt zwischen zwei Windungen handelte, der sich in dem Bereich befand, den man als Sitz der telepathischen Fähigkeiten vermutete.
„Bevor wir weitermachen: Ist sich der Patient irgendwelcher ungewöhnlichen Körperempfindungen oder psychologischen Auswirkungen bewußt?“ erkundigte sich Conway.
„Nein“, antwortete Hellishomar.
Für einige Momente ermöglichte der Bildschirm flüchtige Blicke auf Conways Hände und Seldals Schnabel, die vom Helmscheinwerfer hell erleuchtet waren, als sich die beiden Chirurgen vorsichtig durch die klare Gallertmasse zwischen den glatten inneren Hirnhäuten und der äußerst runzligen Außenfläche der Hirnrinde hindurch in den schmalen Spalt hineinschoben.
„Soweit wir das einschätzen können, erstreckt sich dieser Spalt von unserem Standort aus etwa zwanzig Meter zu beiden Seiten und weist eine durchschnittliche Tiefe von drei Metern auf“, meldete Conway. „An der Oberfläche des Gehirns sind die Windungen deutlich voneinander getrennt, aber mit zunehmender Tiefe beginnen sich ihre Wände aneinanderzudrücken. Der Druck ist nicht so stark, daß er lebensbedrohlich wäre, und um die Wände auseinanderzuschieben, ist nur ein geringer Kraftaufwand vonnöten. Unsere Bewegungsfreiheit ist dadurch auch nicht eingeschränkt, dennoch würde dieser Umstand jeden chirurgischen Eingriff, der eventuell erforderlich wird, schwer behindern, und wir wären derart schnell erschöpft, daß wir nicht weiterarbeiten könnten. Bald werden wir die Reifen anlegen müssen.“
Da Hellishomar nicht direkt mit Lioren gesprochen hatte, auch nicht über die allgemein zugängliche Verbindung, konnte er nicht wissen, was dem Patienten durch den Kopf ging. Doch Priliclas hauchdünne Flügel schlugen langsam, und aus der Beständigkeit seines Schwebeflugs ging klar hervor, daß es auf dieser Station niemanden gab, der unangenehme Emotionen ausstrahlte.
„Beruhigen Sie sich, Freund Lioren“, redete ihm der Empath mit leiser Stimme zu. „Zur Zeit haben Sie mehr Angst als Freund Hellishomar.“
Stark erleichtert wandte Lioren seine Aufmerksamkeit wieder dem Hauptbildschirm zu.
„Dies ist der Lappen, in dem sich die höchste Konzentration von metallischen Spurenelementen befindet“, berichtete Conway. „Wir haben ihn ausgewählt, weil die telepathische Funktion bei den wenigen anderen bekannten Spezies, die über telepathische Fähigkeiten verfügen, mit ähnlichen Spurenelementen in Zusammenhang gestanden hat. Und obwohl der Funktionsmechanismus unklar bleibt, deutet die höhere Metallkonzentration darauf hin, daß ein organischer Sender und Empfänger vorhanden sind. Es ist die mögliche Schädigung der höheren Gehirnfunktionen des Patienten und auch der telepathischen Fähigkeiten, die wir untersuchen und beheben möchten.
Bedauerlicherweise ist unsere graphische Darstellung dieses Bereichs ungenau“, fuhr Conway fort. „Das liegt daran, daß es aufgrund des Volumens und der Dichte des Schädelinhalts erforderlich wäre, den Tiefenscanner mit äußerst hohem Energiepegel einzusetzen, was zur Störung der neuralen Vorgänge führen könnte.
Aus diesem Grund werden wir den tragbaren Scanner einsetzen, der mit geringer Energiestärke betrieben wird, aber immer kurz und nur im Notfall.
Durch die frühere Mithilfe des Patienten, der auf unsere Anweisung hin willkürliche Muskelbewegungen ausgeführt und sich Versuchen mit äußeren Reizen durch Berührung, Druck und Temperatur unterzogen hat, wobei wir dann die örtlich beschränkten Zunahmen der Nervenaktivität verfolgt haben, sind wir jetzt imstande, diese Bereiche zu erkennen und von der Untersuchung auszuschließen. Doch diese Kenntnisse haben wir nur durch einen Sensor erhalten, bei dem es sich um ein Spürgerät handelt, das zwar keine störende Strahlung erzeugt, das dafür aber auch nicht annähernd so genau wie der Scanner arbeitet.“
Daß es am Hospital beim gegenwärtigen Personal oder auch unter den zukünftigen Auszubildenden irgend jemanden gab, der nicht den Unterschied zwischen einem Scanner und einem Sensor kannte, konnte sich Lioren nicht vorstellen, und deshalb nahm er an, Conway hatte diesen Punkt für den Patienten erklärt.
