Lioren stand, auf drei Seiten von den seltsam geformten Sitzmöbeln umgeben, die für die Bequemlichkeit von Lebewesen anderer physiologischer Klassifikationen als seiner eigenen konstruiert waren, auf der freien Fläche vor O'Maras Schreibtisch und starrte mit sämtlichen Augen auf den Psychologen hinunter. Seit die Strafe gegen ihn verhängt und ihm eine kurähnliche Heilbehandlung aufgezwungen worden war, an der er mit nichts, was in seiner Macht stand, etwas ändern konnte, hatte sich der unbändige Haß gegenüber diesem untersetzten kleinen Zweifüßer mit dem grauen Kopfpelz und den Augen, die nie einem Blick auswichen, zwar zu einer Abneigung abgeschwächt, die sich bei Lioren dennoch so tief in der Seele verwurzelt hatte, daß er nicht glaubte, sie jemals überwinden zu können.
„Mich zu mögen ist zum Glück keine Voraussetzung für die Behandlung“, stellte O'Mara fest, der anscheinend Liorens Gedanken lesen konnte, „ansonsten hätte das Orbit Hospital schon längst kein medizinisches Personal mehr. Ich habe für Sie die Verantwortung übernommen, und da Sie eine Kopie meiner schriftlichen Eingabe an das Militärgericht gelesen haben, kennen Sie auch die Gründe, die ich dafür hatte. Oder muß ich sie Ihnen noch einmal nennen?“
In der Eingabe hatte O'Mara behauptet, der Vorfall auf Cromsag sei hauptsächlich bestimmten Charakterfehlern von Lioren zuzuschreiben, Fehlern, die während seiner Ausbildung in ET-Medizin am Orbit Hospital hätten entdeckt und korrigiert werden müssen; dabei habe es sich um ein Versäumnis gehandelt, an dem allein die psychologische Abteilung die Schuld trage. Angesichts dieses Sachverhalts und angesichts des Umstands, daß das Orbit Hospital keine psychiatrische Klinik war, konnte Lioren nicht als Patient angesehen werden, sondern wie ein Auszubildender, der das Schulungsprogramm über die Beziehungen zu anderen Spezies nicht zufriedenstellend beendet hatte und der psychologischen Abteilung unter O'Maras Leitung zugeteilt worden war. Als Auszubildender nahm Lioren trotz seiner medizinischen und chirurgischen Fähigkeiten, die er bereits bei vielen Lebensformen unter Beweis gestellt hatte, einen niedrigeren Rang als eine ausgebildete Stationsschwester ein.
„Nein“, antwortete Lioren.
„Gut“, sagte O'Mara. „Ich vergeude nämlich weder gerne Zeit noch Arbeitskraft. Im Augenblick habe ich keine besonderen Anweisungen für Sie, außer daß Sie sich frei im Hospital bewegen dürfen — am Anfang allerdings nur in Begleitung von jemandem aus dieser Abteilung — oder daß Sie, falls es Momente geben sollte, in denen diese Maßnahme Sie in nicht mehr tragbarer Weise in Verlegenheit bringt oder belastet, die üblichen Büroarbeiten erledigen werden. Dazu wird auch gehören, daß Sie sich mit der Arbeit dieser Abteilung und den psychologischen Akten der medizinischen Mitarbeiter vertraut machen, von denen Ihnen die meisten zum Studium zugänglich gemacht werden. Sollten Sie dabei irgendein Anzeichen für ungewöhnliches Verhalten, für untypische Reaktionen gegenüber Mitarbeitern einer anderen Spezies oder für ein unerklärliches Nachlassen der beruflichen Leistungsfähigkeit aufspüren, werden Sie mir dies mitteilen. Allerdings nur dann, wenn Sie Ihre Entdeckung vorher mit einem Ihrer Kollegen aus dieser Abteilung diskutiert haben, damit sichergestellt ist, daß sie meiner Aufmerksamkeit wert ist.
