14. Kapitel

Mehr als eine Stunde verging, bevor Lioren ins Stationszimmer zurückkehrte, wo er bereits von Seldal erwartet wurde, der sich aufplusterte und mit den nicht ganz verkümmerten Flügeln schlug, was bei Nallajimern ein Zeichen für Zorn war.

„Wie mir der Pfleger berichtet hat, haben Sie angeordnet, die Geräte zur Aufzeichnung der Gespräche auszuschalten und die früheren Unterhaltungen mit dem Patienten zu löschen“, beschwerte sich der Chefarzt, bevor Lioren etwas sagen konnte. „Damit haben Sie Ihre Befugnisse weit überschritten, Lioren, und das ist eine schlechte Angewohnheit von Ihnen. Ich habe geglaubt, daß Sie nach dem Vorfall auf Cromsag so etwas endgültig abgelegt hätten. Aber Sie haben sich mit dem Patienten länger unterhalten als alle medizinischen Mitarbeiter seit seiner Ankunft zusammengenommen. Was hat er Ihnen erzählt?“

Einen Augenblick lang schwieg Lioren, dann antwortete er: „Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ein Großteil der Auskünfte sind persönlicher Natur, und ich habe mich noch nicht entschieden, was ich verraten kann und was nicht.“

Seldal stieß ein lautes, ungläubiges Zwitschern aus. „Sie müssen vom Patienten Auskünfte erhalten haben, die mir bei der Behandlung helfen könnten. Zwar kann ich keinem Mitarbeiter Ihrer Abteilung befehlen, sensible Informationen über die Psyche eines anderen Lebewesens preiszugeben, dennoch kann ich O'Mara bitten, dies anzuordnen.“

„Chefarzt Seldal, ob das nun der Chefpsychologe persönlich macht oder sonst jemand, der über eine entsprechende Machtbefugnis verfügt, meine Antwort bleibt immer dieselbe“, beharrte Lioren.

Der hudlarische Pfleger hatte sich inzwischen zurückgezogen, um seinen Stationschef nicht dadurch in Verlegenheit zu bringen, daß er ein Streitgespräch verfolgte, in dem dieser unterlag.

„Kann ich davon ausgehen, daß ich noch Ihre Erlaubnis habe, den Patienten auch weiterhin zu besuchen?“ fragte Lioren leise. „Möglicherweise gelingt es mir, durch Beobachtungen, Schlußfolgerungen und die Feststellung von Tatsachen zu Erkenntnissen über den FLSU selbst oder über seine Spezies zu gelangen, die nicht persönlich sind und somit auch Ihnen behilflich sein könnten. Aber dabei ist äußerste Vorsicht geboten, damit der Patient uns das nicht übelnimmt, denn dem Inhalt seiner Gedanken und der Äußerungen, durch die er diese mitteilt, mißt er großen Wert bei.“

Inzwischen hatten sich Seldals Federn wieder wie eine glatte und schimmernde Decke um den Körper gelegt. „Sie haben meine Erlaubnis, die Besuche fortzusetzen. Und jetzt werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben, wenn ich mich einmal mit meinem Patienten selbst unterhalte.“

„Wenn Sie ihm versichern, daß die Aufzeichnungsgeräte ausgeschaltet bleiben, wird er sich vielleicht mit Ihnen unterhalten“, riet ihm Lioren.