„Wir hatten damit gerechnet, daß das Gehirn einer Großlebensform entsprechend der gewaltigen Körpermasse offener und gröber strukturiert wäre“, setzte Conway seine Ausführungen fort. „Wie wir jetzt erkennen können, bewegen sich zwar die Adern innerhalb der erwarteten riesigen Größenordnung, doch das Nervennetz scheint genauso dicht und fein strukturiert wie das eines Lebewesens von geringerer Körpergröße zu sein. Ich kann nicht. es übersteigt vollkommen meine Fähigkeiten, genau abzuschätzen, zu welchen geistigen Leistungen ein Gehirn von dieser Größe und Kompliziertheit fähig ist.“
Lioren starrte auf das vergrößerte Bild von Conways Händen, während sich diese langsam mit jeweils nach außen gedrehten Flächen nach vorne ausstreckten und dann seitwärts aus dem Blickfeld verschwanden, als schwämme der Diagnostiker unaufhörlich durch ein Meer aus Fleisch. Einen Augenblick lang versuchte er sich an Hellishomars Stelle zu versetzen, doch die Vorstellung eines weißen, glitschigen, zweiköpfigen Insekts, das in seinem Gehirn umherkroch, war dermaßen abstoßend, daß er ein plötzliches Ekelgefühl unterdrücken mußte.
Als Conway fortfuihr, wurde dessen Stimme unruhiger, und seine Atemgeräusche waren nun deutlicher als zuvor zu hören. „Weil wir uns nicht absolut sicher sein können, was unter diesen Umständen normal ist oder nicht, scheint die Untersuchung bislang keinerlei Anzeichen für eine strukturelle Abnormität oder Funktionsstörung ergeben zu haben. Durch den zunehmenden Druck der Wände des Spalts wird uns das Weitergehen allmählich immer mehr erschwert. Zuerst hatte ich diesen Umstand einer wachsenden Erschöpfung meiner Armmuskeln zugeschrieben, doch Seldal, der ja gar keine Arme besitzt, die ermüden könnten, stellt eine ähnliche Zunahme des Drucks auf die Außenfläche des Rucksacks fest, in dem er steckt. Übrigens halte ich das nicht für einen durch Platzangst hervorgerufenen psychosomatischen Effekt.
Unsere Beweglichkeit und das Blickfeld sind stark eingeschränkt“, fügte Conway hinzu. „Wir legen jetzt die Reifen an.“
Lioren verfolgte, wie sich Conway damit abmühte, den ersten Reifen über seinen und Seldals Kopf zu ziehen und ihn mit Hilfe des unglaublich biegsamen Halses des Nallajimers in Hüfthöhe in die richtige Lage zu bringen, bevor er das Ventil des Behälters mit der komprimierten Luft öffnete und den Reifen um sich herum aufblasen ließ. Auf Knie- und Schulterhöhe wurden zwei weitere Reifen aufgeblasen und durch in Längsrichtung verlaufende Distanzstücke zu einem hohlen, starren Zylinder verbunden. Nachdem diese erste Konstruktion aus drei Reifen fertig war, fügten die beiden Diagnostiker weitere Reifen und Distanzstücke hinzu, um das Gebilde nach vorne zu verlängern. Indem sie die Luft aus dem hintersten Ring ließen, ihn abnahmen und wieder ganz vorne befestigten und die Länge der Distanzstücke veränderten, konnten sie den hohlen Zylinder vorwärtsbewegen und in ihm in jede gewünschte Richtung gehen. Zudem ermöglichte die offene Konstruktion einen Rundumblick und vollkommene Bewegungsfreiheit zum Operieren.
Jetzt waren Conway und Seldal nicht mehr Schwimmer in einem beinahe festen Ozean, wie Lioren meinte, sondern Bergarbeiter, die durch einen Tunnel vordrangen, den sie mit sich führten.
„Bei der einen Wand des Spalts stoßen wir auf wachsenden Widerstand und zunehmenden Druck“, meldete Conway. „Das Zellgewebe auf der Seite scheint gleichzeitig gedehnt und zusammengedrückt zu sein. Dort und auch da drüben können Sie sehen, wo die BlützufUhr unterbrochen worden ist. Einige der Blutgefäße, in denen sich das Blut gesammelt hat, sind angeschwollen und andere eingeschrumpft und fast leer. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht um einen natürlichen Zustand, und daß in diesem Bereich kein Wundbrand aufgetreten ist, deutet darauf hin, daß die Blutzirkulation zwar stark behindert, aber bislang nicht vollkommen unterbunden wird. Außerdem läßt die organische Anpassung, die hier bereits stattgefunden hat, darauf schließen, daß dieser Zustand schon seit langem besteht.
Um den Grund und die Quelle dieses Zustands herauszufinden, muß ich scannen“, fuhr Conway fort. „Ich werde den Handscanner nur kurz und mit minimaler Durchdringungsstärke einsetzen, und zwar jetzt. Wie fühlt sich der Patient?“
„Fasziniert“, antwortete Hellishomar.
