25. Kapitel

„Ich bin hier“, meldete sich Lioren, nachdem er schnell auf den abhörsicheren Kanal geschaltet hatte. Doch die Laute, die der Patient von sich gab, wurden vom Translator nicht übersetzt.

„Hellishomar, hören Sie bitte auf, sich zu bewegen“, ermahnte ihn Lioren in eindringlichem Ton. „Sie könnten sich schwer verletzen, vielleicht sogar töten. Und andere auch. Was beunruhigt Sie? Bitte sagen Sie es mir. Haben Sie Schmerzen?“

„Nein“, antwortete Hellishomar.

Dem Patienten näher auseinanderzusetzen, daß er sich selbst umbringen könnte, war nach Liorens Dafürhalten reine Zeitverschwendung; schließlich war die Anwesenheit des Groalterris im Hospital auf den Versuch, genau das zu tun, zurückzuführen. Doch die Mahnung, andere zu gefährden, mußte trotz des inneren Aufruhrs bis zu Hellishomar durchgedrungen sein, denn die Heftigkeit seiner Gegenwehr ließ allmählich nach.

„Bitte, was beunruhigt Sie?“ hakte Lioren noch einmal nach.

Zunächst kam die Antwort langsam, als müßte jedes einzelne Wort erst eine dicke Mauer aus Angst, Scham und Selbstabscheu durchbrechen; doch dann sprudelten die Worte plötzlich in einem fast ununterbrochenen Schwall hervor, der all diese Hindernisse einfach überwand. Während er Hellishomar zuhörte, der ihm sein ganzes Herz ausschüttete, verwandelte sich Liorens anfängliche Verwirrung allmählich in Zorn und dann in Traurigkeit. Nach seiner Meinung war das alles hier vollkommen lächerlich. Wäre er ein Terrestrier gewesen, hätte er inzwischen über die Unwissenheit eines Angehörigen der intelligentesten Spezies, die die Föderation kannte, vor Lachen gebrüllt. Doch wenn Lioren seit seiner Mitarbeit in O'Maras Abteilung etwas gelernt hatte, dann die Tatsache, daß emotionale Qualen die subjektivste aller Erscheinungen darstellten und am schwersten zu lindern waren.

Aber hier hatte er es mit jemandem zu tun, der nach der groalterrischen Vorstellung von der Heilkunst medizinisch ausgebildet worden war. Es handelte sich um einen jungen und möglicherweise geistig zurückgebliebenen Messerheiler, dessen Erfahrung sich auf periphere, an alten Mitgliedern seiner Spezies vorgenommene Operationen beschränkte, und dieser Groalterri war nun zum erstenmal Zeuge eines Eingriffs am Gehirn, und zwar am eigenen. Unter diesen Umständen hielt Lioren Unwissenheit für verzeihlich, sofern sie eine vorübergehende Erscheinung blieb.

„Moment mal“, warf Lioren schnell in die erste kurze Pause in Hellishomars Wortschwall ein. „Hören Sie mir jetzt genau zu, beruhigen Sie sich und seien Sie vor allem still! Bei der schwarzen Wucherung in Ihrem Gehirn handelt es sich keineswegs um die stoffliche Verkörperung Ihrer Schuld, und sie wird auch nicht durch böse Gedanken oder irgendeine Sünde größer, die Sie begangen haben. Daß es sich um eine bösartige und gefährliche Geschwulst handelt, ist zwar wahrscheinlich, aber es ist nicht Ihr Charakter oder Ihre Seele oder irgendein Teil Ihres.“

„Doch!“ fiel ihm Hellishomar ins Wort. „Genau an der Stelle dieser Wucherung befindet sich mein Ich. Dort entspringen meine Gedanken und Gefühle, und auch meine schwere Sünde — der Selbstmordversuch — hat dort ihren Ursprung. Und die Wucherung ist so schwarz, daß es keine Hoffnung mehr gibt.“