Als Seldal das Stationszimmer verließ, kehrte der hudlarische Pfleger auf seinen Posten an den Monitoren und Kontrollgeräten zurück und sagte mit leiser Stimme: „Bei allem Respekt, Lioren, das hudlarische Hörorgan ist äußerst empfindlich und kann nur lahmgelegt werden, wenn man einen dicken Schalldämpfer darüber stülpt. Doch konnte niemand ahnen, daß es auf dieser Station einen Bedarf an solchen Schalldämpfern gibt, und deshalb stand mir eben auch keiner zur Verfügung.“

„Haben Sie etwa alles gehört?“ empörte sich Lioren, der plötzlich zornig wurde, weil das Vertrauen des Patienten gebrochen worden war und das Gespräch, das Lioren vor Seldal geheimgehalten hatte, dem Chefarzt bald in allen Einzelheiten als Gerücht zu Ohren kommen würde. „Auch von dem Verbrechen, das der FLSU vor seiner Ankunft im Hospital begangen haben will?“

„Ich hatte die Anweisung, nichts zu hören“, antwortete der Hudlarer in ruhigem Ton, „deshalb habe ich auch nichts gehört und kann über das, was ich nicht gehört habe, mit niemand anderem sprechen als mit demjenigen, der mir verboten hat, etwas zu hören.“

„Danke, Pfleger“, sagte Lioren mit großer Erleichterung. Er warf einen kurzen Blick auf die Armbinde des Hudlarers, auf der sich nur die Zeichen des Hospitalpersonals und der Abteilung des FROBs befanden — denn beim Namen wurden Hudlarer nur von ihren Familienangehörigen oder von ihren zukünftigen Lebensgefährten genannt — , und prägte sie sich genau ein, damit er den Pfleger später wiedererkennen konnte. Dann fragte er: „Möchten Sie jetzt mit mir den einen oder anderen Aspekt meines Gesprächs mit dem Patienten erörtern, den Sie vielleicht nicht mitbekommen haben?“

„Bei allem Respekt, Lioren, aber ich würde lieber eine kleine Anmerkung machen, wenn Sie nichts dagegen haben“, entgegnete der Hudlarer zurückhaltend. „Offensichtlich gewinnen Sie nämlich das Vertrauen des Patienten mit beachtlicher Geschwindigkeit, indem Sie freimütig über sich selbst sprechen und ihn dadurch zu genau derselben Offenheit herausfordern.“

„Fahren Sie fort“, warf Lioren ein.

„Auf meinem Planeten und vermutlich auch bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Ihrem Heimatplaneten Tarla würde das, was der FLSU als ̃̄„Sünde“ bezeichnet, keine Rolle spielen, weil wir glauben, daß unser Leben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, und weil wir nicht zwischen den Formen des Vergehens unterscheiden, die anscheinend dem Patienten zu schaffen machen. Doch was die Groalterri und auch viele andere Zivilisationen überall in der Föderation betrifft, wagen Sie sich auf ein gefährliches philosophisches Terrain.“

„Ich weiß“, sagte Lioren, während er sich zum Gehen wandte. „Das Ganze ist nicht mehr ein rein medizinisches Problem, und ich hoffe, einige der Antworten, die ich brauche, kann mir der Bibliothekscomputer geben. Wenigstens weiß ich schon, wie meine erste Frage lautet.“

Was ist der Unterschied zwischen einem Verbrechen und einer Sünde?

Als Lioren in die psychologische Abteilung zurückkehrte, teilte man ihm mit, daß sich O'Mara zwar wieder in seinem Büro befinde, aber Anweisung gegeben habe, keinesfalls gestört zu werden. Braithwaite und Cha Thrat wollten gerade Feierabend machen, doch die Sommaradvanerin zögerte noch, weil sie offenbar die Absicht hegte, den Tarlaner etwas zu fragen. Da sich Lioren nicht sicher war, wieviel er sagen durfte, bemühte er sich, die stumme Neugier Cha Thrats nicht zu beachten.

„Ich weiß, daß Sie sehr beunruhigt sind“, sagte die Sommaradvanerin und deutete plötzlich auf Liorens Bildschirm. „Sind Ihre Sorgen bereits so groß, daß Sie jetzt Trost suchen, indem Sie. Lioren, für eine Persönlichkeit, die in sich so ausgewogen ist wie die Ihre, ist das ein sehr uncharakteristisches und beunruhigendes Verhalten. Warum fordern Sie die ganzen Studienunterlagen über die Religionen der Föderation an?“

Lioren mußte eine kurze Pause machen, um sich seine Antwort zu überlegen, weil ihm plötzlich zu Bewußtsein gekommen war, daß er, seit er sich mit Seldal und seinen Patienten beschäftigte, viel mehr Zeit damit verbracht hatte, über die Probleme von Mannon und dem Groalterri nachzudenken als über die eigenen. Diese Erkenntnis war eine große Überraschung für ihn.