Es ist wichtig, nicht zu vergessen, daß mit Ausnahme einiger weniger Patienten, die besonders schwer erkrankt sind, jeder im Hospital über Ihren Fall voll und ganz im Bilde ist“, fuhr der Psychologe fort. „Viele Patienten und Mitarbeiter werden Ihnen Fragen stellen, die zum größten Teil höffich und rücksichtsvoll sein werden, außer den Kelgianern, die den Begriff ̃̄„Höflichkeit“ nicht verstehen. Zudem werden Ihnen viele gutgemeinte Hilfsangebote, ermunternde Worte und reichlich Mitgefühl zuteil werden.“
O'Mara machte eine kurze Pause; dann sagte er in sanfterem Ton: „Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen. Sie haben wirklich große Seelenqualen erlitten und erleiden sie noch und haben mit einer drückenden Schuld zu kämpfen, wie sie mir größer weder in der Literatur noch in meiner eigenen langjährigen Erfahrung jemals vorgekommen ist; mit einer Bürde, die so schwer ist, daß sie jeden anderen Geist als den Ihren vollkommen zugrunde gerichtet hätte. Von Ihrer Gefühlsbeherrschung bin ich tief beeindruckt, und bei dem Gedanken daran, wie sehr Sie im Moment psychisch angespannt sein müssen, wird mir angst und bange. Ich werde alles mögliche tun, um diese Anspannung abzubauen, und auch ich, der ich außer Ihnen selbst am besten in der Lage bin, Ihre Position zu verstehen, spreche Ihnen hiermit mein Mitgefühl aus.
Doch Mitgefühl ist bestenfalls ein Linderungsmittel, und obendrein noch eins, dessen Wirkung bei wiederholter Anwendung nachläßt“, fuhr er fort. „Deshalb verabreiche ich es Ihnen nur dieses eine Mal. Von jetzt an werden Sie genau das tun, was man Ihnen sagt, und sämtliche routinemäßigen, niedrigen und langweiligen Arbeiten verrichten, die man Ihnen aufträgt, und Sie werden von niemandem in dieser Abteilung auch nur einen einzigen Funken Mitgefühl bekommen. Haben Sie mich verstanden?“
„Ich sehe ein, daß mein Stolz gebrochen und mein Vergehen bestraft werden muß, denn das habe ich verdient“, antwortete Lioren.
O'Mara stieß einen unübersetzbaren Laut aus. „Was Sie so meinen, alles verdient zu haben, Lioren, interessiert mich nicht die Bohne. Erst wenn Sie anfangen zu glauben, daß Sie das alles vielleicht nicht verdient haben, befinden Sie sich wirklich auf dem Weg der Besserung. Und jetzt werde ich Sie Ihren Mitarbeitern im Vorzimmer vorstellen.“
Wie es O'Mara angekündigt hatte, war die Büroarbeit reine Routine und wiederholte sich ständig, doch in den ersten paar Wochen war sie für Lioren noch zu neu, um langweilig zu sein. Von den Zeiten abgesehen, in denen er geschlafen oder sich zumindest ausgeruht oder den Essensspender in seiner Unterkunft benutzt hatte, hatte Lioren weder die Abteilung verlassen noch irgend etwas anderes getan, als sein Gehirn zu beschäftigen. Er konzentrierte sich voll und ganz auf seine neuen Aufgaben, wodurch sich die Qualität seiner Arbeit, die Menge, die er bewältigte, und sein Verständnis für das, was er tat, in einem Maß steigerte, daß er sowohl von Lieutenant Braithwaite als auch von der Auszubildenden Cha Thrat gelobt wurde, allerdings nicht von Major O'Mara.
Wie ihm der Chefpsychologe mitgeteilt hatte, lobe er nie jemanden, weil es seine Aufgabe sei, die Leute auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und nicht, sie abheben zu lassen. In dieser Bemerkung konnte Lioren weder einen medizinischen noch einen semantischen Sinn erkennen, weshalb er zu dem Schluß gelangte, es müsse sich um das handeln, was die terrestrischen DBDGs als Witz bezeichneten.
Seine wachsende Neugier gegenüber den beiden Wesen, mit denen er so viel Zeit verbrachte, konnte Lioren nicht einfach übergehen, aber die Mitarbeiter der Abteilung durften ihre psychologischen Akten nicht gegenseitig einsehen, und seine beiden Kollegen stellten weder persönliche Fragen, noch beantworteten sie welche. Vielleicht war das in der Abteilung Vorschrift, oder O'Mara hatte die beiden aufgefordert, ihre natürliche Neugier aus Rücksicht auf Liorens Gefühle im Zaum zu halten.
