11. Kapitel

Liorens nachfolgende Besuche bei Mannon verliefen, länger, vollkommen ungestört und nicht annähernd so schmerzlich, wie er befürchtet hatte.

Er hatte Hredlichi, die Oberschwester auf Mannons Station, gebeten, ihn immer sofort zu informieren, wenn der Patient bei Bewußtsein war und sich in der Verfassung befand, Besucher zu empfangen, egal, wie spät am Tag oder in der Nacht es nach der willkürlich festgelegten Zeit des Hospitals war. Vor ihrer Zustimmung hatte Hredlichi beim Patienten nachgefragt, der mit Ausnahme der Visite seines Chirurgen bisher jeglichen Besuch abgelehnt hatte oder sich einfach schlafend zu stellen pflegte, wenn sich trotzdem jemand nicht davon abhalten ließ, das Krankenzimmer zu betreten. Entsprechend war die Oberschwester äußerst überrascht gewesen, als sich Mannon einverstanden erklärt hatte, Lioren als einzigen nichtmedizinischen Besucher zu empfangen.

Wie Cha Thrat dem Tarlaner erklärt hatte, sei sie zwar nicht genügend motiviert, um für die Untersuchung in Sachen Seldal — die schließlich in Liorens Verantwortungsbereich falle — immer sofort den Schlaf zu unterbrechen oder andere, dringendere Beschäftigungen aufzugeben, aber solange es dem Terrestrier keine größeren persönlichen Unannehmlichkeiten bereite, werde sie Lioren auch weiterhin in jeder Hinsicht unterstützen. Aus diesem Grund war Liorens erster Besuch bei Mannon der einzige geblieben, auf dem ihn die Sommaradvanerin begleitet hatte.

Beim dritten Besuch war Lioren zwar erleichtert, daß sich Mannon nicht ausschließlich über die Cromsaggi unterhalten wollte, aber gleichzeitig enttäuscht, weil er Seldals Verhalten noch keinen Deut besser verstand, und verlegen, da der Patient bei jedem Besuch immer länger über sich selbst sprach.

„Bei allem Respekt, Doktor“, sagte Lioren nach einer besonders strittigen Selbstdiagnose Mannons, „ich habe weder ein terrestrisches Schulungsband im Kopf gespeichert, durch das ich mir in Ihrem Fall eine Meinung bilden könnte, noch darf ich als Mitarbeiter der psychologischen Abteilung als Arzt praktizieren. Der für Sie verantwortliche Mediziner ist Seldal, und der.“

„Sie reden mit mir, als ob ich. ein plapperndes Kleinkind wäre“, unterbrach ihn Mannon. „Beziehungsweise ein verängstigter Patient. der im Sterben liegt. Wenigstens. versuchen Sie nicht, mir eine. tödliche Überdosis. Mitleid einzuflößen. Sie sind hier, um. Auskünfte über Seldal einzuholen und als Gegenleistung dafür. meine Neugier über Sie zu befriedigen. Nein, ich habe nicht so sehr Angst davor zu sterben. sondern vielmehr davor. zuviel Zeit zu haben, darüber nachzudenken.“

„Haben Sie Schmerzen, Doktor?“ fragte Lioren.

„Sie wissen doch, daß ich keine Schmerzen habe, verdammt noch mal!“ antwortete Mannon mit einer Stimme, die durch den Unwillen kräftiger klang. „In den schlechten alten Zeiten hat es vielleicht Schmerzen. und unwirksame Schmerzmittel gegeben, die die Funktion der unwillkürlichen Muskulatur dermaßen. eingeschränkt haben, daß. die größeren Organe versagten und. das Medikament für den Tod des Patienten. genauso verantwortlich war wie die Schmerzen. Dadurch ist der behandelnde Arzt. mit einem Minimum an moralischen Gewissensbissen davongekommen und. seinem Patienten ein langsamer und qualvoller Tod erspart geblieben. Doch inzwischen haben wir gelernt, Schmerzen ohne schädliche Nebenwirkungen zu vertreiben.. und ich kann nichts anderes tun, als abzuwarten, welches von meinen lebenswichtigen Organen. als erstes aus Altersschwäche den Dienst versagt.

