12. Kapitel

Da die nallajimischen MSVKs oft Kollegen anderer Spezies einluden, war ihr Versammlungsraum zwar geräumig genug, um Lioren keine körperlichen Unannehmlichkeiten zu bereiten, dennoch wunderte er sich über die Wahl des Treffpunkts. Trotz ihres feingliedrigen Körperbaus und der geringen Schwerkraft, unter der sie lebte, konnte diese vogelartige Spezies ein ähnlich abweisendes Verhalten gegenüber einem Gesprächspartner an den Tag legen wie die Kelgianer, und falls Seldal wirklich einen Grund gefunden hatte, sich über Lioren zu beschweren, wäre die zu erwartende Vorgehensweise für den MSVK eigentlich die gewesen, in der psychologischen Abteilung zu erscheinen und ein Gespräch mit O'Mara zu verlangen.

Über eins bin ich mir trotzdem ganz sicher, dachte Lioren, als er zwischen den nestähnlichen Sofas, auf denen schlafende oder leise zwitschernde MSVKs lagen, auf Seldal zuging, der Grund für dieses Treffen ist kein geselliges Beisammensein.

„Setzen Sie sich oder bleiben Sie stehen, wie es gemütlicher für Sie ist“, begrüßte ihn der Chefarzt, wobei er einen Flügel hob, um auf den Essensspender des Liegesofas zu deuten. „Darf ich Ihnen etwas zu essen oder zu trinken anbieten?“

Es war ein Irrtum, sich über irgend etwas sicher zu sein, sagte sich Lioren, als er sich in die weichen Daunen des Sofas sinken ließ.

„Sie haben meine Neugier geweckt“, sagte der nallajimische Chefarzt, dessen schnelles Zwitschern einen unruhigen Hintergrund zu den langsameren tarlanischen Worten aus dem Translator bildete. „Allerdings interessiere ich mich weniger für den Vorfall auf Cromsag, denn der ist inzwischen allgemein bekannt, sondern vielmehr für Ihr Verhalten gegenüber meinem Patienten Mannon. Was genau haben Sie zu ihm gesagt, und was hat er umgekehrt Ihnen erzählt?“

Habe ich's nicht gleich gesagt? dachte Lioren. Dieses Treffen wird nicht lange ein geselliges Beisammensein bleiben.

Da er nicht lügen wollte, versuchte er sich zu entscheiden, ob es besser wäre, nicht die ganze Wahrheit zu sagen oder einfach zu schweigen, als der Nallajimer schon fortfuhr.

„Wie mir Hredlichi berichtet hat — und ich bediene mich ihrer Worte so genau, wie ich mich noch daran erinnern kann — , seien zwei von O'Maras psychologischen Mitarbeitern, nämlich Cha Thrat und Lioren — also Sie — mit der Bitte an sie herangetreten, eine Befragung der Patienten einschließlich des todkranken Mannon zu einigen geplanten Verbesserungen bezüglich des Ambientes der Station zu gestatten“, erklärte Seldal. „Hredlichi sagt, sie sei einerseits zu beschäftigt gewesen, um durch einen Streit mit Ihnen kostbare Zeit zu verschwenden, und andererseits seien Sie beide so groß und kräftig gewesen, so daß sie es gar nicht erst versucht habe, Sie mit körperlicher Gewalt zu entfernen. Deshalb habe sie sich entschlossen, bezüglich des Patienten Mannon zuzustimmen, da sie davon ausgegangen sei, daß der ehemalige Diagnostiker Sie genausowenig beachten würde wie alle anderen, die schon vorher versucht hatten, mit ihm zu sprechen. Doch laut Hredlichi haben Sie dann zwei Stunden beim Patienten verbracht, woraufhin dieser der Oberschwester gleich darauf mitgeteilt hat, daß Sie ihn von nun an jederzeit besuchen dürften.

Der ehemalige Diagnostiker Mannon wird im Orbit Hospital sehr geschätzt, und seine Dienstzeit in dieser Einrichtung wird nur noch von der O'Maras übertroffen, der sein Freund war und ist“, fuhr Seldal fort. „Als ich ans Hospital gekommen bin, ist Mannon der Ausbildungsleiter gewesen. Damals wie auch noch oft danach hat er mir sehr geholfen, weshalb er für mich ebenfalls mehr als nur ein Arztkollege ist. Doch bis gestern, als er meine Anwesenheit plötzlich zur Kenntnis genommen und angefangen hat, klare Fragen zu stellen, die zwar teils allgemein gehalten, häufiger jedoch persönlicher Natur gewesen sind, hatte er mit niemandem sprechen wollen, außer mit Ihnen.

