13. Kapitel

Seit ihrer Gründung durch die ursprünglich vier zum interstellaren Raumflug befähigten Zivilisationen von Traltha, Orligia, Nidia und der Erde, die das später aus vielen verschiedenen Spezies bestehende Monitorkorps ins Leben gerufen hatten, dessen Aufgabe es war, als Exekutivorgan dem Gesetz Geltung zu verschaffen, hatte sich die galaktische Föderation immer weiter ausgedehnt. Mittlerweile gehörten ihr als Mitglied fünfiindsechzig intelligente Spezies an, und von ihrer Bevölkerungszahl und der Größe ihres Einflußbereichs her hielt sie allmählich das, was ihr ursprünglicher und ein wenig hochtrabender Name einst versprochen hatte. Doch nicht zu allen Planetenzivilisationen, die von Vermessungsschiffen des Korps entdeckt worden waren, wurde uneingeschränkter Kontakt hergestellt, denn einige von ihnen hätten daraus keinen Nutzen gezogen.

Dabei handelte es sich um die Zivilisationen, deren technische und philosophische Entwicklung sehr rückständig war. Das Auftauchen riesiger Schiffe am Himmel sowie deren plötzliche Landung und die seltsamen allmächtigen Wesen, die mit ihren wundersamen Waffen aussteigen würden, hätten bei den noch in der Entwicklung begriffenen Kulturen einen derartigen sich auf die gesamte Spezies erstreckenden Minderwertigkeitskomplex ausgelöst, daß ihre zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten stark eingeschränkt worden wären. Und dann gab es noch einen Planeten, bei dem die Entscheidung, uneingeschränkten Kontakt herzustellen, von der galaktischen Föderation nicht als erstes getroffen werden konnte.

Wie es sich für eine Zivilisation gehörte, die schon alt und weise gewesen war, als sich die Bewohner der Erde und von Orligia und Traltha noch durch den Urschlamm geschlängelt hatten, hatten sich die Groalterri in dieser Frage sehr diplomatisch verhalten. Dennoch hatten sie ganz unzweideutig zu verstehen gegeben, daß sie weder gewillt waren, die Anwesenheit der Föderation in ihrer Erwachsenendomäne zu dulden, noch ihre reifen und fein gesponnenen Gedankengänge von einer Horde plappernder und geistesgestörter Kleinkinder, für die sie die anderen Spezies hielten, durcheinanderbringen zu lassen. Um das durchzusetzen, verfügten die Groalterri sowohl als Individuen wie auch als Spezies über genügend philosophisches und physiologisches Gewicht.

Dennoch hatten sie keine Einwände dagegen erhoben, aus dem Raum beobachtet zu werden, so daß man sich die Einzelheiten über ihre physiologische Klassifikation und die Umweltbedingungen ihres Lebensraums durch die weitreichenden Sensoren eines Vermessungsschiffs im Orbit hatte beschaffen können, und das waren die einzigen Kenntnisse, die man jetzt von ihnen besaß.

Bei den Groalterri handelte es sich um die größte der bislang entdeckten intelligenten Großlebensformen, um eine warmblütige, sauerstoffatmende und amphibische Spezies der physiologischen Klassifikation FLSU, bei deren Mitgliedern das Wachstum des Körpers von der parthenogenetischen Geburt bis zum Ende der äußerst langen Lebensspanne nicht aufhörte. Genau wie andere übermäßig große intelligente oder nichtintelligente Lebensformen hatten sie Schwierigkeiten, sich ohne Hilfe fortzubewegen, weshalb sie vom jungen Erwachsenenalter an potentiell tödliche Verformungen des Körpers durch die Gravitation vermieden, indem sie in Privatseen oder kommunalen Binnenmeeren schwammen oder trieben, von denen viele künstlich angelegt worden waren und die sich auf einem biotechnologischen Stand befanden, der weit über das Verständnis der Beobachter hinausging.