Ich hätte Seldal nicht auf meine Eingeweide loslassen sollen“, schloß Mannon, wobei seine Stimme wieder ins Flüstern verfiel. „Aber diese Verstopfungen. waren wirklich unangenehm.“

„Ich kann das durchaus nachempfinden“, sagte Lioren, „denn auch ich wünsche mir den Tod. Doch Sie können mit Stolz und ohne Kummer auf Ihr vergangenes Leben zurückblicken und einem Ende entgegensehen, das sich nicht lange hinauszögern wird. Dagegen liegt in meiner Vergangenheit und Zukunft nichts als Schuld und Elend, die ich ertragen muß, bis.“

„Können Sie wirklich nachempfinden, was in mir vorgeht, Lioren?“ fiel ihm Mannon ins Wort. „Sie machen auf mich eher den Eindruck. nichts als eine stolze und gefühllose. aber sehr effektive Heilungsmaschine zu sein. Der Vorfall auf Cromsag. hat gezeigt, daß diese Maschine einen Defekt aufweist. Sie wollen die Maschine zerstören. während O'Mara sie reparieren will. Wer von Ihnen beiden letztlich Erfolg haben wird, weiß ich nicht.“

„Nur um einer Strafe zu entgehen, würde ich mich niemals selbst zerstören!“ widersprach Lioren entschieden.

„Einem durchschnittlichen Personalmitglied würde ich solche. persönlich verletzenden Dinge nicht sagen“, fuhr Mannon fort. „Ich weiß, daß Sie glauben, solche Beleidigungen. und noch Schlimmeres verdient zu haben. und Sie erwarten keine Entschuldigung von mir. Aber ich entschuldige mich trotzdem. weil ich Sie auf eine Art verletze, die ich nicht für möglich gehalten habe. und Sie regelrecht attackiere. Aus diesem Grund ignoriere ich auch meine Freunde, wenn sie mich besuchen, damit sie nicht merken. daß ich nichts als ein rachsüchtiger alter Mann bin.“

Bevor Lioren eine Entgegnung darauf einfiel, sagte Mannon mit schwacher Stimme: „Ich habe jemanden verletzt, der mir nichts angetan hat. Das kann ich bei Ihnen nur wiedergutmachen, indem ich. Ihnen mit Auskünften über Seldal helfe. Wenn er mich morgen früh besucht. werde ich ihm ganz bestimmte und sehr persönliche Fragen stellen. Aber die Verbindung zu Ihnen. werde ich ihm gegenüber natürlich nicht erwähnen, und von selbst. wird er in dieser Richtung keinerlei Verdacht hegen.“

„Danke“, sagte Lioren. „Aber ich verstehe nicht, wie Sie ihm solche Fragen.“

„Das ist ganz einfach“, unterbrach ihn Mannon, dessen Stimme plötzlich wieder kräftiger wurde. „Seldal ist Chefarzt, und ich bin bis zu meiner unverhofften Degradierung zum Patienten Diagnostiker gewesen. Aus folgenden drei Gründen wird sich Seldal freuen, alle meine Fragen zu beantworten: aus Achtung vor meinem früheren Rang als Diagnostiker; dann, weil er einem Sterbenden, der, was sehr gut möglich ist, zum letztenmal fachsimpeln will, seinen Willen lassen möchte; und besonders deshalb, weil ich schon seit drei Tagen vor der Operation kein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen habe. Sollte ich nach einer solchen Art des Vorgehens immer noch keine nützlichen Informationen für Sie herausbekommen haben, dann gibt es auch keine.“

Nur weil er Lioren gegenüber ein paar unhöfliche Worte gebraucht hatte, wollte der Terrestrier durch diese womöglich letzte konstruktive Tat seines Lebens dem Tarlaner bei den Untersuchungen zu Seldal helfen, wie es niemand sonst konnte. Lioren hatte es schon immer für falsch gehalten, sich bei einem Krankheitsfall auch nur ansatzweise emotional zu engagieren, da nach seinem Dafürhalten den Interessen des Patienten am besten durch die unpersönliche, medizinisch-sachliche Einstellung gedient war — und Mannon war nicht einmal sein Patient. Doch irgendwie gewann er allmählich den Eindruck, als wäre die Untersuchung über das Verhalten des nallajimischen Chefarztes nicht mehr seine einzige Aufgabe.