„Ich bin Ihnen für Ihre Besorgnis wirklich sehr dankbar“, antwortete er schließlich vorsichtig. „Mein Kummer ist aber seit unserem letzten Gespräch nicht größer geworden. Wie Sie bereits wissen, untersuche ich Seldals Verhalten, indem ich mit seinen Patienten spreche. Das Ganze ist nun aber in ethischer Hinsicht ziemlich kompliziert geworden, und zwar so sehr, daß ich mir nicht sicher bin, wieviel ich Ihnen darüber verraten darf. Religion spielt dabei auch eine gewisse Rolle. Doch das ist ein Gebiet, auf dem ich mich überhaupt nicht auskenne, und falls man mir Fragen dazu stellt, möchte ich mich nicht gerne in Verlegenheit bringen lassen.“

„Aber wer sollte Ihnen Fragen über Religion stellen, wo das doch ein Thema ist, das niemand im Hospital anschneiden soll?“ erkundigte sich Cha Thrat. „Das führt nur zu Auseinandersetzungen, die keiner gewinnen kann. Ist es vielleicht der todkranke Patient, Mannon, der Ihnen solche Fragen stellt? Falls er in dieser Richtung Hilfe benötigt, frage ich mich, ob er nicht lieber ein Mitglied seiner eigenen Spezies zu Rate ziehen sollte als Sie. Ihre Verschwiegenheit zu diesem Thema kann ich allerdings gut nachvollziehen.“

Jemanden falsche Schlußfolgerungen ziehen zu lassen ist nicht dasselbe, wie zu lügen, dachte Lioren.

Cha Thrat machte eine Geste, deren Bedeutung Lioren nicht kannte, und fuhr fort: „Aus medizinischer Sicht würde ich sagen, daß Sie nicht nur völlig vergessen haben, etwas zu essen, sondern auch zu schlafen, Lioren. Die Unterlagen können Sie genausogut mit dem Computer in Ihrer Unterkunft abrufen. Was die verschiedenen Glaubensgemeinschaften der Terrestrier betrifft, kann ich Ihnen zwar nicht helfen, aber lassen Sie uns doch in die Kantine gehen, dort werde ich Ihnen dann von den verschiedenen Religionen erzählen — es handelt sich insgesamt um fünf — , die es auf Sommaradva gibt. Das ist ein Gebiet, auf dem ich mich bestens auskenne, wenngleich ich nur mit wenig Überzeugung davon sprechen kann.“

Während ihres gemeinsamen Essens, das sie nicht in der Kantine, sondern in Liorens Unterkunft einnahmen, und in dem sich daran anschließenden Gespräch drängte Cha Thrat zwar nicht auf Auskünfte, die der Tarlaner nicht geben wollte, doch hatte er es dafür bei seinem nächsten Besuch bei Mannon nicht mehr so leicht wie vorher.

„Verdammt noch mal, Lioren“, beklagte sich der ehemalige Diagnostiker, der nicht mehr unter Kurzatmigkeit zu leiden schien, „wie mir Seldal erzählt, haben Sie und der Groalterri sich unterhalten, und zwar länger, als es bisher sonst jemandem im Hospital gelungen ist, und dann sollen Sie sich geweigert haben, irgendwem etwas vom Inhalt des Gesprächs mitzuteilen. Und jetzt verlangen Sie indirekt von mir, daß ich Ihnen eine moralische Rechtfertigung für Ihr Schweigen verschaffe, ohne mir den Grund zu nennen, warum Sie nichts verraten wollen.