Der Terrestrier stieß ein leises Bellen aus. „Vom Patienten werden keine emotionalen oder zerebralen Auswirkungen gemeldet. Ich werde es noch einmal mit ein bißchen höherer Durchdringungsstärke versuchen.“
Für einige Sekunden erschien Conways Scannerbild auf dem Hauptbildschirm, dann löste es sich wieder auf. Zur eingehenden Betrachtung wurde die Aufzeichnung als Standbild auf einen daneben stehenden Bildschirm übertragen.
„Der Scanner zeigt eine weitere Membran in einer Tiefe von annähernd achtzehn Zentimetern“, setzte Conway seinen Bericht fort. „Sie ist mehr als anderthalb Zentimeter dick, hat eine dichte, faserige Struktur und weist eine konvexe Wölbung auf, die einen kugelförmigen Körper von etwa drei Metern Durchmesser umschließen würde, wenn man sie mit gleicher Krümmung fortsetzte. Die darunter liegende Gewebestruktur ist mir im einzelnen noch nicht klar, sie zeigt jedoch einen deutlichen Unterschied zu denen, auf die wir bisher gestoßen sind. Vielleicht ist dies die Stelle, an der sich der Lappen befindet, der für die telepathischen Fähigkeiten verantwortlich ist. Aber es gibt noch andere Möglichkeiten, die nur durch eine chirurgische Untersuchung und eine Gewebeanalyse auszuschließen sind. Doktor Seldal wird den Einschnitt durchführen und Gewebeproben entnehmen, während ich die Blutung stille.“
Der Hauptbildschirm zeigte eine Großaufnahme von Conways Händen, die wegen der Nähe zur Helmkamera riesengroß und verzerrt aussahen, als sie dem nallajimischen Chefarzt ein Skalpell über den Schnabel stülpten. Dann schob sich ein Zeigefinger vor, um die genaue Stelle und die Ausdehnung des erforderlichen Einschnitts zu bezeichnen.
Als Seldals Hinterkopf und Hals kurz das Operationsfeld verdunkelten, bewegte sich plötzlich ein verschwommener Fleck über den Bildschirm.
„Wie Sie sehen, hat der erste Schnitt die Membran nicht freigelegt, doch die Ränder der Wunde sind durch den dahinter bestehenden Druck so weit auseinandergedrückt worden, daß, wenn wir die Lage nicht entschärfen, indem wir den Schnitt sofort vergrößern, die ernste Gefahr besteht, daß er an beiden Enden aufreißt. Seldal, würden Sie ein bißchen tiefer schneiden und den. Oh, verdammt!“
Es kam, wie Conway es vorhergesehen hatte. Der Schnitt war an beiden Enden aufgerissen, und nun schwebten schwerelose Kügelchen aus Blut aus ihm heraus und verdunkelten das ganze Operationsfeld. Seldal hatte das Skalpell abgelegt, denn jetzt kam sein Schnabel ins Blickfeld, der das Absauggerät packte und es fachmännisch am Schnitt entlang- und in ihm herumbewegte, damit Conway die Blutung finden und stillen konnte. Innerhalb weniger Minuten lag die klaffende Wunde, die jetzt aufgerissene, unebene Ränder hatte und dreimal so lang wie ursprünglich war, wieder frei und enthüllte auf ihrem Boden eine lange, schmale Ellipse, die völlig dunkel war.
„Wir haben eine starke, biegsame und lichtabsorbierende Membran freigelegt und zwei Gewebeproben entnommen“, meldete sich der Diagnostiker wieder zu Wort. „Eine schicken wir Ihnen gerade zur näheren Untersuchung durch den Absaugschlauch nach draußen, doch die Anzeige meines Analysators deutet auf eine organische Substanz hin, die zu dem umliegenden Gewebe überhaupt nicht paßt. Ihre Zellstruktur ist eher für eine Pflanze charakteristisch als für. Was passiert denn jetzt, verdammt noch mal! Wir können spüren, wie sich der Patient bewegt. Er muß sich absolut reglos verhalten! Wir dürften uns eigentlich nicht an einer Stelle befinden, an der wir aus Versehen die Bewegungsmuskulatur stimulieren können. Hellishomar, was ist los?“
Die Worte des Diagnostikers gingen draußen in dem Tumult auf der Station unter, wo die Traktor- und Pressorstrahlenprojektoren optische und akustische Überlastungssignale von sich gaben, während sich die Techniker, die sie bedienten, abmühten, Hellishomars sich krümmenden Körper ruhigzuhalten. Der gewaltige Kopf des Groalterris warf sich von einer Seite zur anderen gegen die unsichtbaren Fesseln, und die Enden des Einschnitts rissen weiter auf und bluteten wieder. Prilicla wurde von einem Gefühlssturm geschüttelt, und alle Beteiligten schrien sich gegenseitig Fragen, Anweisungen oder Warnungen zu.
Doch es war Hellishomar, der sich — plötzlich und mit einem einzigen Wort — erfolgreich über den Lärm hinweg Gehör verschaffte.
„Lioren!“