„Ich möchte Ihnen nochmals für Ihre Hilfe in dieser Angelegenheit danken“, sagte Lioren schließlich.

„Aber ich wollte eben sagen, daß ich nicht verstehe, warum Sie andere in einer Weise verletzen, die Sie selbst nicht für möglich gehalten hätten, wo Sie doch dank des Medikaments keine Schmerzen mehr haben dürften. Handelt es sich womöglich um ein nichtmedizinisches Problem?“

Mit starrem Blick sah ihn Mannon eine scheinbar ewig lange Zeit schweigend an, und Lioren wünschte, er könnte den Ausdruck auf dem ausgezehrten und tief zerfurchten Gesicht lesen. Er versuchte es noch einmal.

„Falls es ein nichtmedizinisches Problem ist, wäre es Ihnen dann lieber, wenn ich O'Mara holen lassen würde?“

„Nein!“ wehrte Mannon mit schwacher, aber sehr bestimmter Stimme ab. „Ich will mich nicht mit dem Chefpsychologen unterhalten. Der ist schon etliche Male hiergewesen, bis er es endlich aufgegeben hat zu versuchen, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, der sich die ganze Zeit schlafend stellt. Seither ist er, wie meine anderen Freunde auch, weggeblieben.“

Es lag auf der Hand, daß Mannon zwar mit jemandem reden wollte, sich bislang aber noch nicht dazu durchgerungen hatte. Nach Liorens Ansicht könnte sich Schweigen als die sicherste Form herausstellen, ihn danach zu fragen.

„In Ihrem Kopf steckt zu viel, das Sie vergessen möchten“; fuhr Mannon schließlich mit einer Stimme fort, die von irgendwoher neue Kraft geschöpft hatte. „Umgekehrt gibt es in meinem noch mehr, an das ich mich nicht erinnern kann.“

„Ich verstehe Sie immer noch nicht ganz“, warf Lioren ein.

„Muß ich Ihnen das wirklich erklären, als ob Sie ein Krankenpflegeschüler am ersten Tag wären?“ fragte der Terrestrier. „Den größten Teil meines Berufslebens bin ich Diagnostiker gewesen. Als solcher mußte ich — oft für einen Zeitraum von mehreren Jahren — das Wissen, die Persönlichkeiten und die medizinischen Erfahrungen von bis zu zehn Lebewesen gleichzeitig im Kopf gespeichert haben. Dabei hat man das Gefühl, daß der eigene Verstand von vielen fremden Persönlichkeiten in Besitz genommen wird, die — weil es sich bei den Spezialisten, von denen diese Aufzeichnungen gemacht werden, selten um schüchterne und zurückhaltende Wesen handelt — gegeneinander um die Vorherrschaft ringen. Das ist ein subjektives geistig-seelisches Phänomen, das man überwinden muß, wenn man Diagnostiker bleiben will, doch am Anfang scheint der eigene Verstand eine Art Schlachtfeld mit zu vielen Kämpfern zu sein, die sich gegenseitig bekriegen, bis schließlich.“

„Das verstehe ich gut“, unterbrach ihn Lioren. „Während meiner Zeit als Chefarzt hier am Hospital hat man mal von mir verlangt, drei Bänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben.“

„Aber der Hausherr ist in der Lage, Ruhe und Ordnung zu schaffen“, fuhr Mannon langsam fort, „normalerweise, indem er lernt, diese fremden Persönlichkeiten zu verstehen, sich auf sie einzustellen und sich mit ihnen zu befreunden, ohne irgendeinen Teil des eigenen Verstands aufzugeben, bis er die notwendige Anpassung vollziehen kann. Das ist der einzige Weg, um einem schweren psychischen Trauma und der Streichung vom Dienstplan der Diagnostiker zu entgehen.“