Ich frage Sie nochmals, Lioren: Was hat sich zwischen Mannon und Ihnen abgespielt?“

„Mannon ist ein todkranker Patient“, antwortete Lioren, wobei er genau überlegte, was er sagte, „und einige der Worte und Gedanken, die er geäußert hat, passen vielleicht nicht zu dem Mannon, den Sie gekannt haben, als er sich noch auf dem Höhepunkt seiner körperlichen und geistigen Kräfte befand. Mir wäre es lieber, das Thema mit anderen nicht zu besprechen.“

„Ihnen wäre es lieber.“, begann Seldal. Sein aufgebrachtes Zwitschern wurde nun lauter, so daß sich die schlafenden Nallajimer ringsum unruhig in den Nestern bewegten. „Ach, behalten Sie Ihre Geheimnisse für sich, wenn Sie es unbedingt müssen. Wirklich, Sie erinnern mich an den verstorbenen Carmody, der vor Ihrer Zeit am Hospital gearbeitet hat. Und Sie haben recht, wenn ein solch großartiges Wesen wie dieser Mannon Schwäche zeigen sollte, würde ich das lieber gar nicht wissen wollen, obwohl ich mein Gehirn einmal mit einem terrestrischen DBDG geteilt habe, der der Auffassung war, daß man hin und wieder auch seine Schwächen zeigen müsse, um wahre Größe zu beweisen.“

„Danke für Ihre Nachsicht, Sir“, sagte Lioren.

„Nachsicht habe ich von einem sehr engen Freund gelernt“, entgegnete der Chefarzt. „Das werde ich Ihnen jetzt nicht näher erläutern. Statt dessen will Ihnen lieber verraten, was sich meiner Meinung nach zwischen Ihnen und Mannon abgespielt hat.“

Für den Tarlaner stellte es eine große Erleichterung dar, daß Seldal nicht mehr verärgert war und anscheinend glaubte, nicht er selbst wäre der Gegenstand von Liorens Untersuchungen, sondern Mannon. Als der Nallajimer fortfuhr, fragte sich Lioren, ob die Bemerkung, von einem sehr engen Freund Nachsicht gelernt zu haben, eine wichtige Einzelheit darstellte.

„Nachdem Mannon bei Ihrem ersten Besuch herausgefunden hatte, wer Sie eigentlich sind, muß er zu dem Schluß gekommen sein, daß Sie womöglich mehr Probleme haben als er selbst, und ist entsprechend neugierig geworden“, fuhr Seldal fort. „Diese Neugier muß zu persönlichen Fragen nach dem Vorfall auf Cromsag geführt haben, die für Sie schmerzlich gewesen sind, aber dafür war Mannon zum erstenmal seit mehreren Wochen überhaupt auf irgendwas neugierig. Inzwischen scheint sogar alles seine Neugier zu erregen. Er hat mit mir über Sie gesprochen und mich eingehend nach Ihnen befragt, sich nach meinen anderen Patienten erkundigt und sogar nach dem neuesten Hospitalklatsch, einfach nach allem. Für die deutliche Verbesserung seines Zustands, zu der Ihre Besuche geführt haben, bin ich Ihnen äußerst dankbar, Lioren.“

„Aber das Krankheitsbild.“, wollte Lioren einwenden.

„.hat sich nicht verändert“, beendete Seldal den Satz für ihn. „Aber der Patient fühlt sich besser.

Hredlichi hat mir außerdem erzählt, Sie hätten auch meine anderen Patienten zu dem Plan befragt, das Ambiente der Station zu verbessern, mit Ausnahme des isolierten Patienten, bei dem Besuche und jeder medizinische Kontakt, der nicht direkt mit seiner Behandlung zu tun hat, verboten sind. Bei diesem Patienten handelt es sich um ein junges und deshalb relativ kleines Mitglied einer körperlich gewaltigen Spezies. Aus diesem Grund bestünde für jede Lebensform von mehr oder weniger normaler Körpergröße, die sich in seine Nähe begibt, ein gewisses Risiko. Falls Sie es dennoch wollen, haben Sie jetzt meine Erlaubnis, diesen Patienten zu besuchen, wann immer Sie möchten.“

„Danke, Chefarzt Seldal“, sagte Lioren, dessen Dankbarkeit ein wenig von der Verwirrung über den Verlauf, den das Gespräch nahm, überschattet wurde. „Natürlich bin ich auf das Geheimnis neugierig, das diesen besonderen Patienten umgibt.“

„So, wie jeder andere im Hospital, der nicht unmittelbar an der Behandlung beteiligt ist, die, wie ich zugeben muß, nicht gerade gut verläuft“, fiel ihm Seldal ins Wort. „Aber ich will nicht nur Ihre Neugier befriedigen, ich möchte Sie auch um einen Gefallen bitten.