Doch dann gab Cha Thrat eines Tages zu verstehen, daß diese Vorschrift außerhalb des Büros nicht gelte.
„Sie sollten den Bildschirm mal für eine Weile vergessen und Ihrem Kopf eine Ruhepause von Cresk-Sars endlosen Berichten über die Fortschritte der Auszubildenden gönnen, Lioren“, riet ihm die Sommaradvanerin, als sie gerade zum Mittagessen gehen wollte. „Lassen Sie uns doch gemeinsam eine Kleinigkeit zu uns nehmen.“
Einen Augenblick lang zögerte Lioren, da er an die ständig überfüllte Kantine für warmblütige Sauerstoffatmer im Hospital dachte und vor allem an die vielen Wesen, denen er auf dem Weg dorthin auf den belebten Korridoren begegnen mußte. Er war sich nicht sicher, ob er dafür schon bereit war.
Bevor er antworten konnte, fuhr Cha Thrat fort: „In den Versorgungscomputer für Speisen und Getränke ist bereits ein vollständiges tarlanisches Menü einprogrammiert worden, das natürlich synthetisch ist, aber trotzdem viel besser als diese geschmacklose Pampe schmeckt, die aus dem Essensspender in der Unterkunft kommt. Wenn der Computer von dem einzigen tarlanischen Personalangehörigen links liegengelassen wird, muß er sich doch verletzt, gekränkt, ja sogar beleidigt fühlen. Warum kommen Sie nicht einfach mit und machen ihn glücklich?“
Computer hatten keine Gefühle, und das mußte Cha Thrat genausogut wissen wie er. Vielleicht hatte sie einen sommaradvanischen Witz gemacht.
„Also gut, ich komme mit“, willigte Lioren schließlich ein.
„Ich auch“, sagte Braithwaite. Nach Liorens Wissen blieb das Vorzimmer zum erstenmal unbeaufsichtigt, und er fragte sich, ob dadurch nur einer seiner Kollegen oder beide O'Maras Mißfallen riskierten. Doch aufgrund ihres Verhaltens auf dem Weg zur Kantine und durch die bestimmte, aber unauffällige Art, in der sie jedes Mitglied des medizinischen Personals abschreckten, das geneigt schien, Lioren aufzuhalten und mit ihm zu sprechen, wurde klar, daß sie mit Zustimmung des Chefpsychologen handelten. Und als sie an einem Tisch, der für melfanische ELNTs konstruiert war, drei freie Plätze fanden, stellten Braithwaite und Cha Thrat sicher, daß Lioren zwischen ihnen blieb. Außer ihnen befanden sich noch fünf kelgianische DBLFs am Tisch, die lautstark den Ruf einer nicht namentlich genannten Oberschwester ruinierten, während sie gerade aufstehen wollten, um die Kantine zu verlassen. Vor diesen Wesen gab es kein Entrinnen, denn gegen kelgianische Neugier ist kein Kraut gewachsen.
„Ich bin Schwester Tarsedth“, stellte sich eine der DBLFs vor, wobei sie Lioren den schmalen, kegelförmigen Kopf zuwandte. „Ihre sommaradvanische Freundin ist zwar eine gute Bekannte von mir, weil wir zusammen in der Ausbildung gewesen sind, erkennt mich aber nie, da sie, wie sie beharrlich behauptet, trotz ihrer vier Augen die Kelgianer nicht auseinanderhalten kann. Doch meine Fragen sind an Sie gerichtet, Oberstabsarzt. Wie fühlen Sie sich? Offenbaren sich Ihre Schuldgefühle in psychosomatischen Anfällen? Was für eine Therapie hat sich O'Mara für Sie ausgedacht? Zeigt sie schon Wirkung? Wenn das nicht der Fall sein sollte, kann ich vielleicht etwas tun, um Ihnen zu helfen?“
Auf einmal fing Braithwaite an, unübersetzbare Laute von sich zu geben, und seine Gesichtsfarbe war von einem blaßgelben Rosa in ein sattes Rot übergegangen.
