13

Am nächsten Morgen saß Hawks in seinem Büro, als Barker an der Tür klopfte und hereinkam. »Der Posten am Tor bestellte mir, daß ich zu Ihnen kommen sollte«, sagte er kurz. Er sah Hawks abschätzend an. »Was ist los, wollen Sie mich hinauswerfen?«

Hawks schüttelte den Kopf und wies auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, bitte. Wir haben noch einiges zu besprechen, bevor der Versuch beginnt.«

»Aber gern.« Barker wirkte erleichtert. »Übrigens — guten Morgen, Doktor«, sagte er, während er sich setzte und die Beine übereinanderschlug. Das eine Bein seiner Cordsamthose straffte sich über der Stelle, an der die Prothese verstärkt worden war.

»Guten Morgen«, antwortete Hawks, ohne dabei aufzusehen. Er schlug einen Ordner auf und entnahm ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Dann breitete er es vor sich aus und schob es zu Barker hinüber.

Barker sah darüber hinweg. »Claire wollte wissen, was Sie mit mir vorhaben«, berichtete er.

»Haben Sie es ihr gesagt?«

»Hat das FBI behauptet, ich sei ein Trottel?«

»Nicht auf den Gebieten, die für sie interessant sind.«

»Damit ist Ihre Frage bereits beantwortet, hoffe ich jedenfalls. Ich habe nur eine Tatsache festgestellt, weil ich dachte, daß Sie es erfahren müßten.« Er lächelte erbarmungslos. »Auf diese Weise habe ich heute nacht keine Sekunde geschlafen …«

»Können Sie heute nachmittag eine fünf Minuten lange körperliche Höchstbelastung aushalten?«

»Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es nicht könnte.«

»Gut. Es dauert auf keinen Fall länger als fünf Minuten. Sehen Sie sich das an — dort werden wir Sie hinschicken.« Hawks wies auf die Karte. »Das hier ist der bisher erforschte Teil der Mondrückseite.«

Barker runzelte die Stirn und beugte sich vor, um das Rechteck mit den zahlreichen Höhenlinien zu betrachten, das von einem schraffiert dargestellten Gebiet umgeben war, das als Noch nicht erforscht — keine zuverlässigen Angaben verfügbar gekennzeichnet war.

»Hm, eine reichlich zerklüftete Gegend«, meinte er. »Wie weit erforscht?«

»Vermessen«, antwortete Hawks und zeigte auf einen winzigen Punkt. »Hier hat die Navy einen Stützpunkt eingerichtet.« Er wies auf einen anderen Punkt, der einen halben Zentimeter von dem ersten entfernt lag. »Das hier ist Ihr Ziel.«

Barker zog die Augenbrauen in die Höhe. »Und was sagen die Russen zu der ganzen Sache?«

»Diese Karte stellt eine Fläche von etwa fünfzig Quadratkilometern dar«, erklärte Hawks geduldig. »Der Stützpunkt und das Gebilde, das Sie untersuchen sollen, nehmen eine Fläche von einem halben Quadratkilometer ein. Alle Gebäude — der Stützpunkt selbst, der Materie-Empfänger und die Relaisantenne auf der Vorderseite des Mondes — sind hervorragend getarnt, bis auf dieses Gebilde, das sich nicht verbergen läßt. Aber die Aufnahmen, die die letzte russische Rakete zur Erde funkte, zeigen eine Fläche von mindestens 7 300 000 Quadratkilometern. Könnten Sie eine Fliege erkennen, die auf der Spitze des Empire State Building sitzt? Durch eine verkratzte Brille?«

»Wenn ich neben ihr stünde.«

»Gerade das tun die Russen aber nicht. Wir nehmen an, daß sie bereits einige Meßgeräte hinaufgeschickt haben, die von der Erde aus abgefragt werden, und daß sie nächstes Jahr den ersten Menschen mit einem Raumschiff hinaufbefördern werden. Wir haben noch nichts entdeckt, aber vermutlich befindet sich ihre Station etwa sechstausend Kilometer von der unseren entfernt auf der Vorderseite des Mondes.

Meiner Meinung nach brauchen wir niemand um Erlaubnis zu fragen, wenn wir unsere Versuche fortsetzen. Wir sind jedenfalls da, und Sie werden heute dort oben Ihre Aufgabe erfüllen … Jetzt möchte ich Ihnen zunächst erklären, wie die ganze Sache angefangen hat.«

Barker lehnte sich in den Sessel zurück, verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen hoch. »Mir gefällt Ihre Art, sich so zu benehmen, als befänden Sie sich in einem Klassenzimmer«, meinte er grinsend. »Wollten Sie jemals Lehrer werden, Doktor?«

Hawks sah zu ihm auf. »Ich kann Sie nicht in den Tod schicken, ohne Ihnen vorher zu sagen, was Sie erwartet«, antwortete er schließlich. »Sie können mein Zimmer jederzeit verlassen und damit Ihr Beschäftigungsverhältnis beenden. Wenn Sie Ihren Vertrag durchgelesen hätten, wüßten Sie, daß Sie keinerlei Kündigungsfrist einhalten müssen.«

»Oh, ich möchte mir den Spaß noch ein bißchen näher ansehen, Doktor«, gab Barker unbekümmert zurück.