„Nein“, widersprach Lioren in bestimmtem Ton. „Nach der Überzeugung aller intelligenten Lebewesen, die ich kenne, hat die Seele ihren Sitz im Gehirn, normalerweise ein kurzes Stück hinter den Sehorganen. Das glauben sie, weil die Seele sogar nach einem schweren Trauma oder einer Verstümmelung des Körpers unversehrt bleibt. Manchmal treten körperliche Schädigungen oder Krankheiten auf, die zu einer Veränderung der Persönlichkeit führen. Da eine solche Veränderung jedoch nicht willentlich herbeigeführt ist, kann der Betreffende nicht für sein späteres Verhalten verantwortlich gemacht werden.“

Hellishomar blieb stumm, und seine Körperbewegungen hatten sich soweit vermindert, daß die Überlastungslampen an den Traktorstrahlenprojektoren nicht mehr leuchteten.

Schnell fuhr Lioren fort: „Möglicherweise ist die Unfähigkeit Ihres Gehirns, sich bis zu dem Punkt zu entwickeln, an dem die direkte geistige Verbindung mit den Eltern hergestellt werden kann, auf einen genetischen Defekt zurückzuführen. Vielleicht waren die Vergehen, die Sie sich zuschreiben, aber auch Folge einer Erkrankung oder Verletzung des Gehirns, und jetzt könnten die Gründe für diese unrechtmäßigen Gedanken und Taten gefunden worden sein. Sie müssen wissen, daß es sich bei der schwarzen Substanz, die Conway und Seldal freigelegt haben, nicht um Ihre Persönlichkeit handelt, weil die Seele, wie Sie mir selbst erzählt haben, unstofflich ist. Wenn die Eltern sterben und ihre Körper zerfallen und die Materie an den Planeten zurückgeben, dann — so haben Sie es mir jedenfalls selbst erzählt — verlassen deren Seelen Groalter, um mit ihrer endlosen Erforschung des Universums zu beginnen.“

„Während meine eigene Seele wie ein Stein im Schlamm des Meeresbodens versinkt, um für ewig in Dunkelheit zu verfaulen“, warf Hellishomar ein, wobei er erneut gegen die Traktor- und Pressorstrahlen anzukämpfen begann.

Lioren spürte, daß er die — wenn auch nur schwache — Kontrolle, unter die er die Lage gebracht hatte, verlieren würde, wenn er nicht schleunigst etwas sagte und die Diskussion von der Metaphysik auf die Medizin lenkte. Indem er eins seiner Augen auf den an der Seite stehenden Bildschirm richtete, auf dem die Ergebnisse von Conways Analyse angezeigt wurden, fuhr er fort: „Die Wucherung könnte sehr wohl auf dem Meeresgrund auf Ihrem Heimatplaneten verfaulen, wenn das der Ort ist, wo sie Ihrem Wunsch nach hin soll, doch es ist wahrscheinlicher, daß sie in einer Müllverbrennungsanlage im Orbit Hospital enden wird. Worum es sich bei diesem Gewebe genau handelt, weiß ich zwar nicht, aber es ist keinesfalls Ihre Seele oder sonst irgendein Teil von Ihnen. Es ist eine vollkommen fremde Substanz, eine pflanzliche Lebensform, eine Art Eindringling. Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich und denken Sie nach. Denken Sie vor allem als groalterrischer Messerheiler und Arzt nach und versuchen Sie, sich daran zu erinnern, ob Sie in Ihrer früheren Praxis schon auf etwas gestoßen sind, das dieser schwarzen Wucherung ähnelt. Denken Sie bitte sorgfältig nach.“

Mehrere Augenblicke lang schwieg Hellishomar und verhielt sich absolut reglos. Auf der Station herrschte wieder Ruhe, und Lioren konnte die Stimme von Conway hören, der gerade mitteilte, er stehe im Begriff, die Operation fortzusetzen.

„Warten Sie bitte, Doktor Conway und Doktor Seldal“, wandte Lioren rasch ein, indem er kurz auf den allgemeinen Kanal schaltete. „Ich habe womöglich wichtige medizinische Daten für Sie.“ Auf dem Hauptbildschirm signalisierten die Hände des Diagnostikers Zustimmung, und Lioren kehrte wieder auf den vertraulichen Kanal zurück.