Tarsedth warf einen kurzen Blick auf Braithwaite und sagte dann zu Lioren: „Denken Sie sich nichts dabei. Das kommt oft vor, wenn Luft- und Speiseröhre eine gemeinsame Öffnung haben. Anatomisch gesehen ist die terrestrische DBDG-Lebensform eine Katastrophe.“
Anatomisch gesehen war die Kelgianerin eine Schönheit, dachte Lioren, während er sich angestrengt bemühte, sich auf die Fragestellerin selbst zu konzentrieren, um den Qualen zu entgehen, die ihre Fragen verursachten. Sie gehörte zur physiologischen Klassifikation DBLF und war eine warmblütige Sauerstoffatmerin mit zahlreichen Beinen und einem biegsamen, zylinderförmigen Körper, der vollständig von einem äußerst beweglichen, silbrigen Fell bedeckt war. Das Fell befand sich in ständiger Bewegung, und breite Kräuselungen, die gelegentlich von kleinen Strudeln und Wellen durchkreuzt wurden, verliefen langsam vom kegelförmigen Kopf bis zum Schwanz hinab, als ob der unglaublich feine Pelz eine Flüssigkeit wäre, die von einem nicht spürbaren Wind aufgewühlt wurde. Dieses Fell erklärte und entschuldigte zugleich die ungehobelte und direkte Art, in der die Kelgianerin ein Thema angesprochen hatte, das, wie sie wissen mußte, sehr heikel war.
Aufgrund der unzulänglichen Anatomie der kelgianischen Sprechorgane wies die Sprechweise der DBLFs keine Intonation und Akzentuierung und damit keinerlei emotionale Ausdrucksfähigkeit auf. Doch das wurde durch das äußerst bewegliche Fell ausgeglichen, das die Empfindungen des Sprechers, zumindest für einen Kelgianer, vollständig, aber auch unwillkürlich widerspiegelte. Deshalb waren diesen Wesen Begriffe wie Lüge, Diplomatie, Taktgefühl oder gar Höflichkeit vollkommen fremd. Ein Kelgianer sagte immer genau das, was er meinte oder fühlte, da das Fell ständig seine Empfindungen verriet und er es als Dummheit und reine Zeitverschwendung betrachtet hätte, sich anders zu verhalten. Aber die Kelgianer hatten es auch mit den meisten anderen Lebensformen nicht gerade leicht, denn durch die Höflichkeit und die sprachlichen Umschreibungen, der sich viele Spezies bedienten, ließen sie sich wiederum leicht verwirren und irritieren.
„Schwester Tarsedth, ich fühle mich sehr unwohl, aber eher in psychologischer als in körperlicher Hinsicht“, reagierte Lioren mit leichter Verspätung. „Über die Therapie, die O'Mara in meinem Fall anwendet, bin ich mir bisher selbst nicht ganz im klaren, doch da ich zum erstenmal seit der Urteilsverkündung in die Kantine gehen durfte, wenn auch nur in Begleitung von zwei Beschützern, liegt es nahe, daß sie entweder allmählich eine Wirkung zeigt oder sich mein Zustand vielleicht trotz der Therapie verbessert. Falls Sie nicht nur aus reiner Neugier gefragt haben und Ihr Hilfsangebot mehr als bloß ein freundliches Wort sein soll, schlage ich Ihnen vor, zu Einzelheiten der Therapie und der Fortschritte — wenn es welche gibt — den Chefpsychologen höchstpersönlich zu befragen.“
„Sind Sie verrückt geworden?“ entgegnete die Kelgianerin aufgebracht, wobei sich ihr silbriges Fell plötzlich zu Stacheln bündelte. „Ich werde mich schwer hüten, ihm diesbezüglich irgendwelche Fragen zu stellen. O'Mara würde mir jedes Haar einzeln aus dem Fell reißen!“
„Und das wahrscheinlich ohne Betäubung“, fügte Cha Thrat hinzu, als sich Tarsedth entfernte.
Begleitet von einem akustischen Signal, das Lioren daran hinderte, die Antwort der Kelgianerin zu hören, glitten die Tabletts mit den Gerichten aus der Ausgabeöffnung im Tisch. „Ach, so was essen also die Tarlaner“, staunte Braithwaite und vermied es von da an, auf Liorens Teller zu sehen.
