20

»Sie sehen abgespannt aus«, meinte Elizabeth, als Hawks sich auf der Couch in ihrem Atelier niederließ.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keineswegs zuviel gearbeitet. Es ist immer die gleiche Geschichte — als ich während meiner Schulzeit auf der Farm arbeiten mußte, war ich abends hundemüde und schlief ohne weiteres ein. Am nächsten Morgen war ich dann wunderbar ausgeruht; ich freute mich auf die Arbeit und wußte genau, was ich vor mir hatte — und daß ich es schaffen würde. Ich war zufrieden, selbst wenn ich müde war, denn ich wußte, daß ich meinen Teil geleistet hatte. Selbst wenn ich nach dem Abendessen kaum noch die Augen offenhalten konnte, war ich entspannt und glücklich.

Aber jetzt sitze ich nur noch hinter meinem Schreibtisch und denke nach. Ich kann nachts nicht mehr schlafen und fühle mich morgens schlechter als am Tag vorher. Ich brauche einige Stunden, bevor ich das Gefühl habe, daß mein Körper mir wieder gehorcht. Ich fühle mich nie ganz wohl. Ich sehe in einen Spiegel, und ein kranker Mann starrt zurück — ein Kranker, dem man keine Aufgabe übertragen möchte, wenn man mit ihm zusammenarbeiten müßte.«

Elizabeth zog eine Augenbraue in die Höhe. »Sie könnten eine Tasse Kaffee vertragen, glaube ich.«

Hawks verzog das Gesicht. »Eigentlich lieber Tee, wenn Sie welchen haben.«

»Vielleicht, ich muß erst nachsehen.« Sie ging zu der Kochnische hinüber und zog den Vorhang beiseite.

»Oder — hören Sie«, rief er hinter ihr her, »ich bin wirklich nicht wählerisch. Eine Tasse Kaffee genügt völlig. Wenn Sie keinen Tee haben.«


* * *

Sie saßen nebeneinander auf der Couch und tranken Tee. Elizabeth stellte ihre Tasse auf den niedrigen Tisch vor sich. »Was war heute abend los?« erkundigte sie sich.

Hawks schüttelte den Kopf. »Ich weiß es selbst nicht recht. Unter anderem Schwierigkeiten wegen einer Frau.«

»Oh«, meinte Elizabeth.

»Nicht die übliche Sache«, sagte Hawks.

»Das habe ich nicht angenommen.«

»Warum nicht?«

»Sie sind kein gewöhnlicher Mann.«

Hawks runzelte die Stirn. »Anscheinend nicht. Jedenfalls reagieren die Leute mir gegenüber nicht auf die gewöhnliche Art. Ich kann mir nicht vorstellen warum.«

»Soll ich Ihnen sagen, warum Frauen in Ihrer Gegenwart außergewöhnlich reagieren?«

Hawks sah sie erstaunt an. »Ja. Bitte, verraten Sie es mir.«

»Sie behandeln sie wie menschliche Wesen.«

»Tue ich das?« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich glaube es nicht. Ich bin kein Frauenkenner. Ich begreife ihre Motive nur selten. Nun, ich habe immer Schwierigkeiten mit Frauen gehabt.«

Elizabeth berührte seine Hand. »Das überrascht mich keineswegs. Aber es spielt jetzt auch keine Rolle. Sie denken gerade darüber nach, daß ich wesentlich jünger als Sie bin.«

Hawks nickte überrascht. »Wie haben Sie das erraten?«

Elizabeth zuckte mit den Schultern. »Sie sollten sich aber auch über folgendes Gedanken machen: Sie sind weder charmant noch schön, noch elegant. Tatsächlich wirken Sie sogar ein bißchen komisch. Sie haben nur wenig Zeit für mich, und wenn wir zusammen ausgehen würden, wären Sie so fehl am Platz, daß ich den ganzen Abend schlechte Laune hätte.