Kurz schloß Mannon die Augen, bevor er weitersprach. „Doch jetzt ist das geistige Schlachtfeld leer, verlassen von den einstigen Kämpfern, die Freunde geworden sind. Ich bin ganz allein mit dem Wesen namens Mannon und habe nur noch Mannons Erinnerungen, zu der auch die Erinnerung gehört, noch viele andere Erinnerungen gehabt zu haben, die mir genommen worden sind. Wie man mir gesagt hat, ist das beabsichtigt, weil einem der Verstand vor dem Tod eine Zeitlang allein gehören sollte. Aber ich fühle mich einsam, einsam und leer und umsorgt und vollkommen schmerzfrei, während ich den subjektiven Eindruck habe, eine Ewigkeit damit zu verbringen, auf mein Ende zu warten.“

Lioren geduldete sich, bis er ganz sicher war, daß Mannon zu Ende gesprochen hatte; dann sagte er: „In einer Zeit wie dieser werden Terrestrier, die an unheilbarer Altersschwäche leiden, und eigentlich auch die Mitglieder der meisten anderen Spezies durch die Anwesenheit von Freunden getröstet. Aus irgendeinem Grund haben Sie sich dafür entschieden, solche Besuche von sich fernzuhalten, aber wenn Sie die Gesellschaft der Bandurheber, die einmal Ihre geistigen Freunde gewesen sind, vorziehen, wäre doch die einzig vernünftige Lösung, sich wieder Schulungsbänder Ihrer Wahl ins Gehirn einspielen zu lassen. Ich werde das dem Chefpsychologen vorschlagen, der dann vielleicht.“

„Schlagen Sie sich bloß Ihre psychologischen Ambitionen aus dem Kopf“, fiel ihm Mannon ins Wort. „Oder ist Ihrem tarlanischen Verstand schon entgangen, daß Sie Seldals Verhalten untersuchen sollen und nicht einen seiner Patienten namens Mannon? Vergessen Sie die Bänder, Lioren. Sollte O'Mara nämlich jemals herausfinden, was Sie als Auszubildender der psychologischen Abteilung hier zu tun versucht haben, werden Sie ernste Probleme bekommen.“

„In größere Schwierigkeiten zu geraten als in die, in denen ich ohnehin schon stecke, kann ich mir nicht vorstellen“, reagierte Lioren in ernstem Ton.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Mannon, wobei er eine der Hände ein paar Zentimeter weit über die Decke hob und wieder sinken ließ. „Einen Augenblick lang hatte ich den Vorfall auf Cromsag ganz vergessen. Verglichen mit der Strafe, die Sie über sich selbst verhängt haben, wäre eine Standpauke von O'Mara das reinste Zuckerschlecken.“

Lioren reagierte nicht auf Mannons Entschuldigung, da eine Person, die Schuld auf sich geladen hatte, nach seiner Auffassung keine Entschuldigung verdiente, und sagte statt dessen: „Sie haben recht, wieder die Schulungsbänder in Ihrem Gehirn zu speichern ist keine gute Lösung. Zwar besitze ich nur dürftige Kenntnisse über terrestrische Psychologie, aber wäre es nicht besser, wenn Ihr Kopf in dieser Zeit allein Ihnen gehören und nicht mit anderen Persönlichkeiten gefüllt sein würde, deren Gehirnströme aufgezeichnet worden sind, bevor die Betreffenden überhaupt von Ihrer Existenz gewußt haben, und deren scheinbare Freundschaft zu Ihnen nichts als eine Selbsttäuschung gewesen ist, die Ihnen die Anwesenheit dieser fremden Wesen erträglicher machen sollte? Müßten Sie nicht in dieser Zeit das, was in Ihrem Kopf steckt, Ihre Gedanken, Erfahrungen, Ihre richtigen und falschen Entscheidungen und die beachtlichen Kenntnisse, die Sie im Laufe Ihres Lebens gesammelt haben, in Ordnung bringen? Das würde Ihnen bestimmt dabei helfen, die verbleibende Zeit sinnvoll zu nutzen. Und wenn Sie Ihre Freunde nicht mehr davon abhalten würden, Sie zu besuchen, könnte das auch eine Verkürzung der Zeit.“