Obwohl er mit derselben Körperöffnung essen und sprechen mußte, führte der Terrestrier mit Cha Thrat ununterbrochen ein Gespräch, in dem er und die Sommaradvanerin verlockende Pausen einlegten, damit sich Lioren an der Unterhaltung beteiligen konnte. Ganz offensichtlich taten sie beide ihr Bestes, ihn zu beruhigen und seine Aufmerksamkeit von den Nachbartischen abzulenken, von denen aus er allgemein beobachtet wurde, doch bei einem Tarlaner, der sich ganz bewußt und mit aller Kraft darauf konzentrieren mußte, nicht gleichzeitig in alle Richtungen zu blicken, hatten sie damit nur wenig Erfolg. Ebenfalls klar war, daß er hier einer nicht gerade subtilen Psychotherapie unterzogen wurde.
Wie er wußte, waren Cha Thrat und Braithwaite über seinen Fall voll und ganz informiert, dennoch versuchten sie, ihn dazu zu bringen, diese Auskünfte noch einmal selbst zu wiederholen, um seine momentane Einstellung gegenüber sich selbst und denen, die ihn umgaben, besser einschätzen zu können. Dabei bedienten sie sich der Methode, sich über scheinbar höchst vertrauliche und oft persönliche Dinge zu unterhalten: über ihr vergangenes Leben, ihre persönlichen Ansichten über die Abteilung und ihre Einstellung zu O'Mara und anderen Mitarbeitern des Hospitals, zu denen sie angenehme oder unangenehme Kontakte gehabt hatten, in der Hoffnung, Lioren würde sich dafür revanchieren. Der Tarlaner hörte zwar mit großem Interesse zu, sagte jedoch kein Wort, es sei denn, er beantwortete direkt an ihn gerichtete Fragen von seinen beiden Mitarbeitern oder von anderen Personalmitgliedern, die von Zeit zu Zeit an seinem Tisch stehen blieben.
Die Fragen der silberpelzigen Kelgianer beantwortete er so einfach und direkt, wie sie gestellt wurden. Bei einem gewaltig großen sechsbeinigen Hudlarer mit der Armbinde eines fortgeschrittenen Krankenpflegeschülers, dessen Körper lediglich von einer erst kürzlich aufgetragenen Schicht Nahrungspräparat bedeckt war und der ihm im Vorbeigehen schüchtern „Alles Gute“ zugerufen hatte, bedankte er sich höflich. Genauso wie bei einem Terrestrier namens Timmins, der die Uniform des Monitorkorps mit dem Rangabzeichen eines Wartungsoffiziers trug. Dieser DBDG sagte ihm, er hoffe, daß die tarlanischen Umweltbedingungen in seiner Unterkunft richtig nachgebildet worden seien, und falls er noch etwas brauchte, um sich wohler zu fühlen, solle er nicht zögern, ihn darum zu bitten. Ein Melfaner, der die goldgeränderte Binde eines Chefarztes am einen krabbenartigen Arm hatte, blieb stehen, um Lioren mitzuteilen, daß er sich freue, ihn beim Essen in der Kantine anzutreffen, weil er sich schon längst einmal mit ihm habe unterhalten wollen, diesmal aber leider keine Zeit habe, da er in der ELNT-Chirurgie erwartet werde. Daraufhin erklärte ihm Lioren, daß er vorhabe, in Zukunft regelmäßig in der Kantine zu essen, wodurch sich ihnen in nächster Zeit bestimmt häufiger die Gelegenheit zu einer Unterhaltung böte.
Offenbar befriedigte diese Antwort Braithwaite und Cha Thrat, und als der melfanische Arzt die Kantine verließ, setzten sie das Gespräch fort, dessen Pausen sich Lioren weiterhin standhaft zu füllen weigerte. Hätte er sich in diesem Moment dafür entschieden, zu sprechen und seine Ansichten darzulegen, hätte er gestehen müssen, daß er diese ständigen Mahnungen an seine Schuld als Teil der Strafe akzeptieren müsse, weil er schließlich dazu verurteilt worden sei, mit dem furchtbaren Verbrechen zu leben, das er begangen hatte.