»Danke schön.«

»Bitte, gern geschehen.«

»Barker, Sie machen es mir nicht gerade leicht.«

»Sie mir auch nicht, Doktor.«

Hawks sah auf den Ordner hinunter und blätterte darin herum. »Sie haben recht. Mitleid ist schließlich eine verhältnismäßig neue Erfindung der menschlichen Zivilisation.« Er lächelte. »Lassen wir das, unsere Arbeit ist wichtiger«, fuhr er dann fort. »Im Februar dieses Jahres unternahm die Air Force einen Versuch, eine Rakete in eine Kreisbahn um den Mond zu bringen, die von dort aus die Oberfläche photographieren sollte. Der Versuch mißglückte, denn die Rakete kam zu nahe an den Mond heran und zerschellte auf dessen Rückseite. Durch einen glücklichen Zufall wurde vorher wenigstens eine Aufnahme auf die Erde gefunkt.« Hawks nahm eine Vergrößerung aus dem Ordner und reichte sie Barker hinüber. »Sie sehen selbst, daß die Übertragungsgeräte nicht einwandfrei funktionierten, denn auf dem Bild ist fast nichts zu erkennen. Aber dieses Gebiet, das in der linken Ecke teilweise zu erkennen ist — hier — ist ganz entschieden keine natürliche Formation.«

Barker betrachtete es nachdenklich. »Ist das das gleiche Gebilde, von dem Sie mir bereits einige Aufnahmen gezeigt haben?«

»Ja, aber die entstanden erst wesentlich später. Auf dieser Photographie war nur zu erkennen, daß es auf dem Mond ein Gebilde gab, dessen Ausmaße und Eigenschaften nicht erkennbar waren und das keiner der natürlichen Formationen glich, die bisher auf dem Mond festgestellt worden waren. Seither ist es einigermaßen genau ausgemessen worden, und wir wissen jetzt, daß es etwa hundert Meter Durchmesser hat und knapp zwanzig Meter hoch ist — allerdings ist es nicht gleichmäßig geformt. Wir wissen immer noch nicht sehr viel über seine Eigenschaften, aber das braucht uns im Augenblick nicht zu kümmern.

Die Regierung entschied damals sofort, daß dieses Gebilde untersucht werden müsse. Niemand hatte erwartet, daß die Rückseite des Mondes wesentlich anders als die der Erde zugewandte Seite aussehen würde. Nachdem die Russen uns in bezug auf die Entwicklung von Raumschiffen überlegen waren, konnte es sein, daß sie eine sehr wichtige Entdeckung machten, wenn wir ihnen nicht zuvorkamen.«

Hawks rieb sich die Augen. »Die Navy hatte bereits einige Jahre vorher einen Entwicklungsauftrag mit Continental Electronics abgeschlossen, weil sie an meinem Materie-Transmitter Interesse hatte. Im Februar letzten Jahres waren wir endlich soweit, daß wir einen Menschen innerhalb des Laboratoriums vom Transmitter in den danebenstehenden Empfänger übertragen konnten. Als wir gerade Versuche in der Sierra Nevada anstellen wollten, beschloß die Regierung ein Beschleunigungsprogramm, mit dessen Hilfe Freiwillige auf den Mond geschickt werden sollten.

Geld spielte keine Rolle, deshalb gelang es den Raketenspezialisten der Army auch ziemlich bald, eine Relaisantenne auf den Mond hinaufzuschießen. Kurze Zeit später glückte es dann auch mit einem primitiven Empfänger. Einer unserer Techniker meldete sich freiwillig und wurde von hier aus in den Empfänger auf dem Mond übertragen. Dort errichtete er zunächst eine Schutzhülle um die Antenne, tarnte sie, montierte dann den Empfänger, den wir jetzt für unsere Versuche benützen. Nachdem er einen Transmitter und die nötigen Unterkünfte mit dem Material errichtet hatte, das er von uns erhalten hatte, handelte er entgegen meinen ausdrücklichen Befehlen und drang in das Gebilde ein, ohne auf die Ankunft der Navy-Spezialisten zu warten, die den Stützpunkt bemannen sollten.