„Hellishomar, bitte versuchen Sie, sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, was dieser schwarzen Wucherung ähnelt, egal, ob es sich dabei um die Erinnerung an eine Erfahrung aus jüngster Zeit oder um weniger zuverlässige frühe Kindheitserinnerungen oder auch nur um die Erfahrungen anderer handelt, die auf Hörensagen beruhen“, forderte er den Groalterri erneut auf. „Können Sie sich daran erinnern, mit einer solchen Wucherung in Berührung gekommen zu sein oder eine Verletzung erlitten zu haben, die sich nicht unbedingt im Schädelbereich befunden haben muß, es der Wucherung jedoch ermöglicht haben könnte, in den Blutkreislauf einzudringen?“

„Nein“, antwortete Hellishomar knapp.

Lioren dachte kurz nach. „Wenn Sie sich an solche Vorfälle nicht erinnern, ist es dann möglich, daß Sie sich diese Krankheit als ganz kleines Kind zugezogen haben, so daß Sie sich womöglich gar nicht daran erinnern können? Fällt Ihnen vielleicht irgendeine spätere Bemerkung eines mit Ihrer Betreuung beauftragten älteren Kleinen ein, daß Ihnen etwas Derartiges zugestoßen ist? Möglicherweise hat es die betreffende Person zu der Zeit nicht für wichtig gehalten oder erst etwas davon erwähnt, als Sie schon größer gewesen sind.“

„Nein, Lioren“, unterbrach ihn Hellishomar. „Sie versuchen, mir weiszumachen, diese widerliche Wucherung in meinem Gehirn sei nicht das Resultat falschen Denkens, und das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber wie ich Ihnen bereits gesagt habe, werden nur die sehr alten Eltern von Krankheiten befallen, die Kleinen jedoch niemals. Wir sind kräftig, kerngesund und völlig immun. Die unsichtbaren Angreifer, von denen Sie mir erzählt haben, sind nicht der Rede wert, und diejenigen, die so groß sind, daß man sie sehen kann, werden wie etwas Lästiges behandelt und einfach weggewischt.“

Lioren hatte gehofft, durch die Fragen an den Patienten etwas Nützliches für Conway und Seldal herauszufinden, doch er kam überhaupt nicht voran. Gerade wollte er den beiden Ärzten signalisieren, mit der Operation fortzufahren, als ihm plötzlich ein anderer Gedanke kam.

„Diese Plagegeister, die Sie wegwischen“, sagte er. „Bitte erzählen Sie mir alles, was Ihnen zu denen einfällt.“

Hellishomars Antworten klangen zwar höflich, aber äußerst ungeduldig, als hätte er geahnt, daß die Absicht des Tarlaners einzig und allein darin bestand, seine Gedanken auf andere Dinge zu lenken, und daß die Antworten unwichtig waren. Doch nach und nach gewannen Hellishomars Antworten an Bedeutung, und Liorens Fragen wurden präziser. Langsam verwandelte sich Liorens früheres Gefühl der Hoffnungslosigkeit in Aufregung und zunehmende Besorgnis.

„Nach allem, was Sie mir erzählt haben, bin ich mittlerweile davon überzeugt, daß es sich bei dem Plagegeist, den Sie als ̃̄„Hautstecher“ bezeichnen, um die eigentliche Ursache für Ihre Schwierigkeiten handelt, doch möchte ich jetzt keine Zeit damit vergeuden, erst Ihnen und dann dem Operationsteam meine Gründe für diese Annahme zu erläutern“, sagte Lioren in dringendem Ton. „Eine letzte Frage habe ich allerdings noch. Erlauben Sie mir, mit den anderen darüber zu sprechen? Natürlich werde ich denen nicht alles erzählen, was wir besprochen haben, und nichts von Ihren Gedanken und Ängsten, nur die Einzelheiten Ihrer Beschreibung der Hautstecher und von deren Verhalten.“

Subjektiv schien eine sehr lange Zeit ohne irgendeine Antwort von Hellishomar zu verstreichen. Lioren konnte Conway, Seldal und das Hilfspersonal miteinander sprechen hören. Zwar wurde der Wortwechsel durch Liorens Kopfhörer gedämpft, aber ihre Ungeduld war offensichtlich. Er versuchte es noch einmal.