Lioren glaubte nicht, daß seine beiden Kollegen erfreut gewesen wären, dies zu hören.
Wie er aus ihren Erzählungen entnehmen konnte, stand es den Mitarbeitern der psychologischen Abteilung frei, im Hospital überall hinzugehen und mit jedem Personalangehörigen — vom untersten Krankenpflegeschüler oder Wartungslehrling bis zu den fast gottgleichen Diagnostikern höchstpersönlich — zu sprechen oder ihn auszufragen, und das zu jeder Zeit, solange es sich nicht nachteilig auf die Ausübung der beruflichen Pflichten der betreffenden Person auswirkte. Folglich überraschte es nicht, daß sie sich mit ihrer Befugnis, sich in jedermanns ganz private Angelegenheiten einzumischen, beim Personal nicht gerade viele Freunde machten. Was hingegen überraschte, war, auf welche Weise diese Psychologen aus den verschiedensten Spezies angeworben wurden, und über welche Fähigkeiten, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, sie aus ihren früheren Berufen verfügten.
So war O'Mara als Bautechniker ans Orbit Hospital gekommen, kurz bevor es in Dienst gestellt worden war, und die Akte über die Arbeit, die er inmitten des ursprünglichen Personals und der ersten Patienten geleistet und die ihm die Beförderung zum Major und Chefpsychologen eingebracht hatte, durfte nicht mehr eingesehen werden. Allerdings gab es ein Gerücht, nach dem er einst ganz allein und ohne Hilfe von schweren Hebemaschinen oder Translatoren für einen hudlarischen Säugling, der zur Waise geworden war, die Amme gespielt hatte. Doch diese Geschichte hielt Lioren für zu unwahrscheinlich, als daß sie auf Tatsachen hätte beruhen können.
Nach dem, was ausgesprochen wurde oder auch unausgesprochen blieb, hatte Lieutenant Braithwaites Laufbahn in der Abteilung für die Verständigung mit fremden Spezies und Kulturkontakt des Korps begonnen, in der er anfangs Anlaß zu den größten Hoffnungen gegeben und noch größere Ungeduld gegenüber seinen Vorgesetzten an den Tag gelegt hatte. Seine Arbeit schien er damals voller Begeisterung, Hingabe, Selbstvertrauen und Intuition zu verrichten, und unabhängig davon, ob sich diese Intuition — wie in der Mehrzahl der Fälle — als zuverlässig oder als unsicher herausstellte, das Ergebnis erwies sich für die Verantwortlichen jedesmal als eine starke Belastung. Braithwaites Versuch, das Erstkontaktverfahren auf Keran dadurch zu beschleunigen, daß die philosophisch konservative Priesterschaft übergangen wurde, führte beispielsweise zu einem landesweiten religiösen Aufruhr, in dem viele Kerani verletzt wurden und umkamen. Daraufhin erhielt Braithwaite eine Disziplinarstrafe und durchlief eine Reihe von untergeordneten Stellungen in der Verwaltung, von denen sich sowohl für Braithwaite als auch für seine Vorgesetzten keine als geeignet erwies, bis er schließlich ans Orbit Hospital versetzt wurde. Für kurze Zeit arbeitete er in der Sektion ̃̄„Hauskommunikation“ innerhalb der Wartungsabteilung, wo er bei dem Versuch, das Übersetzungsprogramm für die vielen verschiedenen Sprachen, die im Hospital gesprochen wurden, zu überarbeiten und zu vereinfachen, den Hauptcomputer zum Absturz brachte und sämtlichen Mitarbeitern des Krankenhauses und den Patienten die Möglichkeit nahm, etwas anderes zu tun, als sich mehrere Stunden lang gegenseitig in unverständlichen Lauten anzubellen, anzukollern oder anzupiepsen. Colonel Skempton war von dem, was Braithwaite zu erreichen gehofft hatte, weniger beeindruckt gewesen als von dem Chaos, das von ihm angerichtet worden war, und hatte ihn schon auf den einsamsten und entferntesten Außenposten des Monitorkorps in der Föderation verbannen wollen, als letztendlich O'Mara zugunsten des Lieutenants eingeschritten war.