„Ein intelligentes Lebewesen, das sich kein langes Leben und einen schnellen Tod gewünscht hat, muß ich erst noch kennenlernen“, unterbrach ihn Mannon. „Doch solche Wünsche werden nur selten erfüllt, nicht wahr, Lioren? Zwar läßt sich mein Leiden nicht mit Ihrem vergleichen, aber ich werde noch eine lange Zeit in einem Körper verbringen müssen, der aller Gefühle beraubt ist und in dem ein Verstand steckt, der für mich fremd und furchterregend ist, weil es sich um meinen eigenen Geist handelt, den ich nicht mehr auszufüllen vermag.“

Die beiden tiefliegenden Augen des ehemaligen Diagnostikers hefteten sich auf dasjenige Sehorgan von Lioren, das ihnen am nächsten war.

Mehrere Minuten lang erwiderte der Tarlaner den starren Blick des Patienten, wobei er sich Mannons Worte ins Gedächtnis zurückrief und jedes einzelne auf unausgesprochene Bedeutungen hin abklopfte, doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff der Terrestrier das Wort.

„Seit vielen Wochen habe ich nicht mehr so lange geredet, und ich bin sehr müde“, sagte er. „Bitte gehen Sie jetzt, sonst werde ich noch so unhöflich sein, mitten im Satz einzuschlafen.“

„Bitte haben Sie nur noch etwas Geduld mit mir, denn ich habe noch eine Frage an Sie“, bat Lioren. „Könnte es sein, daß Sie glauben, jemand, der bereits das ungeheuerliche Verbrechen des Völkermords begangen hat, würde nicht zusätzlich darunter leiden, wenn er einem Kollegen zu Gefallen eine einzelne und — im Verhältnis gesehen — verzeihlichere Straftat verüben soll? Wollen Sie mir nahelegen, Ihnen die Wartezeit zu verkürzen?“

Mannon schwieg so lange, daß Lioren schon die Anzeigen der Biosensoren überprüfte, um sicherzugehen, ob der Terrestrier nicht mit offenen Augen das Bewußtsein verloren hatte; dann fragte Mannon: „Falls das mein Vorschlag wäre, was würden Sie darauf antworten?“

Lioren wartete mit der Entgegnung nicht so lange. „Meine Antwort wäre ein klares Nein. Wenn möglich, muß ich versuchen, meine Schuld zu verringern und sie auf keinen Fall zu vergrößern, in welch geringem Ausmaß auch immer. Über die ethischen und moralischen Aspekte einer solchen Tat kann man zwar diskutieren, doch aus medizinischen Gründen kann ich sie nicht billigen, weil Sie keinerlei körperliche Schmerzen haben. Ihre Beschwerden sind rein subjektiv und das Produkt eines von fremden Gedanken befreiten Verstandes, der nur noch ein einziges Wesen beherbergt, nämlich Sie selbst, und Sie sind dort nicht mehr glücklich.

Doch das ist keine neue Erfahrung für Sie, weil es bei Ihnen der Normalzustand gewesen ist, bevor Sie Chefarzt und schließlich Diagnostiker geworden sind“, fuhr Lioren fort. „Ich habe Ihnen bereits vorgeschlagen, Ihren Verstand wieder mit alten Erinnerungen, Erlebnissen oder fachlichen Entscheidungen aufzufüllen, die Ihnen Spaß gemacht haben, oder mit Problemen, die von Ihnen mit Vergnügen gelöst worden sind. Oder würden Sie ihn lieber weiterhin mit neuen Physiologiebändern trainieren?“

Das, was er nun sagen wollte, würde sich gefühllos und selbstsüchtig anhören und könnte den Patienten sehr gut so erzürnen, daß er die weitere Zusammenarbeit verweigerte, aber Lioren sprach es trotzdem aus.

„Beispielsweise wäre da das ungelöste Rätsel des Verhaltens von Seldal“, fügte er hinzu.

„Verschwinden Sie“, forderte ihn Mannon mit schwacher Stimme auf, wobei er die Augen schloß. „Lassen Sie mich jetzt allein.“

Lioren ging erst, nachdem die Biosensoren die Veränderungen angezeigt hatten, die ihm verrieten, daß der Schlaf des Patienten in diesem Fall keine Verstellung war.