Meine letzten Gespräche mit Mannon und die Art, wie er von Ihnen spricht, haben mich nämlich auf die Frage gebracht, ob die Veränderung, die Sie bei unserem ehemaligen Diagnostiker hervorgerufen haben, beim jungen Patienten von Groalter vielleicht wiederholbar wäre, zumal dessen Krankheitsverlauf durch nichtmedizinische Faktoren, über die er partout nicht sprechen will, nachteilig beeinflußt wird. Mein Gedanke dabei war, der Groalterri könnte möglicherweise ebenfalls von der Erkenntnis profitieren, daß seine Probleme verglichen mit Ihren eigenen unbedeutend sind. Falls Sie mir jedoch lieber nicht helfen möchten, habe ich volles Verständnis dafür.“

„Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen zu helfen, wo ich kann“, sagte Lioren, der seine Aufregung und laute Stimme nur mit Mühe zügeln konnte. „Ein. ein Groalterri? Hier im Hospital? Ich habe noch nie einen gesehen, ja sogar Zweifel an der Existenz dieser Spezies gehabt. Ich wäre Ihnen sogar dankbar für diese Aufgabe.“

„Lioren, Sie sollten sich mehr Zeit nehmen, um darüber nachzudenken“, riet ihm der Nallajimer. „Wie bei Mannon werden Sie sich auch beim Groalterri schmerzliche Erinnerungen ins Gedächtnis zurückrufen müssen. Aber ich habe den Eindruck, Sie nehmen diese Schmerzen bereitwillig als eine gerechte Strafe hin, der Sie sich nicht entziehen dürfen. Das halte ich für falsch und völlig unnötig. Gleichzeitig muß ich diese Einstellung akzeptieren und sie mir wie auch Ihre Person zum Wohl meines Patienten zunutze machen, wie ich mich aller anderen chirurgischen Instrumente bedienen würde. Trotzdem tut es mir leid, Ihnen diese zusätzliche Strafe aufzuerlegen.“

In jedem von uns steckt ein kleiner Psychologe, dachte Lioren und versuchte, das Thema zu wechseln. „Darf ich meine Besuche bei Doktor Mannon ebenfalls fortsetzen?“

„So oft Sie wollen“, willigte Seldal ein.

„Und auch mit ihm diesen neuen Fall erörtern?“ fragte Lioren.

„Könnte ich Sie denn davon abhalten?“ antwortete Seldal mit einer Gegenfrage. „Weiter möchte ich mich aber nicht über diesen Fall äußern, damit ich durch meine Ansichten nicht die Ihren beeinflusse. Zur Krankenakte des Patienten von Groalter wie auch zu den wenigen Informationen, die es über den Heimatplaneten dieser Spezies gibt, werden Sie Zugang erhalten.“

Es war schon äußerst eigenartig, dachte Lioren, als er den Versammlungsraum der Nallajimer verließ, daß der Chefarzt ihn als Instrument bei der Behandlung eines schwierigen Patienten einsetzen wollte, während er selbst die Patienten des Chefarztes als Werkzeuge bei seiner Untersuchung von Seldals Verhalten benutzte — mit der er allerdings keine großen Fortschritte machte.

Lioren schaute noch kurz bei Mannon vorbei, um ihm von dieser neuen Entwicklung zu berichten und um dessen allzu verwaistem Verstand noch etwas mehr Möglichkeiten zum Nachdenken zu geben, und kehrte erst dann in die psychologische Abteilung zurück. Chefpsychologe O'Mara war noch nicht wieder da, und Lieutenant Braithwaite und Cha Thrat benahmen sich, als vollzögen sie für ihren Kollegen eine leicht verfrühte Totenfeier. Zu ihrem Erstaunen erzählte ihnen Lioren, daß er sich nicht in Schwierigkeiten befinde, sondern von Chefarzt Seldal um einen Gefallen gebeten worden sei, den zu tun er selbstverständlich versprochen habe, weshalb er sich jetzt einige Unterlagen zur späteren Durchsicht in der Unterkunft kopieren müsse.

„Der Patient von Groalter!“ rief Braithwaite auf einmal aus, und als sich Lioren umdrehte, sah er, daß Cha Thrat und der Lieutenant bereits hinter ihm standen und die Angaben auf seinem Bildschirm lasen. „Eigentlich sollen wir nicht mal wissen, daß er sich überhaupt im Hospital befindet, und Sie haben jetzt schon mit ihm zu tun. Was wird nur Major O'Mara davon halten?“

Lioren kam zu der Überzeugung, daß es sich bei Braithwaites letzter Bemerkung um das handeln mußte was Terrestrier als eine ̃̄„rhetorische Frage“ bezeichnen und setzte seine Arbeit ungerührt fort.

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