Aber Sie tun etwas: Sie lassen mich spüren, daß meine Regeln für mich genauso richtig sind wie Ihre für Sie. Wenn Sie mich um etwas bitten, weiß ich ge nau, daß Sie nicht böse sind, wenn ich es nicht tue. Und wenn ich es tue, betrachten Sie das nicht als Sieg in einem komplizierten Spiel. Sie versuchen nicht, mich auszunützen, mich zu belehren, oder mich zu ändern. In Ihrer Welt nehme ich genauso viel oder wenig Platz ein wie Sie selbst. Wissen Sie eigentlich, wie selten man diese Auffassung findet?«

Hawks war völlig verwirrt. »Ich freue mich, daß Sie das denken«, begann er langsam, »aber ich bezweifle, daß Sie damit recht haben. Hören Sie zu …« Er stand auf und ging mit großen Schritten auf und ab, während Elizabeth sich zurücklehnte und ihn lächelnd beobachtete.

»Frauen …«, sagte Hawks ernsthaft, »Frauen waren mir immer ein Rätsel. Ich brauchte nicht sehr lange, um herauszubekommen, daß das Leben nicht so ist, wie es in gewissen Büchern dargestellt wird. Nein, da gab es noch etwas anderes — was, weiß ich heute noch nicht, aber jedenfalls hängt es mit Frauen zusammen. Damit meine ich allerdings nicht die rein physische Seite des Problems, sondern eine speziell weibliche Eigenart, die ich nie begreifen konnte.

Ich konnte nicht begreifen, welchen Zweck diese vernunftbegabten Wesen erfüllten, die neben den Männern existierten. Wenn Frauen nur dazu da waren, um die Fortpflanzung der menschlichen Rasse sicherzustellen, wozu brauchten sie dann Intellekt? Dazu genügen schließlich Instinkte. Dabei besaßen sie diese Instinkte, wozu also die Intelligenz? Ich habe dieses Problem nicht lösen können. Es ist mir immer noch ein Rätsel.«

Elizabeth lächelte.

»Vielleicht finden Sie die Lösung eines Tages«, sagte sie leise. »Warum haben Sie mich eigentlich noch nie geküßt?«

Hawks starrte sie an. »Um Himmels willen, Elizabeth, ich kenne Sie doch kaum!«

»Das wollte ich damit sagen«, antwortete sie und sah zu Boden. »Nun, Doktor, wie wäre es mit noch einer Tasse Tee?«


* * *

Elizabeth saß wieder an ihrem Zeichentisch und arbeitete. Neben ihr stand ein Aschenbecher, in dem eine Zigarette verglimmte. Ab und zu trieb ihr der Rauch in die Augen, so daß sie den Kopf heben mußte, um wieder sehen zu können. Dabei schimpfte sie leise vor sich hin und lächelte Hawks zu, der neben ihrem Tisch auf einem Sitzkissen hockte.

»Während ich auf der Universität studierte, war ich in ein Mädchen verliebt«, erzählte er. »Ein wirklich hübsches Mädchen aus Chicago. Sie war intelligent, sie war vor allem taktvoll. Und sie hatte schon so viel erlebt und gesehen, wovon ich nur träumen konnte: Konzerte, Opernaufführungen, Theatervorstellungen — alles Vorteile des Großstadtlebens. Ich beneidete sie sehr darum und verehrte sie glühend. Aber ich versuchte nie, diese Dinge mit ihr zu teilen, weil ich mir einbildete, sie ihr dadurch zu rauben, daß ich ebenfalls daran teilhaben wollte. Andererseits suchte ich ständig ihre Gesellschaft und bemühte mich sehr um sie. Heute weiß ich, daß mein dauerndes Geschwätz ihr auf die Nerven gegangen sein muß.«

Elizabeth legte ihren Bleistift auf den Tisch und hob den Kopf, um Hawks ins Gesicht zu sehen.