Als er am nächsten Morgen wieder ins Büro kam, konzentrierte sich Lioren bewußt auf die Routinearbeiten, um ein Gespräch mit Cha Thrat über Mannon zu vermeiden. Seiner Ansicht nach sollten die Äußerungen eines todkranken Patienten weder zu streng beurteilt noch anderen gegenüber wiederholt werden, insbesondere, da sie keinen direkten Bezug zur Untersuchung von Seldals Verhalten hatten.

Von den anderen drei postoperativen Patienten Seldals, die er fragte, waren zwei bereit, sich ausführlich mit ihm zu unterhalten — über sich selbst, über das Krankenhausessen und über die Schwestern, deren Pflege manchmal so sanft wie die Hände eines Elternteils war und dann wieder so gefühllos wie ein Tritt vom Hinterbein eines Tralthaners — , aber zu ihrem nallajimischen Chirurgen wollten sie sich fast überhaupt nicht äußern. Während der kurzen Zeit, die Seldal bei ihnen verbrachte, pflegte der MSVK offensichtlich selbst kaum etwas zu sagen, sondern hauptsächlich zuzuhören, was für einen Chefarzt zwar ein wenig ungewöhnlich sein mochte, aber keinesfalls eine charakterliche Anomalie darstellte, die schwerwiegend genug gewesen wäre, um O'Mara damit zu belästigen. Darum war Lioren zwar enttäuscht, aber keineswegs überrascht, als seine allgemeinen und notwendigerweise unbestimmten Fragen zu keinen Ergebnissen führten.

Für die postoperative Pflege des dritten Patienten waren tralthanische und hudlarische Schwestern verantwortlich, denen man verboten hatte, den Fall außerhalb der Station zu besprechen. Desgleichen hatte Seldal sämtlichen Mitgliedern anderer Spezies, die eine geringere Körpermasse als die der Hudlarer oder Tralthaner aufwiesen, untersagt, sich auch nur ansatzweise in die Nähe des Patienten zu begeben. Durch diesen geheimnisvollen Patienten wurde Liorens Neugier geweckt, und als er sich entschloß, per Computer dessen Krankenakte abzurufen, mußte er feststellen, daß ihm der Zugriff auf die Daten verweigert wurde.

Als sich Oberschwester Hredlichi mit ihm kurz darauf in Verbindung setzte, um ihm mitzuteilen, Mannon habe sie angewiesen, Lioren von nun an jederzeit den Besuch bei dem ehemaligen Diagnostiker zu gestatten, war er angenehm überrascht. Noch mehr überraschte ihn jedoch das, was ihm der Terrestrier beim nächsten Besuch gleich zu Anfang verkündete.

„Diesmal werden wir uns über Chefarzt Seldal, über Ihre Untersuchung und über Sie selbst unterhalten, nicht über mich“, entschied Mannon.

Er sprach langsam und mit schwacher Stimme, die gerade noch zu hören war, doch er machte keine langen Atempausen und verhielt sich nach Liorens Auffassung keinesfalls wie ein todkranker Patient, sondern eher wie ein leicht kränkelnder Diagnostiker.

Mit dem Nallajimer hatte sich Mannon unterhalten, als Seldal auf seinen zweimal täglich durchgeführten Rundgängen durch die Station bei ihm vorbeigekommen war.

Laut Mannon sei Seldal beide Male hocherfreut gewesen, daß sich der Patient wieder mit ihm unterhalten und Interesse am allgemeinen Geschehen und an anderen Lebewesen als sich selbst gezeigt habe. Beim ersten Gespräch sei offenkundig gewesen, daß sich Seldal seinem Patienten anpassen wollte, indem er Mannons bewußt allgemein gehaltene Fragen nach dem neuesten Hospitalklatsch und den übrigen Patienten beantwortet habe, und der nallajimische Chefarzt habe sich bei ihm viel länger aufgehalten, als dies aus medizinischer Sicht notwendig gewesen sei.