Was, um Himmels willen, geht hier eigentlich vor, Lioren?“ fragte er zum Schluß. „Die Neugier bringt mich noch um.“

„Neugier wäre nur eine Todesursache unter vielen“, stellte Lioren gelassen fest, wobei er einen Blick auf den Körper und das Gesicht mit den jugendlichen Augen warf, die beide vom Alter gezeichnet waren.

Der Patient stieß einen unübersetzbaren Laut aus. „Wenn ich es richtig verstanden habe, besteht Ihr Problem darin, daß Sie während Ihres zweiten und viel längeren Besuchs bei dem Groalterri, vermutlich im Austausch gegen persönliche Angaben zu sich selbst und zu den Planeten und Mitgliedspezies der Föderation, jede Menge Informationen über den Patienten, seine Artgenossen und seine Kultur erhalten haben. Viele dieser Auskünfte sind unpersönlicher und medizinischer Natur und haben sowohl für den behandelnden Arzt des Groalterris als auch für die Kontaktspezialisten des Monitorkorps einen äußerst hohen Wert. Sie selbst jedoch halten sich für verpflichtet, nichts zu verraten. Aber sicherlich wissen Sie, daß weder Sie noch der Patient das Recht haben, derartige Informationen zurückzuhalten.“

Mit einem Auge musterte Lioren die Biosensoren und hielt nach Anzeichen für Atembeschwerden nach diesem langen Monolog Mannons Ausschau, konnte aber keine entdecken.

„Bei persönlichen Dingen ist das natürlich was anderes“, fuhr Mannon fort. „Mein damaliger Versuch, Sie zur Verkürzung meiner Wartezeit zu überreden, durfte natürlich nicht allgemein bekannt werden, weil er nur mich selbst betroffen hat und keinen Einfluß auf die Behandlung eines Patienten einer neu entdeckten Spezies hatte und sich erst recht nicht auf deren zukünftige Beziehungen zur Föderation auswirkte. Bei den medizinischen oder nichtmedizinischen Informationen, zu denen Sie durch die Äußerungen des Groalterris oder durch eigene Schlußfolgerungen gelangt sind, handelt es sich hingegen um Kenntnisse, die sich auf nichts Persönliches beziehen. Also haben Sie kein Recht, diese für sich zu behalten. Sie sollten jedermann zugänglich sein, genau wie die Funktionsprinzipien unserer Scanner oder der Hyperantriebsgeneratoren allen zur Verfügung stehen, die in der Lage sind, sie zu verstehen und die Geräte oder Maschinen gefahrlos zu bedienen, auch wenn der Hyperantrieb in der schlechten alten Zeit als streng geheim eingestuft worden ist, was immer das auch bedeutet hat. Aber Wissen ist, na ja, eben Wissen. Sie könnten genausogut versuchen, ein Naturgesetz geheimzuhalten. Haben Sie schon versucht, das alles dem Groalterri zu erklären?“

„Ja“, antwortete Lioren. „Aber als ich ihm vorgeschlagen habe, die unpersönlichen Teile unseres Gesprächs auch anderen Wesen zugänglich zu machen, und ihm erklärte, daß dies keinen Vertrauensbruch darstelle, weil es zweifellos unmöglich wäre, jeden einzelnen Groalterri auf seinem Heimatplaneten um Erlaubnis zu bitten, diese Informationen preiszugeben, sagte er, er müsse sich seine Antwort erst noch sorgfältig überlegen. Ich bin mir sicher, daß er uns gern helfen würde, aber vielleicht hindern ihn irgendwelche religiösen Zwänge daran, und ich will keinesfalls an einer ablehnenden Reaktion schuld sein, nur weil ich wieder einmal meine Ungeduld nicht zügeln konnte. Sollte der FLSU wütend werden, ist er sogar imstande, ein Loch in die Außenwand der Station zu schlagen, wodurch sie zum Weltraum hin geöffnet werden würde.“