Ein weiteres Merkmal, das die Groalterri mit vielen großen Lebensformen gemeinsam hatten — der Bibliothekscomputer führte als Beispiele die nichtintelligenten Yerrits von Traltha und die Pandas von der Erde an — , war, daß wegen der Winzigkeit des Embryos eine Schwangerschaft oftmals nicht vermutet wurde, sondern sich erst durch die Geburt offenbarte. Trotz der gewaltigen Körpergröße und der hohen Intelligenz erwachsener Groalterri waren ihre Nachkommen relativ klein, benahmen sich sehr unzivilisiert und blieben bis ins frühe Erwachsenenalter so.

Das ist also einer der Gründe, weshalb die Krankenwärter aus den unter hoher Schwerkraft lebenden tralthanischen FGLIs und hudlarischen FROBs ausgewählt wurden, dachte Lioren, als er sich auf den ersten leibhaftigen Anblick des Patienten vorbereitete. Der Grund für die Anwesenheit des jungen FLSU im Hospital war, daß die Föderation den bislang als unnahbar geltenden Groalterri einen Gefallen tun wollte — wahrscheinlich in der Hoffnung, ihn eines Tages vergolten zu bekommen — , und deshalb ein Transportschiff des Monitorkorps entsandt hatte, um den schwerverletzten jungen FLSU zur Behandlung ins Orbit Hospital zu bringen. Auf der Geheimhaltung hatte das Korps bestanden, um politische und berufliche Unannehmlichkeiten im Todesfall des Patienten auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

Den Eingang der Station, ein umgebautes Unfalldock, bewachten zwei unbewaffnete, aber sehr große Terrestrier vom Monitorkorps, um Unbefugte abzuschrecken und diejenigen, die über eine Besuchserlaubnis verfügten, anzuweisen, schwere Raumanzüge anzulegen. Zwar seien Atmosphäre und Druck auf der Station für die meisten warmblütigen Sauerstoffatmer geeignet, erklärten die beiden Terrestrier Lioren, aber der Anzug könne ihn davor schützen, vom Patienten versehentlich getötet zu werden.

In seinem gegenwärtigen Gemütszustand hielt Lioren die Gelegenheit, durch fremde Hand ums Leben zu kommen, für ein äußerst wünschenswertes Schicksal, die Anweisung der Korpsangehörigen befolgte er jedoch widerspruchslos.

Obwohl ihn Seldals Aufzeichnungen auf die Körpermasse und den Umfang des jungen FLSU vorbereitet hatten, war allein die bloße Größe des Patienten schon ein Schock für ihn, und die Vorstellung, ein erwachsener Groalterri könne noch viele hundertmal so groß werden, erschien seinem Verstand zu unglaublich, um sie als Wahrheit zu akzeptieren. Denn der Patient nahm mehr als drei Viertel des Rauminhalts des Docks ein und war so riesig, daß Lioren durch die sich daraus ergebende perspektivische Verzerrung nur einen Bruchteil der äußeren Merkmale des Körpers sehen konnte, bis er schließlich die Anzugdüsen zündete, um den gewaltigen Körper abzufegen.

Im Dock herrschte ständig Schwerelosigkeit, und die Bewegungsfreiheit des Patienten wurde geringfügig durch ein Netz eingeschränkt, dessen Maschen groß genug waren, um die medizinische Untersuchung und Behandlung des FLSU zu ermöglichen. An den vier Wänden sowie an Decke und Boden des Docks hatte man vom provisorisch eingerichteten Stationszimmer aus gesteuerte Traktor- und Pressorstrahlenprojektoren in Position gebracht, die den Patienten mit ihren breitgefächerten Strahlen in der Schwebe hielten und nicht mit den Wänden in Berührung kommen ließen.

Wie Lioren sah, ähnelte die äußere Gestalt des FLSU einem flachen Oktopoden mit kurzen, dicken, tentakelartigen Gliedmaßen, einem Zentralkörper und einem Kopf, der unverhältnismäßig groß erschien. Vier der acht Tentakel endeten in Klauen, die sich erst mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter zu Fingern entwickeln würden, mit denen der FLSU Gegenstände handhaben konnte, während die übrigen vier in flache, längliche, scharfkantige Knochenplatten ausliefen, die zweimal so lang wie Liorens mittlere Arme waren.