„Natürlich hat er das nur aus beruflicher Höflichkeit gegenüber der Person getan, die ich mal gewesen bin“, fuhr Mannon fort. „Zu den Leuten, über die wir gesprochen haben, hat aber auch der neue Auszubildende der psychologischen Abteilung gehört — dieser Lioren, der anscheinend ohne klare Vorstellung von dem, was er da eigentlich treibt, durchs Hospital umherirrt.“

Unwillkürlich und ruckartig nahmen Liorens mittlere Gliedmaßen die tarlanische Verteidigungshaltung ein, doch die Bedrohung wurde schon durch die nächsten Worte des Patienten beseitigt.

„Keine Sorge“, beruhigte ihn Mannon. „Wir haben über Sie selbst gesprochen, nicht über Ihr Interesse an Seldal. Oberschwester Hredlichi, die vier Münder hat und nicht einen davon halten kann, hat Seldal von Ihren häufigen Besuchen bei mir berichtet, und der Chefarzt wollte gerne von mir wissen, warum ich das erlaubt hätte und welches unsere Gesprächsthemen gewesen seien. Da ich ihm so kurz vor meinem Ende keine glatte Lüge auftischen wollte, habe ich behauptet, wir hätten uns über unsere Schwierigkeiten unterhalten und daß mir im Vergleich zu Ihren Problemen meine eigenen geradezu lächerlich klein erscheinen würden.“

Einen Moment lang schloß Mannon die Augen, und Lioren fragte sich, ob der Terrestrier durch die Anstrengung des langen, ununterbrochenen Monologs erschöpft sein könnte, doch dann schlug der ehemalige Diagnostiker sie wieder auf und fuhr fort: „Bei seiner zweiten Visite habe ich ihn nach seinen Schulungsbändern gefragt Hören Sie doch mal auf, so mit den Armen herumzufuchteln, Sie stoßen noch irgendwas um! Bald wird sich Seldal nämlich den medizinischen und psychologischen Prüfungen unterziehen müssen, die für die Beförderung zum Diagnostiker erforderlich sind, und wie ich weiß wäre ihm dafür jeder Ratschlag von einem ehemaligen Diagnostiker mit jahrzehntelanger Erfahrung willkommen. Meine Fragen nach den Methoden, mit denen er sich auf seine momentanen Gehirnpartner einstellt und sich an sie anpaßt, kamen für ihn also nicht ganz unerwartet und haben deshalb auch nicht seinen Verdacht erregt. Ob Ihnen die Informationen, die Sie bis jetzt erhalten haben, bei der Untersuchung weiterhelfen, kann ich nicht sagen.“

Im Laufe der letzten Sätze war Mannons Stimme so leise geworden, daß sich Lioren unbeholfen bis auf die Knie vorgebeugt hatte, um den Kopf näher an die Lippen des Terrestriers zu bringen. Ob die Informationen nützlich waren, wußte Lioren zwar nicht, aber durch sie hatte er zweifellos eine ganze Menge zum Nachdenken bekommen.

„Jedenfalls bin ich Ihnen äußerst dankbar, Doktor“, sagte er.

„So, nun habe ich Ihnen einen Gefallen getan, Oberstabsarzt. Sind Sie jetzt bereit, mir auch einen zu tun?“ erkundigte sich Mannon.

Ohne zu zögern, antwortete Lioren: „Nicht diesen.“

„Und wenn ich mich. ab jetzt weigere, mit Ihnen zusammenzuarbeiten?“ fragte Mannon mit einer Stimme, die von seinen Lippen aus nur wenige Zentimeter weit zu hören war. „Oder mich wieder schlafend stelle? Oder wenn ich Seldal alles erzähle?“

Ihre Köpfe befanden sich mittlerweile so dicht beieinander, daß Lioren drei seiner Augen ausstrecken mußte, um den unglaublich ausgemergelten Körper des ehemaligen Diagnostikers in seiner ganzen Länge übersehen zu können. „Dann würde ich in eine peinliche Lage geraten, einiges Leid ertragen müssen und vielleicht bestraft werden“, entgegnete er. „Gegen die Strafe, die ich verdiene, wäre das alles nichts. Aber Sie leiden in einer Weise, die ich mir kaum vorstellen kann, und Sie haben es nicht verdient. Wie Sie selbst sagen, finden Sie weder Trost, wenn Sie sich in Gesellschaft von Freunden befinden, noch wenn Sie vor dem Tod noch einmal Ihr vergangenes Leben an sich vorüberziehen lassen. Es mag ja sein, daß Ihr vereinsamter Verstand entsetzlich für Sie ist, nicht weil er wirklich verlassen ist, sondern weil der einzige, der noch in ihm steckt, für Sie zum Fremden geworden ist; aber dieser Verstand ist ein wertvolles Hilfsmittel, das wertvollste Hilfsmittel, das Sie je besessen haben, und sollte nicht einfach durch ein frühzeitiges Ende vergeudet werden, sosehr Sie sich das auch wünschen. Sie sollten Ihren Verstand so lange wie möglich benutzen.“