„Ja, ich weiß“, sagte Mannon mit entblößten Zähnen. „Kinder können manchmal ganz schöne Wutanfälle bekommen, egal, wie groß sie zufällig sind. Was die Frage der Religion angeht, so glauben viele Terrestrier.“

Er verstummte, weil in diesem Moment in dem kleinen Zimmer ein wahrer Ansturm von Besuchern einsetzte. Zuerst erschien Chefpsychologe O'Mara, dem Chefarzt Seldal folgte und gleich dahinter Prilicla, der hereingeflogen kam und sich mit den spinnenartigen Beinen, die an den Spitzen mit Saugnäpfen versehen waren, an die Zimmerdecke heftete, wo der zerbrechlich wirkende Körper durch unbedachte Bewegungen seiner körperlich größeren und kräftigeren Kollegen weniger gefährdet war. O'Mara nahm Liorens Anwesenheit zur Kenntnis, nickte ihm kurz zu und beugte sich über den Patienten.

„Wie ich höre, reden Sie wieder mit anderen Leuten und möchten insbesondere mit mir sprechen, um mich um einen Gefallen zu bitten, Mannon“, begrüßte O'Mara den ehemaligen Diagnostiker mit einer derart sanften Stimme, wie sie Lioren nie zuvor von ihm gehört hatte. „Wie geht es Ihnen, alter Freund?“

Mannon entblößte die Zähne und blickte mit zur Seite geneigtem Kopf in Seldals Richtung. „Mir geht's gut. Aber warum fragen Sie nicht meinen Arzt?“

„Die Symptome sind zwar vorübergehend ein wenig abgeklungen“, antwortete Seldal, bevor O'Mara die Frage offiziell stellen konnte, „doch das Krankheitsbild hat sich nicht wesentlich geändert. Der Patient sagt zwar, es gehe ihm besser, aber das muß eine Selbsttäuschung sein, und unabhängig davon, ob er hier auf der Station bleibt oder irgendwo anders hin verlegt wird, er könnte jederzeit sterben.“

O'Maras Äußerung, Mannon wolle ihn um einen Gefallen bitten, beunruhigte Lioren. Wie er fürchtete, handelte es sich um denselben Gefallen, um den ihn Mannon bereits selbst gebeten hatte, nur würde der Wunsch nach einem baldigen Tod jetzt öffentlicher vorgebracht werden, und darüber war Lioren nicht nur traurig, er schämte sich auch. Doch der Empath Prilicla reagierte nicht so, wie es Lioren in solch einer gefühlsgeladenen Situation erwartet hätte.

„Nach der emotionalen Ausstrahlung von Freund Mannon zu urteilen, dürfte für einen Psychologen und auch sonst niemanden der geringste Grund zur Besorgnis bestehen“, erklärte Prilicla gerade, wobei die rollenden Schnalzlaute seiner Sprache wie eine musikalische Untermalung der Übersetzung klangen. „Freund O'Mara muß nicht daran erinnert werden, daß ein denkendes und fühlendes Wesen aus Körper und Geist besteht und ein höchst motivierter Geist den betreffenden Körper stark beeinflussen kann. Trotz des pessimistischen Krankheitsbildes geht es Freund Mannon tatsächlich gut.“

„Na, was habe ich Ihnen gesagt?“ triumphierte Mannon und blickte O'Mara erneut mit entblößten Zähnen an. „Mir ist völlig klar, daß es sich hier um eine Untersuchung meines Gesundheitszustands handelt, bei der Seldal beharrlich beteuert, daß ich bald sterben müsse, Prilicla genauso beharrlich entgegenhält, mir gehe es blendend, und Sie versuchen werden, zwischen den beiden als Schiedsrichter zu fungieren. Aber in den letzten Tagen habe ich hier drinnen unter einer nichtmedizinischen und tödlichen Langeweile gelitten, und ich will hier raus. Natürlich wäre ich nicht in der Lage zu operieren und könnte nur die geringsten körperlichen Anstrengungen auf mich nehmen. Aber ich bin immer noch imstande, zu unterrichten und Cresk-Sar einen Teil der Last abzunehmen, und die technischen Mitarbeiter könnten für mich eine fahrbare Schutzhülle mit Scheiben aus Sicherheitsglas und Schwerkraftneutralisatoren entwickeln. Ich würde viel lieber bei irgendeiner Tätigkeit sterben als in Untätigkeit hier im Krankenzimmer, und ich.“