»Manchmal verstanden wir uns ausgezeichnet, dann wieder weniger. Ich hatte ständig Angst, daß ich sie eines Tages verlieren würde. Dann kam der Augenblick kurz vor unserem Abschlußexamen, in dem sie mich taktvoll und freundlich fragte, ob wir nicht einfach irgendwohin ausgehen könnten, wo man sich nicht dauernd unterhalten mußte — in eine kleine Bar, zum Tanzen, auf einen Mondscheinspaziergang.« Hawks lächelte traurig. »In dieser Sekunde verlor ich jegliches Interesse an ihr«, berichtete er weiter. »Und ich habe sie nie wiedergesehen.

Warum eigentlich? Ich weiß es nicht. Nur weil ich mich für so brillant hielt, daß ich mir nicht vorstellen konnte, wie jemand meine Unterhaltung nicht genießen könnte? Wohl kaum. Ich wußte genau, daß ich zu viel redete. Ich wußte auch, daß mein Gerede weder übermäßig originell noch interessant war. Aber ich unterhielt mich immer nur mit ihr. In Gesellschaft anderer war ich schüchtern und wortkarg. Aber ich liebte sie, Elizabeth, und sie erklärte mir, daß sie mir nicht länger zuhören wolle, deshalb erlosch meine Liebe zur ihr. Es war, als ob sie sich plötzlich in eine giftige Schlange verwandelt hätte. Ich begann am ganzen Leib zu zittern und verschwand so schnell wie möglich.

In den darauffolgenden Wochen versuchte sie mehrmals, mit mir in Verbindung zu treten. Und manchmal war ich nahe daran sie aufzusuchen. Aber es klappte einfach nicht. Ich war nicht mehr in sie verliebt. Und ich hatte Angst. Während des Krieges erlebte ich einmal einen Großbrand, bei dem mein Laboratorium vollständig eingeäschert wurde. Damals war ich einen Augenblick lang überzeugt, daß ich in den Flammen umkommen würde. Und damals habe ich die gleiche Angst empfunden … O ja«, schloß er, »ich habe Schwierigkeiten mit Frauen.«

»Vielleicht haben Sie nur Schwierigkeiten mit dem Sterben?«

Hawks schien in weite Fernen zu blicken. Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung erschlafften. »Ja«, flüsterte er, »das stimmt.«


* * * Schließlich stand er auf und steckte die Hände in die Hosentaschen, nachdem er lange Zeit schweigend neben ihr gesessen hatte. »Es wird langsam spät. Ich muß jetzt gehen«, sagte er.

Elizabeth sah von ihrer Arbeit auf. »Arbeiten Sie immer noch an dem gleichen Projekt?«

Hawks lächelte verkniffen. »Höchstwahrscheinlich. Ich nehme an, daß alle an den Versuchen beteiligten Personen morgen früh rechtzeitig erscheinen.«

»Arbeiten manche von ihnen nicht an Samstagen?«

»Oh? Ist morgen Samstag?«

»Wollten Sie denn nicht darauf hinaus?«

»Nein. Nein, daran habe ich im Augenblick nicht gedacht. Und dann kommt Sonntag.«

Elizabeth zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ja, so war es jedenfalls letzte Woche«, meinte sie mit einem leichten Lächeln.

»Cobey wird sich ärgern«, murmelte Hawks gedankenverloren vor sich hin, »wenn er den Technikern die Überstunden bezahlen muß.«

»Wer ist Cobey?«

»Ein Mann, Elizabeth. Ein Mann, den ich kenne.«

Sie fuhr ihn nach Hause. Nach einer endlosen Fahrt quer durch die ganze Stadt hielten sie schließlich vor dem riesigen Wohnblock, in dem Hawks sein Junggesellenappartement hatte.

»Ich habe noch nie gesehen, wo Sie wohnen«, sagte Elizabeth, während sie die Handbremse anzog.