Wie Seldal ihn vorgewarnt hatte, seien diese mit knöchernen Spitzen versehenen Extremitäten der Groalterri in den Zeiten vor der Entwicklung von Intelligenz furchteinflößende natürliche Waffen gewesen, und wie bei jeder Spezies könnten die ganz jungen Mitglieder manchmal vorübergehend wieder in die grausame Vergangenheit zurückfallen.

Ein zweites Mal umkreiste Lioren den gewaltigen Körper, wobei er sich so weit vom Netz, das den Patienten umhüllte, entfernt hielt, wie es die Wände, die Decke und der Boden des Docks zuließen. Diesmal betrachtete er sowohl die aberhundert Narben, die von den Operationen zurückgeblieben waren, und die frisch verbundenen Wunden, als auch die infizierten, von Pusteln übersäten Stellen, die die Hälfte des oberen Körperbereichs bedeckten.

Dieses Leiden hatten tiefe Einstiche in das unter der Haut liegende Gewebe durch eine nichtintelligente, eierlegende Insektenart mit hartem Panzer hervorgerufen, die scheinbar gar nicht über die körperlichen Voraussetzungen verfügte, mit dem Stachel in solche Tiefen vorzudringen. Der Grund für diese vielen gewaltsamen Einstiche war jedoch unbekannt. Obwohl die Sprache der Groalterri im Übersetzungscomputer des Hospitals gespeichert war, hatte sich der Patient bisher geweigert, irgendwelche Auskünfte über sich selbst oder die Ursache seines Zustands zu erteilen.

Darum beendete Lioren den Rundflug um den Körper, indem er die Anzugdüsen abschaltete und sich treiben ließ, bis er schwerelos über der runden Schwellung schwebte, die der Kopf des FLSU war. Dort, genau in der Mitte über den vier Augen mit den kräftigen Lidern, die in gleichmäßigen Abständen rings um den Schädel angeordnet und momentan geschlossen waren, befand sich der straff gespannte Hautbereich, der dem Groalterri sowohl als Sprech- wie auch als Hörorgan diente.

Lioren gab einen leisen, unübersetzbaren Laut von sich und sagte dann: „Falls ich Sie durch meine Anwesenheit oder meine Worte belästige, möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, denn das ist nicht meine Absicht. Darf ich mit Ihnen sprechen?“

Lange Zeit kam keine Antwort; dann schob sich langsam der gewaltige Hautlappen über jenem Auge zurück, das sich Lioren am nächsten befand, und auf einmal blickte der Tarlaner in die Tiefen einer dunklen Transparenz, die immer weiterzugehen schien. Plötzlich spannte sich der Tentakel direkt unter ihm an, schlängelte sich nach oben und zerriß das Netz, in das der FLSU gewickelt war, mit einer Leichtigkeit, als wäre es das zerbrechliche Gebilde eines netzspinnenden Insekts gewesen. Die große Knochenplatte an der Spitze des Tentakels krachte direkt hinter Lioren gegen die Wand und hinterließ eine tiefe, blanke Furche im Metall, bevor sie wieder nach vorne schwang und so dicht an seinem Kopf vorbeizischte, daß er den Luftzug hinter dem geöffneten Visier deutlich spüren konnte.

„Noch so eine dumme, halborganische Maschine“, meinte der Patient, gerade als Lioren von einem stark gebündelten Traktorstrahl erfaßt und blitzschnell ins sichere Stationszimmer gesaugt wurde.