Ebenso war auch Cha Thrats Laufbahn von persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten überschattet worden. Sie war die erste und bislang einzige Sommaradvanerin, die die Eignung zur Chirurgin für Krieger erworben und diese Tätigkeit ausgeübt hatte, womit sie in einem Beruf, der ansonsten ausschließlich männlichen Mitgliedern ihrer Spezies vorbehalten war, eine sehr bedeutende Stellung eingenommen hatte. Zwar war sich Lioren nicht sicher, was ein Chirurg für Krieger von Sommaradva sein oder tun sollte, aber Cha Thrat war es gelungen, ein Mitglied einer außerplanetarischen Spezies erfolgreich zu behandeln, nämlich einen terrestrischen Offizier vom Monitorkorps, der bei einem Flugzeugabsturz sehr schwer verletzt worden war und den Cha Thrat noch nie zuvor gesehen hatte. Da das Korps von ihrem chirurgischen Können und ihrer geistigen Beweglichkeit beeindruckt war, bot es ihr damals die Möglichkeit, sich am Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf in der Chirurgie vieler verschiedener Spezies ausbilden zu lassen. Dieses Angebot nahm Cha Thrat an, weil sie wußte, daß die zu fremden Spezies gehörenden Ärzte am Hospital ihre Arbeit — anders als es auf Sommaradva üblich war — nach dem fachlichen Wert beurteilen würden, ohne sich darum zu kümmern, ob Cha Thrat männlich oder weiblich war.
Doch die leidenschaftliche Hingabe und die strengen medizinischen Regeln eines Chirurgen für Krieger von Sommaradva, die in vieler Hinsicht denen von Liorens tarlanischer Ärzteschaft ähnelten, hatten nicht denen des Orbit Hospitals entsprochen. Cha Thrat ging zwar nicht auf nähere Einzelheiten ihrer Vergehen ein, sondern deutete nur an, daß jedes Personalmitglied erpicht darauf wäre, Liorens Neugier in dieser Angelegenheit zu stillen, aber nach dem Eindruck, den er gewann, hatte sie als Auszubildende zu viel medizinische Initiative an den Tag gelegt und ihren nominellen Vorgesetzten zu oft bewiesen, daß sie sich im Irrtum befanden. Nach einem besonderen Zwischenfall, bei dem sie vorübergehend einen Arm verlor, wollte keine Station im Hospital sie mehr zur Ausbildung annehmen. Deshalb wurde Cha Thrat — wie Braithwaite — zur Wartungsabteilung versetzt und arbeitete dort, bis ein schwerwiegender Akt des Ungehorsams, der durch die damaligen medizinischen Umstände gerechtfertigt war, zu ihrer Entlassung führte. Und wieder wie bei Braithwaite war es letztendlich O'Mara gewesen, der Cha Thrat davon abgehalten hatte, das Hospital zu verlassen, indem er sie für die psychologische Abteilung angeworben hatte.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs, das ihn sowohl informieren als auch aus der Reserve locken sollte, spürte Lioren eine wachsende Zuneigung zu diesen beiden Wesen. Wie er selbst waren auch sie mit zuviel Intelligenz, Individualität und Initiative gestraft und hatten schwer darunter gelitten.
Natürlich waren ihre Vergehen im Vergleich zu Liorens Verbrechen geringfügig, weil es sich bei den beiden eher um Außenseiter mit psychologischen Defekten als um Kriminelle handelte und sie für das Unrecht, das sie begangen hatten, nicht voll verantwortlich waren. Aber gestanden sie ihm diese Delikte in der Form einer scheinbar belanglosen Plauderei ein, damit er sie beide und auch die Situation in der psychologischen Abteilung wirklich besser verstand? Oder handelte es sich eher um den Versuch, lediglich die eigenen Schuldgefühle durch das Bemühen, ihm zu helfen, zu mindern? Da die beiden im Gegensatz zu Lioren ihre wahren Gefühle verbargen, indem sie nicht schwiegen, sondern fortwährend redeten, konnte er sich dessen nicht sicher sein. Es ging ihm sogar der beunruhigende Gedanke durch den Kopf, daß Braithwaite und Cha Thrat womöglich gar nicht unter Schuldgefühlen litten und durch ihre Bemühen, Lioren zu helfen, sowie durch ihre anderen Aufgaben in der Abteilung ihre früheren Vergehen vergaßen. Allerdings verwarf er diesen Gedanken sogleich als völlig absurd, da man ein einst begangenes Verbrechen ebensowenig vergessen konnte wie den eigenen Namen.