„Hellishomar, wenn meine Theorie stimmt, könnte Ihr Leben in Gefahr sein, und der Gehirnschaden wird Ihnen mit Sicherheit die Fähigkeit nehmen, in Zukunft noch einen einzigen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Bitte, ich brauche schnellstens Ihre Antwort.“

„Die Messerheiler in meinem Kopf befinden sich ebenfalls in Gefahr“, stellte Hellishomar fest. „Informieren Sie die anderen auch darüber.“

Ohne sich die Zeit zu einer Antwort zu nehmen, schaltete Lioren auf den allgemeinen Kanal und begann zu sprechen.

Obwohl er sich aufgrund der geringen Menge an Informationen, die ihm der Patient gegeben hatte, nicht absolut sicher sein konnte, teilte Lioren den beiden Ärzten mit, er habe keinerlei Zweifel, daß die eigentliche Ursache für die schwarze Wucherung im Gehirn in der Verseuchung durch eine Spezies von parasitären pflanzlichen Schädlingen liege, die von den Groalterri als ̃̄„Hautstecher“ bezeichnet und von ihnen eher für eine regelmäßig wiederkehrende Plage als für eine lebensgefährliche Bedrohung gehalten wurden. Wie Lioren weiterhin berichtete, sei über den Lebenszyklus oder den Fortpflanzungsmechanismus der Hautstecher nichts bekannt, weil sie einfach entfernt werden konnten, indem sie der belästigte Groalterri mit den Greiftentakeln abwischte oder sich mit der befallenen Hautstelle an einem Baum rieb. Zudem habe eine Spezies von der enormen Körpergröße und dem begrenzten Geschick der Groalterri weder den Wunsch noch die Fähigkeit, die Gewohnheiten einer fast mikroskopisch kleinen pflanzlichen Lebensform zu untersuchen.

Die Hautstecher waren schwarz und kugelförmig und von einer pflanzlichen, klebrigen Schicht überzogen, die es ihnen ermöglichte, sich an den Körper des Wirts zu heften und ihren einzelnen Saugrüssel auszustrecken, wobei sie immer noch so klein blieben, daß sie mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen seien. Um mit großer Geschwindigkeit zu der Größe heranzuwachsen, in der sie sich zu einer Plage entwickelten und entfernt wurden, benötigten sie lediglich eine organische Nahrungsquelle sowie Licht und Luft. Vernichtet werden konnten sie, indem man sie zwischen harten Flächen zerquetschte oder verbrannte, und nachdem sie vom Körper entfernt worden waren, trocknete der Rüssel, der einen dünnflüssigen Inhalt hatte, rasch aus und fiel aus der Wunde, die er gebohrt hatte, heraus.

„Nach meiner Theorie ist dieser Fall durch das Eindringen eines einzelnen Hautstechers verursacht worden, der sich entweder durch eine kleine Schramme, an die sich der Patient nicht mehr erinnert, Zugang in den Körper verschafft hat oder durch den Einstich, den der Rüssel eines früheren und erfolglosen Hautstechers hinterlassen hat“, fuhr Lioren fort. „Dann ist er mit dem Kreislauf durch den Körper befördert worden, bis er im Gehirn steckengeblieben ist. Dort hat er zwar über eine praktisch unerschöpfliche Nahrungsquelle verfügt, doch — abgesehen von der winzigen Sauerstofffmenge, die er aus dem Blut aufnehmen konnte, mit dem das umliegende Zellgewebe versorgt wird — nicht über das Licht und die Luft, die sein Metabolismus für ein optimales Wachstum benötigte. Deshalb ist seine Wachstumsgeschwindigkeit gebremst worden, aber er hat sehr viele Jahre, nämlich die ganze äußerst lange Jugend eines Groalterris über Zeit gehabt, um zur gegenwärtigen Größe heranzuwachsen.“

Als Lioren zu Ende gesprochen hatte, hätte die Station bis auf das langsame und fast lautlose Schlagen von Priliclas Flügeln ein Standbild sein können. Conway reagierte als erster.