In beruhigendem Ton sagte der diensthabende hudlarische Krankenpfleger: „Untersuchungen, bei denen er angesehen oder berührt wird, und selbst Operationen stören den Patienten nicht, aber auf Versuche, sich mit ihm zu unterhalten, reagiert er in recht asozialer Weise. Wahrscheinlich wollte er Sie eher abschrecken als verletzen.“

„Hätte er mich verletzen wollen“, sagte Lioren, wobei er daran dachte, wie die riesige organische Axt haarscharf an seinem Kopf vorbeigezischt war, „wäre mir mein Anzug nicht von besonderem Nutzen gewesen.“

„Meine normalerweise undurchdringbare hudlarische Haut auch nicht“, fügte der Krankenpfleger hinzu. „Zwar gehört Doktor Seldal zu einer feingliedrigen Spezies, bei der Feigheit ein wesentliches, weil zum Überleben unerläßliches Merkmal darstellt, aber er lehnt es ab, einen Schutzanzug zu tragen. Die wenigen anderen Besucher, die hierherkommen, dürfen für sich selbst entscheiden.

Wie ich festgestellt habe, spricht der Patient wahrscheinlich eher mit jemandem, der keinen Schutzanzug trägt, weil er Besucher in Anzügen offenbar für zum Teil mechanische Wesen von geringer Intelligenz hält“, fuhr der Hudlarer fort. „Dagegen richtet er an ungeschützte Besucher zwar nur wenige Worte, die zudem nie höflich sind, aber immerhin spricht er manchmal mit ihnen.“

Lioren dachte über den kurzen Satz nach, den er vom Patienten gehört hatte, nachdem er von ihm durch den vorgetäuschten Angriff so erschreckt worden war, daß er beinahe an Herzversagen gestorben wäre, und machte sich daran, den ohnehin nicht schützenden Anzug auszuziehen. „Für Ihren Ratschlag bin ich Ihnen sehr dankbar. Helfen Sie mir doch mal bitte aus diesem Ding raus, dann werde ich es noch mal versuchen. Und falls es noch etwas gibt, das Sie mir sagen möchten, werde ich Ihnen mit Vergnügen zuhören.“

Als der FROB an ihn herantrat, um ihm zu helfen, sagte er mit vibrierender Sprechmembran: „Sie haben mich nicht wiedererkannt, Lioren. Aber ich kenne Sie und bin Ihnen auch dankbar, und zwar für die hilfreichen Worte, die Sie zu meiner kelgianischen Freundin, der Krankenpflegeschülerin Tarsedth, vor und bei unserem letzten Besuch in Ihrer Unterkunft gesagt haben. Offen gesagt, bin ich ziemlich überrascht, daß Seldal Ihnen erlaubt hat hierherzukommen. Falls es aber noch irgend etwas gibt, womit ich Ihnen helfen kann, brauchen Sie mich nur zu fragen.“

„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen“, bedankte sich Lioren.

Er dachte gerade daran, daß die ihm von O'Mara übertragene Aufgabe, Seldals Verhalten zu untersuchen, und seine unorthodoxe Methode, dieser nachzugehen, zu völlig unerwarteten Ergebnissen führte. Aus Gründen, die Lioren nicht begreifen konnte, schien er sich offenbar Freunde zu machen.

Als sich Lioren zum zweitenmal dem Kopf des FLSU näherte, trug er am Körper nur den Translator und ein Düsenaggregat, das ihm dabei half, sich in der Schwerelosigkeit zu bewegen. Wieder ließ er sich in die Nähe eines der gewaltigen, geschlossenen Augen treiben und sprach den Patienten an.

„Ich bin weder insgesamt noch teilweise eine Maschine“, sagte er. „Noch einmal frage ich Sie mit allem Respekt: Darf ich mit Ihnen sprechen?“

Erneut öffnete sich das Augenlid wie ein riesiges Fallgitter aus Fleisch, doch diesmal reagierte der FLSU prompt.