„Mein alter Freund, legen Sie doch um Himmels willen mal eine Atempause ein“, fiel ihm O'Mara ins Wort, wobei er einen Finger hochhielt, um auf die Anzeigen der Biosensoren zu deuten.

„Ich bin keineswegs so hilflos, wie ich erscheine“, fuhr Mannon nach der kürzesten Atempause aller Zeiten fort. „Ich wette, Prilicla könnte ich noch jederzeit im Armdrücken besiegen.“

Eins von den unglaublich zerbrechlich wirkenden Vordergliedern des Cinrusskers löste sich von der Zimmerdecke und streckte sich nach unten, so daß die dünnen Finger einen Augenblick auf Mannons Stirn ruhten. „Freund Mannon, Sie könnten auch verlieren“, warnte ihn Prilicla.

Daß der Gefallen, um den Mannon bat, weder Unehre noch Schande über den Namen des ehemaligen Diagnostikers brachte, freute und erleichterte Lioren sehr. Gleichzeitig hatte er jedoch das selbstsüchtige Gefühl eines drohenden Verlustes, und zum erstenmal, seit die anderen das Zimmer betreten hatten, meldete er sich selbst zu Wort.

„Doktor Mannon, ich würde gerne. Das heißt, darf ich immer noch mit Ihnen sprechen?“ fragte er den alten Terrestrier.

„Nicht, bevor Sie sich zuerst einmal mit mir unterhalten haben“, wandte O'Mara energisch ein, wobei er Lioren finster anblickte.

An der Decke begann Prilicla zu zittern. Er löste die Saugnäpfe, vollführte einen tadellosen halben Looping und flog langsam auf die Tür zu. „Wie mir meine empathischen Fähigkeiten verraten, werden meine Freunde O'Mara und Lioren bald in einen Wortstreit verwickelt sein, bei dem ganz bestimmt Emotionen ausgestrahlt werden, die für mich qualvoll wären. Lassen wir die beiden allein, Freund Seldal, damit sie ihren Streit beilegen können.“

„Und was ist mit mir?“ fragte Mannon, als sich die Tür hinter den beiden Chefärzten geschlossen hatte.

„Sie sind der Gegenstand dieser Auseinandersetzung, alter Freund“, sagte O'Mara. „Sie müßten eigentlich im Sterben liegen. Was genau hat Ihnen dieser. dieser psychologische Lehrling angetan oder gesagt, um bei Ihnen diesen verrückten Drang hervorzurufen, daß Sie sich wieder an die Arbeit machen wollen?“

„Keine zehn Pferde bringen mich dazu, darauf zu antworten“, erwiderte Mannon mit abermals entblößten Zähnen.

Lioren fragte sich, welche Bedeutung eine nichtintelligente Spezies terrestrischer Vierbeiner für das Gespräch hatte, und kam zu dem Schluß, daß die Äußerung etwas anderes heißen mußte als das, was ihm der Translator übersetzt hatte.

O'Mara wandte sich an den Tarlaner und sagte: „Lioren, ich verlange einen sofortigen mündlichen und später einen ausführlicheren schriftlichen Bericht über sämtliche Gespräche, die zwischen Ihnen und diesem widerborstigen Patienten stattgefunden haben, sowie über alle Begleitumstände. Fangen Sie an.“

Es lag keineswegs in Liorens Absicht, ungehorsam oder aufsässig zu sein, indem er sich zu sprechen weigerte, es war einfach so, daß er mehr Zeit brauchte, um das, was er sagen konnte, von dem zu trennen, was er auf keinen Fall verraten durfte. Doch O'Maras gelbrosa Gesicht hatte eine dunklere Farbe angenommen, und er gestand Lioren keine Bedenkzeit zu.