„Eine geniale Theorie, Lioren“, lobte der Diagnostiker den Tarlaner. „Und während Sie sich diese Information von Hellishomar beschafft und mit ihm darüber diskutiert haben, ist es Ihnen auch noch gelungen, unseren Patienten zu beruhigen. Das war eine reife Leistung. Doch ob Ihre Theorie nun zutreffend ist oder nicht — und ich glaube durchaus, daß sie richtig ist — , müssen wir die Operation wie ursprünglich geplant fortsetzen.“

Als Conway fortfuhr, wechselte sein Tonfall unmerklich von dem eines persönlichen Gesprächs zum Stil eines Vortragenden, der Auszubildende oder Schüler unterrichtet. „Das fremde Gewebe, das wir vorläufig als einen weit über das normale Maß hinaus angewachsenen groalterrischen Hautstecher identifiziert haben, wird in ganz kleinen Stücken herausgeschnitten werden, deren Umfang sich nach dem maximalen Mündungsdurchmesser des Absauggeräts richtet. Um das zu bewerkstelligen, werden viele Stunden geduldiger, sorgfältiger Arbeit notwendig sein, insbesondere in den späteren Phasen, falls Teile der Wucherung an gesundem Gehirngewebe haften. Außerdem werden wir hin und wieder Ruhepausen einlegen oder uns von anderen Chirurgen ablösen lassen müssen. Da sich bei dem Patienten seit seiner Ankunft im Hospital jedoch keine Beeinträchtigung oder Verschlechterung der Denkvorgänge gezeigt hat und die Wucherung schon seit sehr langer Zeit vorhanden ist, kann ihre Entfernung zwar als notwendig, aber auch als keineswegs dringlich erachtet werden. Wir werden also in der Lage sein, uns all die Zeit zu nehmen, die wir brauchen, um sicherzustellen, daß die.“

„Nein!“ widersprach Lioren in barschem Ton.

„Nein?“ Conway klang zu verblüfft, um verärgert zu sein, doch Lioren wußte, daß der Zorn nicht lange auf sich warten lassen würde. „Wieso nicht, verdammt noch mal?“

„Bei allem Respekt“, antwortete Lioren, „wie auf dem Schirm zu sehen ist, wird Ihr erster Schnitt immer breiter und länger. Ich möchte Sie daran erinnern, daß der Hautstecher bei Licht und Luft mit hoher Geschwindigkeit wächst und jetzt nach so vielen Jahren in der luftleeren Dunkelheit beides wieder vorhanden ist.“

Einige Augenblicke lang schimpfte Conway verärgert mit sich selbst; dann wurde der Hauptbildschirm plötzlich schwarz, als der Diagnostiker den Helmscheinwerfer ausschaltete. „Das wird die Wachstumsgeschwindigkeit ein bißchen verlangsamen“, meinte er. „Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“

„Sie brauchen zusätzliche Hilfe beim Operieren“, stellte Thornnastor fest. „Ich werde.“

„Nein!“ schnitt ihm Seldal das Wort ab. „Noch mehr unbeholfene Riesenfüße können wir hier drinnen nun wirklich nicht gebrauchen. Es ist so schon nicht genügend Platz vorhanden, um.“

„So groß sind meine Füße nun auch wieder nicht.“, begann Conway.

„Ihre Füße meine ich auch gar nicht“, stellte Seldal klar. „Tut mir leid, einen Moment lang hatte ich die Befürchtung, daß.“

„Meine Herren Doktoren!“ unterbrach ihn Thornnastor, der plötzlich mit der Stimme und der Autorität des leitenden Diagnostikers des Hospitals sprach. „Jetzt ist nicht der Moment, um sich über die relative Größe der verschiedenen Fortbewegungsgliedmaßen zu streiten. Bitte unterlassen Sie das! Ich wollte gerade sagen, daß der nidianische Chefarzt Lesk-Murog zur Verfügung steht und Ihnen unbedingt assistieren möchte. Seine chirurgische Erfahrung ist ebenso groß, wie seine Füße klein sind. Conway, wie lauten Ihre Anweisungen?“

Als Conway den Helmscheinwerfer einschaltete, wurde der Hauptbildschirm wieder hell.