„Daß Sie die Fähigkeit besitzen, mit mir zu sprechen, daran haben wir ja wohl beide keinerlei Zweifel“, antwortete er mit einer Stimme, die die Übersetzung wie ein tiefer, gedämpfter Trommelwirbel begleitete. „Doch falls Sie Ihre Frage nur nachlässig formuliert haben, wie es hier bei vielen Äußerungen der Fall ist, und eigentlich wissen wollen, ob ich Ihnen zuhören und antworten werde, dann bezweifle ich das.“

Einer der riesigen Tentakel direkt unter Lioren begann sich unruhig in dem zerrissenen Netz zu regen und verfiel dann wieder in Bewegungslosigkeit. „Ihre Gestalt ist mir zwar neu, aber Sie werden höchstwahrscheinlich das gleiche fragen und sich genauso verhalten wie alle anderen. Sie werden mir Fragen stellen, deren Antworten durch vorherige Beobachtung bereits bekannt sein müßten. Sogar dieser kleine Messerstecher namens Seldal, der in mir herumstochert und mir seltsame Chemikalien in die Wunden füllt, fragt mich, wie es mir geht. Wenn der es nicht weiß, wer dann? Und alle benehmen sich mir gegenüber, als hätten sie die Gewalt und die Autorität von Eltern und als wäre ich der kleine Nachkomme, der getröstet werden muß. Das ist, als würden Insekten vorgeben, klüger und größer als ein groalterrisches Elternteil zu sein, und das ist unglaublich lächerlich.

Ich spreche Ihnen gegenüber von diesen Dingen in ganz einfachen Worten, weil ich hoffe, daß Sie die Macht haben, dieser albernen Verstellung ein Ende zu bereiten, und mich ungestört sterben lassen.

Und jetzt verschwinden Sie“, beendete der FLSU seine Ausführungen, „und zwar sofort!“

Das große Auge schloß sich, als wollte es Lioren aus dem Blick und den Gedanken verbannen, doch der Tarlaner rührte sich nicht von der Stelle. „Ihre Wünsche in dieser Angelegenheit werden unverzüglich an diejenigen weitergeleitet werden, die sich mit Ihrer Behandlung befassen, da unsere Unterhaltung aufgenommen wird, und zwar für eine spätere Untersuchung durch.“

Lioren verstummte. Sämtliche Tentakel des FLSU schlängelten und wanden sich im Netz hin und her, das an mehreren Stellen geräuschvoll riß, bevor sie sich wieder entspannten.

„Meine Äußerungen sind Ausdruck meiner Gedanken, die ich Ihnen wie auch meinen vorherigen Gesprächspartnern auf diese Weise mitgeteilt habe“, meldete sich der Patient erneut zu Wort. „Ohne meine ausdrückliche Erlaubnis, die ich zu jedem solcher Anlässe neu geben muß, dürfen diese Gedanken mit keinem Wesen geteilt werden, das nicht anwesend ist, weil dessen Verstand die Bedeutung und den Sinn meiner Worte höchstwahrscheinlich mißversteht und verfälscht. Falls dies trotzdem geschieht, werde ich keinen Ton mehr von mir geben. Und jetzt verschwinden Sie endlich.“

Lioren rührte sich immer noch nicht von der Stelle. Statt dessen stellte er seinen Translator auf die Frequenz des Stationszimmers ein und schickte sich an, noch einmal in der Manier eines Oberstabsarztes zu sprechen.

„Pfleger“, sagte er, „schalten Sie bitte sämtliche Aufnahmegeräte aus und löschen Sie alles, was seit meinem Eintreffen gesprochen worden ist. Mit den früheren Gesprächen zwischen Doktor Seldal und dem Patienten verfahren Sie bitte genauso. Alle persönlichen Dinge, die Sie heute oder früher vom Patienten gehört haben, sind als vertrauliche Mitteilungen zu behandeln und an niemand anderen weiterzugeben. Von diesem Moment an werden Sie, sofern Ihnen der Patient selbst nicht die Erlaubnis dazu erteilt, kein Gespräch mehr zwischen dem Patienten und irgendwem sonst mithören und auch nicht Ihre eigenen organischen Schallsensoren dazu benutzen. Haben Sie meine Anweisungen voll und ganz verstanden? Bestätigen Sie das bitte.“

„Ich habe verstanden“, antwortete der Hudlarer. „Aber wird das auch bei Chefarzt Seldal der Fall sein?“

„Wenn ich den Chefarzt darauf aufmerksam mache, wie sehr der Patient es ablehnt, daß von seinen Äußerungen unerlaubte Aufnahmen gemacht werden, wird auch er Verständnis dafür haben. Bis dahin übernehme ich die volle Verantwortung.“

„In Ordnung, dann unterbreche ich jetzt die Tonverbindung“, bestätigte der Pfleger.