„Lioren, was ist denn?“ fragte Braithwaite plötzlich. „Sie essen nichts und unterhalten sich auch nicht mit uns. Möchten Sie lieber wieder ins Büro?“
„Nein, jetzt noch nicht“, antwortete Lioren. „Mir ist übrigens durchaus klar, daß es sich bei diesem Kantinenbesuch um einen psychologischen Test gehandelt hat und Sie genauestens auf meine Äußerungen und mein Verhalten geachtet haben. Außerdem haben Sie, was ganz bestimmt auch zum Test gehört hat, Fragen über sich selbst beantwortet, ohne daß ich sie stellen mußte, auch wenn einige davon so persönlich gewesen sind, daß ich es für höchst unhöflich gehalten hätte, sie an Sie zu richten. Doch jetzt werde ich Ihnen eine ganz direkte Frage stellen. Zu welchen Schlußfolgerungen sind Sie durch Ihre Beobachtungen gekommen?“
Braithwaite blieb stumm, deutete jedoch mit einer leichten Kopfbewegung an, daß Cha Thrat antworten sollte.
„Sie haben davon gehört und werden verstehen, daß ich meine eigentliche Tätigkeit als Chirurgin für Krieger nicht ausüben darf und bisher noch keine voll ausgebildete Zauberin bin“, sagte die Sommaradvanerin. „Deshalb mangelt es meinen Zaubersprüchen, wie es Ihre Äußerungen vorhin schon bewiesen haben, noch an Raffinesse, und sie sind darum ziemlich leicht zu durchschauen. Somit besteht die Gefahr, daß meine Beobachtungen und Schlußfolgerungen ebenfalls allzusehr vereinfacht und ungenau sind. Nach meinen Beobachtungen ist der Zauberspruch, der Sie aus der Abgeschiedenheit des Büros und Ihrer Unterkunft herausholen und in die Kantine bringen sollte, insofern erfolglos gewesen, als daß Sie auf alle, die an Sie herangetreten sind, ruhig und ohne offensichtliche emotionale Anspannung reagiert haben. Er ist erfolglos gewesen, weil er nicht Ihren Widerwillen bezwungen hat, Ihre persönlichen Ansichten darzulegen, was ein weiterer und noch wichtigerer Zweck des Tests gewesen ist. Daher lautet meine Schlußfolgerung, daß Sie ab jetzt immer ohne Begleitung in die Kantine gehen sollten, es sei denn, man schließt sich Ihnen nicht an, um Sie zu therapieren, sondern um Ihnen Gesellschaft zu leisten.“
Braithwaite nickte mit dem Kopf, eine Geste, mit der die Terrestrier wortlos zustimmten. „Wie sehen denn Ihre eigenen Schlußfolgerungen als Gegenstand dieses nur zum Teil erfolgreichen Tests aus, Lioren? Sprechen Sie Ihre Ansichten darüber wenigstens genauso freimütig wie ein Kelgianer aus, und schonen Sie dabei bitte nicht unsere Gefühle.“
Einen Augenblick lang schwieg Lioren. Dann entgegnete er: „Ich würde gerne wissen, wieso sich Cha Thrat in einer Zeit fortschrittlicher Medizin und Technologie für eine Zauberin hält, sei sie nun ausgebildet oder nicht. Außerdem bin ich über die persönlichen Auskünfte, die Sie mir über sich erteilt haben, erstaunt und beunruhigt zugleich. Auch auf die Gefahr hin, Sie beide schwer zu beleidigen, kann ich daraus nur schließen, daß Sie auch. Besteht das Personal der psychologischen Abteilung eigentlich nur aus aufsässigen Außenseitern und Wesen, die in der Vergangenheit emotional in Aufruhr geraten sind?“
Cha Thrat gab einen unübersetzbaren Laut von sich, und der Terrestrier bellte leise.
„Ohne Ausnahme“, antwortete Braithwaite lächelnd.