„Wir brauchen ein Absauggerät mit einer viel größeren Öffnung und einen Schlauch von fünfzehn Zentimetern Durchmesser — oder zumindest von einer solchen Dicke, wie sie Lesk-Murog noch bewältigen kann — , der an eine der Luftzirkulationspumpen angeschlossen ist, damit von der Wucherung große Stücke abgehobelt und rasch abgesaugt werden können. Ohne Licht können wir zwar nicht arbeiten, aber die Luft, die an den Rändern unserer Atemmasken ausgetreten ist, müßten wir entfernen können, indem wir sie zusammen mit den bei der Operation anfallenden Abfallstoffen absaugen und durch ein Edelgas ersetzen, das wir durch den bereits vorhandenen Absaugschlauch hereinpumpen. Das Edelgas dürfte die Wachstumsgeschwindigkeit des Hautstechers genauso wirksam verlangsamen wie das gänzliche Fehlen von Luft, auch wenn das eher zu hoffen als zu erwarten ist.“

„Ich verstehe, Doktor“, sagte Thornnastor. „Wartungstechniker, Sie wissen also, was benötigt wird. Lesk-Murog, machen Sie sich fertig. Aber schnell, alle Mann!“

Subjektiv schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis die Ausrüstung bereitstand und der kleine Lesk-Murog, der wie ein in Plastik gehülltes Nagetier mit langem Schwanz aussah, mit am Rucksack befestigtem neuen Absaugschlauch kopfüber im Zugangseinschnitt verschwand. Conway und Seldal hatten bereits die Außenmembran des Hautstechers durchschnitten, hobelten kleine Stücke ab und steckten sie in den ursprünglichen Absaugschlauch, obwohl es offensichtlich war, daß die schwarze Wucherung trotz ihrer Bemühungen anwuchs, da der Schnitt weiterhin breiter wurde und in beiden Richtungen aufriß. Doch mit dem Eintreffen des nidianischen Chefarztes änderte sich die Lage schlagartig.

„So ist es schon sehr viel besser“, meldete Conway. „Wir kommen jetzt allmählich voran und schneiden die Stücke tief aus der Wucherung heraus. Sobald wir sie genügend ausgehöhlt haben, werden Seldal und Lesk-Murog hineinsteigen und mir die von ihnen herausgeschnittenen Stücke geben, damit ich sie in den Absaugschlauch stecken kann. Seldal und Lesk-Murog, schneiden Sie bitte nicht so große Stücke ab. Wenn das Absauggerät verstopft ist, geraten wir in echte Schwierigkeiten. Und passen Sie gefälligst auf, wo Sie mit dem Messer hinschlagen, Lesk-Murog, ich habe nämlich keine Lust, amputiert zu werden. Wie geht es dem Patienten?“

„Seiner emotionalen Ausstrahlung nach ist er besorgt, Freund Conway. Hinzu kommt eine unterschwellige, aber dennoch große Aufregung“, antwortete Prilicla prompt. „Aber keins dieser Gefühle ist so stark, daß es ihm wirklich zu schaffen macht.“

Da eine weitere Antwort überflüssig war, sagten Hellishomar und Lioren nichts.

Auf dem Hauptbildschirm waren flüchtige Blicke von sich rasch bewegenden terrestrischen und nidianischen Händen und von einem wild pickenden nallajimischen Schnabel zu erhaschen. Die drei dazugehörigen Wesen hantierten mit Instrumenten, die vor der lichtabsorbierenden Schwärze der Wucherung gleißend hell funkelten. Conway unterbrach die Beschreibung des Eingriffs, um anzumerken, daß sie sich derzeit weniger wie Chirurgen vorkämen, die mit einer Operation beschäftigt seien, sondern vielmehr wie Bergarbeiter, die nach fossilen Brennstoffen graben würden. Zwar war die Äußerung des Diagnostikers dem Wortlaut nach eine Klage, doch seine Stimme klang zufrieden, da das Edelgas rings um die drei Ärzte ein weiteres Wachstum des Hautstechers stark hemmte und die Arbeit gut voranging.