Wie Lioren wußte, war nur die Tonverbindung unterbrochen, denn der Pfleger würde die Vorgänge nicht nur weiterhin auf den medizinischen Kontrollgeräten verfolgen und aufzeichnen, sondern Lioren sogar noch aufmerksamer als vorher auf den Bildschirmen beobachten, falls er mit den Traktorstrahlen aus erneuten Schwierigkeiten herausgeholt werden müßte. Lioren wandte seine Aufmerksamkeit dem Auge des Patienten zu, das inzwischen wieder geschlossen war.

„Wir können jetzt miteinander reden, ohne daß unser Gespräch von jemandem belauscht oder aufgenommen wird“, sagte Lioren. „Außerdem werde ich ohne Ihre ausdrückliche Erlaubnis nicht eine Silbe von dem, was Sie sagen, vor anderen wiederholen. Stellt Sie das zufrieden?“

Der gewaltige Körper des Patienten blieb reglos, der FLSU selbst sagte keinen Ton, und das Auge öffnete sich nicht. Lioren mußte an seinen ersten Besuch beim ehemaligen Diagnostiker Mannon denken und daran, daß sich dieser Patient hier ebenfalls nicht regte, nach den Anzeigen der medizinischen Kontrollgeräte jedoch genau wie Mannon bei Bewußtsein war. Vielleicht schliefen die FLSUs nicht, denn der Föderation gehörten mehrere Spezies an, die vor der Entwicklung von Intelligenz fortwährend in äußerster Lebensgefahr geschwebt hatten, so daß ein Teil ihres Verstands noch heute ständig wachsam blieb. Möglicherweise beachtete der Patient ihn aber auch nicht mehr, zumal er einer Spezies angehörte, die von allen bisher entdeckten Zivilisationen als die in philosophischer Hinsicht fortschrittlichste angesehen wurde, und weil er Lioren bereits zweimal aufgefordert hatte, ihn in Ruhe zu lassen, und zu zivilisiert war, um seiner Bitte körperlich Nachdruck zu verleihen.

In Mannons Fall war es die eigene Neugier gewesen, die den Patienten schließlich veranlaßt hatte, sein Schweigen zu brechen.

„Sie haben mir mitgeteilt, daß die Aufmerksamkeit und die Fragen der medizinischen Mitarbeiter Sie ärgern, weil die wie winzige Insekten einen Riesen umschwärmen und sich benehmen, als würden sie über die Macht groalterrischer Eltern verfügen. Haben Sie sich eigentlich schon mal Gedanken darüber gemacht, daß diese Wesen sich trotz ihrer geringen Größe die gleichen Sorgen um Sie machen und dasselbe Bedürfnis, Ihnen zu helfen, verspüren wie Ihre leiblichen Eltern? Übrigens ist mir der Vergleich mit Insekten genauso unangenehm wie Ihren anderen Besuchern, falls Sie denen auch so etwas erzählt haben, denn wir sind keine vernunftlosen Insekten.

Ich ziehe bei weitem den Vergleich vor, nach dem ein hochintelligentes Lebewesen eine Kreatur von geringerer Intelligenz als einen Freund gewonnen hat oder auch nur als eine Art Schoßtier, falls die Groalterri sich unter diesem Begriff etwas vorstellen können“, fuhr Lioren fort. „Zwei solche Wesen können oft eine starke, nichtkörperliche Bindung zueinander eingehen, und — so albern die Vorstellung auch erscheinen mag — falls das Wesen mit der höheren Intelligenz verletzt wird oder in irgendeine Bedrängnis gerät, wird das andere es trösten wollen und traurig sein, wenn es tatenlos mit ansehen muß, daß es nicht helfen kann.