„Nun machen Sie schon“, drängte ihn O'Mara ungeduldig. „Ich weiß, daß Sie Mannon in Zusammenhang mit der Untersuchung von Seldals Verhalten befragt haben. Das ist ein sehr naheliegender Schritt gewesen. Wenn Sie allerdings, wie es all seinen anderen Besuchern ergangen ist, von Mannon ignoriert worden wären, hätte diese Entscheidung die Gefahr geborgen, daß Sie dem Patienten verraten, was Sie tun.“

„Aber genau das ist passiert, Sir“, unterbrach ihn Lioren, der wußte, daß sie jetzt bei einem ungefährlichen Thema angelangt waren, bei dem er zu verweilen hoffte. „Doktor Mannon und ich haben meine Aufgabe bezüglich Seldal ausführlich besprochen, und auch wenn die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, deuten doch alle bisherigen Anzeichen darauf hin, daß Doktor Seldal seelisch und geistig vollkommen gesund ist und.“

„Jedenfalls für einen Chefarzt.“, warf Mannon ein.

O'Mara stieß einen verärgerten Laut aus. „Nun vergessen Sie mal die Untersuchung für einen Moment, Lioren. Was mich jetzt beunruhigt, ist, daß Seldal bei seinem todkranken Patienten eine deutliche, nichtmedizinische Veränderung festgestellt hat, die er den Gesprächen mit meinem auszubildenden Psychologen zuschreibt. Hinterher hat er Sie sogar darum gebeten, auch mit seinem groalterrischen Patienten zu sprechen, der zwar über eine größere körperliche Widerstandskraft als Mannon verfügt, aber genauso schweigsam gewesen ist. Das wiederum hatte zur Folge, daß Sie den Gebrauch der Aufnahmegeräte verboten haben, als sich der FLSU mit Ihnen unterhalten hat.

Erzählen Sie mir sofort den Inhalt der Gespräche zwischen Ihnen und diesen beiden Patienten, die beim Groalterri zur Veränderung des Verhaltens und bei einem Sterbenden zu diesem. diesem seltsamen Akt konstruktiven Wahnsinns geführt haben“, forderte ihn der Chefpsychologe mit leiser, aber sehr deutlicher Stimme auf, in einer Sprechweise, die Tarlaner als ̃̄„schreien im Flüsterton“ bezeichneten.

Äußerst sanft legte O'Mara eine seiner Hände auf Mannons Schulter, und noch leiser fügte er hinzu: „Das will ich sowohl aus beruflichen als auch aus persönlichen Gründen wissen.“

Erneut suchte Lioren in Gedanken nach den passenden Worten, bis er bereit war zu sprechen.

„Bei allem Respekt, Major O'Mara“, antwortete er schließlich vorsichtig, „in einigen Teilen der Gespräche zwischen mir und den Patienten ist es zwar auch um unpersönliche Dinge gegangen, die ich Ihnen aber nur mitteilen könnte, wenn die Patienten ihre Zustimmung dazu geben. Leider kann ich Ihnen das übrige, das für Sie als Psychologen vermutlich von primärem Interesse ist, nicht verraten, und ich werde es auch nicht.“

Während Liorens Ausführungen war O'Maras Gesicht abermals dunkler geworden, hatte sich aber nach und nach wieder aufgehellt. Schließlich hob der Chefpsychologe auf einmal in der eigentümlichen Weise der Terrestrier mit einem Ruck die Schultern in die Höhe, ließ sie ruckartig in die Ausgangsposition zurückfallen und verließ wortlos das Zimmer.

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