„Die Höhlung haben wir soweit vergrößert, daß wir jetzt alle drei imstande sind, in der Wucherung zu arbeiten und unabhängig voneinander gegen sie vorzugehen“, berichtete Conway. „Die Doktoren Seldal und Lesk-Murog können aufrecht stehen, während ich gezwungen bin zu knien. Allmählich wird es hier drinnen sehr warm. Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Temperatur des Edelgases, das Sie hereinpumpen, senken könnten, um das Risiko eines Hitzschlags zu vermeiden. Die Innenfläche der Membran, die die Wucherung umhüllt, haben wir an mehreren Stellen über weite Bereiche freigelegt, und jetzt sackt sie langsam unter dem Gewicht des umliegenden Gehirngewebes zusammen. Bitte erhöhen Sie hier drinnen sofort den Gasdruck, und hindern Sie die Membran daran, über uns zusammenzustürzen. Wie geht es dem Patienten?“

„Keine Veränderung festzustellen, mein Freund“, antwortete Prilicla.

Eine Zeitlang wurde die Operation wortlos fortgesetzt. Was die Chirurgen taten, war klar, und daß es für Conway nichts Neues zu beschreiben gab, leuchtete ebenfalls ein, bis er auf einmal meldete: „Wir haben die Lage des Saugrüssels entdeckt und leeren jetzt seinen flüssigen Inhalt aus. Der Rüssel ist auf die Hälfte seines ursprünglichen Umfangs zusammengeschrumpft und wird nun unter geringfügigem Widerstand herausgezogen. Er ist sehr lang, scheint aber trotzdem vollständig zu sein. Seldal nimmt eine Tiefenuntersuchung vor, um sicherzustellen, daß nichts vom Rüssel im Einstich zurückgeblieben ist. Weitere Rüssel haben wir nicht entdeckt und auch nichts, das irgendwelche Ähnlichkeiten mit Verbindungswegen zu Tochtergeschwülsten aufweist.

Jetzt haben wir die Innenfläche der Membran vollständig freigelegt“, fuhr der Diagnostiker fort. „Wir zerschneiden sie in schmale Streifen, die vom Absauggerät aufgenommen werden können. In dieser Phase wird die Operation zwangsläufig langsam und sorgfältig durchgeführt, weil wir die Membran vom darunter liegenden Gehirngewebe ablösen und es vermeiden müssen, weitere Schäden zu verursachen. Es ist äußerst wichtig, daß der Patient weiterhin vollkommen reglos bleibt.“

Seit beinahe drei Stunden meldete sich Hellishomar erstmals wieder zu Wort. „Ich werde mich nicht bewegen“, versprach er.

„Danke“, entgegnete Conway.

Weitere Zeit verstrich — für das Operationsteam schlich sie dahin, und für die Zuschauer schien sie geradezu endlos zu sein — , bis schließlich jegliche Aktivität auf dem Hauptbildschirm zum Erliegen kam und sich der Diagnostiker wieder meldete.

„Wir haben jetzt die letzten Reste des Hautstechers entfernt“, berichtete Conway. „Wie Sie sehen können, sind die Gehirnwindungen, die von der Wucherung gegeneinander gepreßt worden sind, einem starken Druck ausgesetzt gewesen, doch wir haben keinerlei Anzeichen für Wundbrand gefunden, der auf eine Beeinträchtigung der örtlichen Blutzirkulation zurückzuführen wäre, die genaugenommen nun langsam wieder zunimmt. Zwar ist es gefährlich, eindeutige Erklärungen zum Gesundheitszustand einer bislang unbekannten Lebensform abzugeben oder eine Prognose zu stellen, die auf unvollständigen Werten beruht, doch meiner Ansicht nach ist das Gehirn nur in ganz geringem Maße geschädigt worden. Zudem müßte sich dieser Zustand — vorausgesetzt, er ist nicht auf Erbfaktoren zurückzuführen — von selbst korrigieren, wenn der Druck, der diese Operationshöhlung künstlich aufrechterhält, allmählich auf Null reduziert wird. Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun. Sie gehen als erster, Lesk-Muog“, schloß Conway in forschem Ton. „Seldal, hüpfen Sie wieder in den Rucksack. Wir werden uns zurückziehen und hinter uns alles verschließen.“