Sanft strich ein langer Atemzug des Terrestriers über Liorens Gesicht,

und dann murmelte Mannon kraftlos: „Lioren, in Ihren Adern ffießt… Fischblut.“

Innerhalb weniger Minuten war er eingeschlafen, und Lioren befand sich auf dem Rückweg ins Büro. Da er mit den Gedanken mehr beim Patienten als beim sich ewig stellenden Problem war, heil und unversehrt durch die Korridore zu kommen, stieß er mehrmals mit anderen Lebensformen zusammen, wobei beide Seiten zum Glück jedesmal von Verletzungen verschont blieben.

Die letzten Stunden oder Tage eines emotional gequälten und todkranken Patienten benutzte er als Mittel, eine einfache, unwichtige und überhaupt nicht dringende Untersuchung voranzutreiben, als würde er sich eines x-beliebigen geeigneten Werkzeugs bedienen, das ihm zufällig in die Hände geraten war und es ihm ermöglichte, eine Arbeit fertigzustellen. Wenn er dabei das Werkzeug veränderte oder dessen Leistungsfähigkeit steigerte, spielte das keine besondere Rolle. Oder doch?

Lioren erinnerte sich daran, daß er auf Cromsag an der Lösung eines Problems beteiligt gewesen war. Auch damals hatte er die Lösung für wichtiger gehalten als die einzelnen Beteiligten, und durch seinen geistigen Stolz und seine Ungeduld war ein ganzer Planet entvölkert worden. Auf seinem Heimatplaneten Tarla hatten dieser Stolz und seine hohe Intelligenz eine Barriere dargestellt, die von niemandem durchbrochen werden konnte, und er hatte zwar Vorgesetzte und Untergebene und eine Familie gehabt, aber keine Freunde. Vielleicht war Mannons eigentümlich falsche physiologische Beschreibung, die Lioren zunächst einer geistigen Verwirrung durch die Überanstrengung zugeschrieben hatte, sogar richtig gewesen, und in seinen Adern floß tatsächlich Fischblut. Möglicherweise war sie aber auch nicht ganz korrekt.

Lioren dachte an das ausgezehrte und kaum noch lebende Wesen, das er gerade verlassen hatte, an das bedauernswerte und zerbrechliche Werkzeug, das vorbildliche Arbeit leistete, und wunderte sich über die eigentümlichen Empfindungen von Schmerz und Traurigkeit, die in ihm aufstiegen.

Sollte seine erste Erfahrung mit Freundschaft genauso kurzlebig sein wie sein erster Freund?

Kaum hatte Lioren das Büro betreten, war ihm klar, daß etwas nicht stimmte, denn sowohl Cha Thrat als auch Braithwaite schnellten herum und starrten ihn an. Als erster ergriff der Terrestrier das Wort.

„O'Mara befindet sich gerade in einer Besprechung und darf auf keinen Fall gestört werden, und ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie ich Ihnen diese Nachricht beibringen soll“, sagte Braithwaite mit schneller, aufgeregter Stimme. „Verdammt, Lioren, man hat Ihnen doch aufgetragen, bei den Nachforschungen diskret vorzugehen! Was haben Sie über Ihren Auftrag verraten und wem? Wir haben gerade eine Nachricht von Chefarzt Seldal erhalten. Er will sich mit Ihnen im Versammlungsraum des nallajimischen Personals auf Ebene dreiundzwanzig treffen.“

Cha Thrat machte die sommaradvanische Geste, die tiefe Besorgnis ausdrückte, und fügte hinzu: „Und zwar sofort.“

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