»Nein«, stimmte er ihr zu. Sein Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen. Er hielt das Kinn auf die Brust gesenkt und stemmte die Knie gegen das Armaturenbrett. »Es ist …« Er machte eine vage Handbewegung und wies auf das ungastlich und düster wirkende Gebäude. »Man kann zur Not darin leben.«

»Haben Sie nie Sehnsucht nach dem Leben auf der Farm? Nach weiten Feldern unter dem Sommerhimmel? Nach Seen und dichten Wäldern?«

»In unserer Gegend gab es kaum weite Felder«, antwortete Hawks. »Die Farmer züchteten fast ausschließlich Geflügel. Überall standen flache Geflügelhäuser, in denen die Hühner in Käfigen gehalten wurden.« Er sah aus dem Fenster. »In engen Drahtkäfigen.« Hawks wandte sich wieder an Elizabeth. »Wissen Sie, Hühner sind sehr anfällig gegen Erkrankungen der Atemwege. Dann röcheln und schnarchen sie die ganze Nacht hindurch — dieses Geräusch hängt förmlich über der Gegend und klingt wie das Jammern und Klagen einer entrechteten Sklavenhorde. Hühner. Damals fragte ich mich manchmal, ob sie wußten, wer wir waren — warum wir sie in Gehege einsperrten, ihnen Futter vorwarfen und ihnen Wasser gaben. Warum wir sie vor Regen schützten und uns abrackerten, um sie ausreichend zu versorgen. Warum wir jede Woche einmal den Mist aus den Ge flügelhäusern karrten und ihre Käfige desinfizierten. Ich fragte mich, ob sie es wußten — und ob sie deshalb im Schlaf stöhnten und seufzten. Andererseits sind Hühner geradezu abgrundtief dumm. Von allen Lebewesen auf dieser Welt denkt nur der Mensch wie ein Mensch.«


* * *

Hawks öffnete die Autotür, drehte sich halb um, wollte schon aussteigen und blieb dann doch sitzen. »Wissen Sie … Wissen Sie, ich rede wirklich sehr viel, wenn ich mit Ihnen zusammen bin.« Er zuckte mit den Schultern und sah sie verlegen an. »Sie langweilen sich wahrscheinlich schrecklich.«

»Es stört mich nicht.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht.« Er lächelte leise.

»Möchten Sie es gern?«

»Ja. Sehr gern.« Hawks sah auf seine Hände hinab.

»Vielleicht geht es mir genau wie Ihnen?«

Er sah sie überrascht an. »Nun«, meinte er schließlich, »das habe ich wohl unbewußt die ganze Zeit über angenommen, nicht wahr? Ich habe nie darüber nachgedacht. Tatsächlich nicht.« Hawks schüttelte den Kopf. »Nur der Mensch denkt wie ein Mensch«, sagte er verlegen, als wolle er sich damit entschuldi gen. Er stieg aus und blieb noch einen Augenblick neben dem Wagen stehen. »Sie haben mir heute abend sehr geholfen, Elizabeth. Danke schön.«

»Rufen Sie mich doch bitte an, wenn Sie wieder Zeit haben.«

Hawks runzelte plötzlich die Stirn. »Ja. Sobald ich wieder kann«, antwortete er bedrückt. Er klopfte leicht gegen das Blech der Motorhaube. »Ja«, wiederholte er, dann verzog er das Gesicht. »Es wird schon spät«, meinte er leise. »Ich rufe an — ganz bestimmt«, versprach er nochmals, bevor er sich abwandte und auf den Eingang zuging. Er blieb stehen und suchte nach seinem Schlüssel.

Endlich hatte er die Tür offen. Er drehte sich um und sah zurück, als sei er nicht ganz sicher, ob ihre Unterhaltung beendet sei, und winkte Elizabeth ungeschickt zu. Dann stieß er die Tür auf und verschwand im Innern des Hauses.

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