Lioren verfolgte auf dem Hauptbildschirm, wie die Ärzte langsam denselben Weg zurückgingen, und machte sich Sorgen. Die Operation war erfolgreich abgeschlossen worden, und die große Menge fremden Gewebes im Gehirn des Groalterris hatte man entfernt, aber war das wirklich der einzige Grund für Hellishomars Probleme gewesen? Schließlich hatte der Groalterri diesen bösartigen Hautstecher den größten Teil seines Lebens im Gehirn sitzen gehabt und hätte nie ein äußerst angesehener Messerheiler werden können, wenn es zu einer Beeinträchtigung der Muskelkoordination gekommen wäre. War es nicht, wie Conway es bereits angedeutet hatte, sehr viel wahrscheinlicher, daß die fehlenden telepathischen Fähigkeiten und die daraus resultierende seelische Anspannung einem nicht zu behandelnden genetischen Defekt zuzuschreiben und somit unheilbar waren? Lioren blickte sich nach Prilicla um, weil er ihn fragen wollte, wie es dem Patienten ging, erinnerte sich dann jedoch, daß der für Emotionen empfängliche Cinrussker gezwungen gewesen war, die Station zu verlassen. Der gesamten cinrusskischen Spezies mangelte es an Durchhaltevermögen, und ihre Mitglieder mußten häufig Ruhepausen einlegen.

Lioren hatte das Gefühl, Hellishomar die Frage lieber selbst zu stellen, anstatt darauf zu warten, bis der Patient ihm seine Seelenqualen kundtat, indem dieser seinen Namen rief. Doch auf einmal hatte er vor der möglichen Antwort zuviel Angst. Conway und Seldal hatten mittlerweile wieder den massiven Knochenpfropfen eingesetzt, den Hautlappen auf dem Schädel vernäht und zogen sich bereits die Operationsanzüge aus, doch Lioren konnte sich immer noch nicht dazu durchringen, Hellishomar die bewußte Frage zu stellen.

„Ich danke Ihnen, Seldal und Lesk-Murog, und natürlich auch allen anderen Mitarbeitern“, sagte Conway, wobei er sich nach allen Richtungen umblickte, um das gesamte Operations- und technische Hilfspersonal mit einzubeziehen. „Sie haben sehr gute Arbeit geleistet. Und insbesondere Sie, Lioren, indem Sie dafür gesorgt haben, daß sich der Patient nicht bewegt hat, als es am notwendigsten war, und weil Sie die Wachstumseigenschaften des Hautstechers herausgefunden haben und uns rechtzeitig vor den Auswirkungen von Licht und Luft gewarnt haben. Das war eine hervorragende Leistung. Ich persönlich halte Ihre Begabungen in der psychologischen Abteilung für vergeudet.“

„Ich nicht“, widersprach O'Mara heftig. Dann fuhr der Chefpsychologe, als schämte er sich des Kompliments, das er Lioren gemacht hatte, fort: „Der Auszubildende ist aufsässig, hat einen Hang zur Heimlichtuerei und besitzt die ärgerliche Neigung, selbst.“

Lioren.

Alle lauschten O'Mara, und niemand schien etwas gehört zu haben. Unwillkürlich streckte Lioren die Hand nach seinem Kommunikator aus, um auf den vertraulichen Kanal zu schalten, wobei er sich verzweifelt fragte, welche tröstenden Worte er um alles in der Welt für dieses riesige Wesen finden könnte, das abermals alle Hoffnung verloren haben mußte. Dann hielt er plötzlich mit dem Finger auf dem Schalter inne, als ihm eine großartige und erfreuliche Erkenntnis kam.

Sein Name war zwar gerufen, aber nicht ausgesprochen worden.

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