Verglichen mit Ihrem ist der Intelligenzgrad der anderen Wesen in Ihrer Umgebung gering. Aber wir sind nicht hilflos, und unser Ziel hier im Hospital ist, viele verschiedene Arten von Leiden zu heilen oder zumindest zu lindern.“

Der Patient gab keine Antwort, und Lioren fragte sich, ob seine Worte vom FLSU nur als das Summen eines lästigen Insekts betrachtet wurden. Doch sein Stolz wollte sich mit diesem Gedanken nicht abfinden. Er hielt sich vor Augen, daß dieser Patient zwar einer überaus intelligenten Spezies angehörte, aber eben ein sehr junges Wesen war, was schon ein gutes Stück weiterhelfen müßte, den Unterschied zwischen ihnen beiden auszugleichen; und ein wichtiges Merkmal junger Angehöriger sämtlicher Spezies war ihre Neugier auf alles.

„Wenn Sie die Neugier, die ich Ihnen gegenüber empfinde, nicht stillen möchten, weil man Ihre früheren Äußerungen ohne Ihr Wissen oder Ihre Zustimmung anderen mitgeteilt hat“, sagte Lioren, „dann sind Sie vielleicht selbst auf eins der Wesen neugierig, die Ihnen zu helfen versuchen, nämlich auf mich. Ich heiße übrigens Lioren.“

Auf Seldals Bitte hin befand er sich hier, weil es eine uralte und in der ganzen Galaxis bekannte Binsenweisheit war, daß es an einem Ort der Heilung immer andere gibt, die sich in einer noch schlechteren Verfassung befinden als man selbst, und daß derjenige, dem es nicht ganz so schlecht geht, seinem weniger glücklichen Mitpatienten seelischen Beistand leistet und davon im nichtklinischen Bereich sogar selbst zu profitieren scheint. Ganz offensichtlich erhoffte sich der nallajimische Chefarzt von seinem Patienten eine ähnliche Reaktion, doch Lioren fragte sich, ob ein Lebewesen, das sowohl körperlich als auch intellektuell derart gewaltig und so ungeheuer langlebig wie dieser FLSU war, überhaupt die Fähigkeit besaß, Mitleid mit dem dummen, kurzlebigen Insekt zu empfinden, das über seinem geschlossenen Auge schwebte.

Den FLSU über alles ins Bild zu setzen dauerte viel länger als bei Mannon, weil der ehemalige Diagnostiker über die Föderation, das Monitorkorps und das Militärgericht genausogut Bescheid gewußt hatte wie über den Schwarm intelligenter Insekten, die Cromsaggi hießen und die von Lioren um ein Haar ausgerottet worden waren. Während der Tarlaner aufgrund des Berichts die furchtbaren Vorgänge auf Cromsag noch einmal durchlebte, büßte seine Erzählweise oft die nüchterne Objektivität ein, und mehrmals mußte er sich vor Augen halten, daß seine Erinnerungen wie als psychologisches Instrument eingesetzt wurden, das seinem Benutzer Schmerzen bereitete; doch schließlich war die Tortur vorbei.

Lioren wartete und war insgeheim froh darüber, daß der Patient nicht reagierte, denn dadurch konnte er die grauenhaften Bilder vertreiben und seiner Gedanken wieder Herr werden.

„Lioren“, reagierte der Groalterri plötzlich, ohne das Auge zu öffnen, „ich hatte keine Ahnung, daß es einem kleinen Wesen möglich ist, solch ein großes Leid zu ertragen. Nur indem ich Sie nicht anblicke, kann ich das auch weiterhin glauben, denn vor meinem geistigen Auge sehe ich ein altes und außerordentlich unglückliches Elternteil, das Hilfe sucht. Doch ich kann Ihnen genausowenig helfen wie Sie mir, Lioren, weil ich ebenfalls schuldig bin.“

Die Stimme des Groalterris war so leise geworden, daß der Translator auf höchste Eingangsempfindlichkeit gestellt werden mußte, um die einzelnen Sprachlaute noch aufzulösen, als er mit den Worten schloß: „Ich habe mich einer großen und furchtbaren Sünde schuldig gemacht.“

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