Er wurde erst vor wenigen Wochen gefunden — er war der Mann auf der zweiten Photographie, die ich Ihnen zeigte. Seine Leiche befand sich innerhalb dieses Gebildes, und der Untersuchungsbefund stellte fest, daß sie die gleichen Veränderungen aufwies wie ein menschlicher Körper, der aus einer Höhe von dreitausend Metern auf die Erde stürzt.«

Barker verzog den Mund. »Wäre das möglich gewesen?«

»Nein.«

»Ich verstehe.«

»Ich nicht, Barker, und die anderen ebenfalls nicht. Vorläufig wissen wir noch nicht einmal, wie wir das Ding nennen sollen. Es verändert sich ständig, und Photographien geben nur den ungefähren Eindruck wieder, den ein Betrachter davon gewinnen könnte. Niemand weiß, was es ist, warum es sich dort befindet, was für einen Zweck es erfüllt, oder wer es ge schaffen haben mag. Wir wissen nur, daß es sich seit mindestens einer Million Jahre dort befunden haben muß, weil sich das aus dem Meteoritenstaub ermitteln läßt, der sich darauf festgesetzt hat. Und wir wissen, was es jetzt tut: es bringt Menschen um.«

»Immer wieder, auf unvorstellbare Art, Doktor?«

»Genau. Wir müssen jede von ihnen kennenlernen, wir müssen feststellen, wozu dieses Gebilde fähig ist, bevor wir ausgebildete Techniker hineinschicken können, die es untersuchen und auseinandernehmen werden. Aber zunächst brauchen wir einen Mann, der es allein erforscht. Ich bin dafür verantwortlich, daß dieses Gebilde Sie so oft wie irgend möglich umbringt.«

»Na, das ist wenigstens eine ehrliche Warnung, obwohl ich nur die Hälfte verstanden habe. Ich kann mich nicht über Sie beschweren, Doktor.«

»Das war keine Warnung«, widersprach Hawks. »Es war ein Versprechen.«

Barker zuckte mit den Schultern. »Nennen Sie es, wie es Ihnen Spaß macht.«

»Für gewöhnlich wähle ich meine Worte nicht auf dieser Grundlage«, stellte Hawks fest.

Barker grinste ihn an. »Sie und Sam Latourette könnten gemeinsam im Kabarett auftreten.«

Hawks warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Sie haben vielleicht gar nicht so unrecht.« Er nahm einen anderen Ordner zur Hand und reichte ihn über den Schreibtisch.

»Sehen Sie sich das an.« Er stand auf. »Es gibt nur einen Eingang in dieses Gebilde. Unser erster Techniker hat ihn vermutlich nur aus Zufall entdeckt, als er hineinstolperte. Es ist kein Eingang im eigentlichen Sinn, sondern eine Stelle, an der Menschen in das Gebilde eindringen können — entweder ist dieser Einlaß aus Zufall oder aus Absicht entstanden, wir wissen es nicht. Drei Männer mußten sterben, bis wir endlich eine Karte zur Verfügung hatten, die es anderen gestattet, die Formation zu betreten und sich dabei nur nach den Angaben der Karte zu richten. Andere starben, bevor wir folgendes über das Innere des Gebildes in Erfahrung gebracht hatten:

Ein Mensch, der sich darin aufhält, ist von außen her undeutlich zu erkennen, wenn man weiß, wo er sich ungefähr befindet. Niemand weiß allerdings, was er sieht — die Angaben darüber sind ungenau und lückenhaft. Keiner ist jemals wieder herausgekommen; keiner hat bisher einen Ausgang finden können; der Eingang läßt sich zu diesem Zweck nicht benutzen. Tote Materie, zum Beispiel eine Photographie oder eine Leiche kann nach draußen befördert werden. Aber jeder Mensch, der dies unternimmt, findet dabei den Tod. Die Photographie des ersten Freiwilligen kostete ein Menschenleben.

Das Gebilde gestattet außerdem keine Verbindungsaufnahme mit Hilfe elektrischer Signale. Auch dann nicht, wenn die Versuchsperson das Sprechfunkgerät des Schutzanzugs benützt. Husten, Räuspern und ähnliche Geräusche werden erlaubt, aber ein Versuch, damit etwas zu übermitteln, schlug fehl.

Sie werden keinerlei Verbindung mit der Außenwelt aufnehmen können — weder über Funk noch per Draht. Sie werden sich mit den Beobachtern durch Handzeichen verständigen müssen und Aufzeichnungen auf einem Schreibblock machen, den die Mannschaft des Stützpunkts herauszuziehen versuchen wird, nachdem Sie ums Leben gekommen sind. Wenn das nicht klappt, wird Ihr Nachfolger ihn hinauszubringen versuchen, falls Ihre Aufzeichnungen lesbar sind. Wenn nicht, wiederholt er alles, was Sie vermutlich getan haben und notiert dabei jeden Schritt, bis er den gefunden hat, der für Sie tödlich gewesen ist.

Auf diese Art und Weise haben wir bereits eine Liste sicherer und tödlicher Stellungen und Bewegungen zusammenstellen können. Es ist zum Beispiel tödlich, sich auf ein Knie niederzulassen, während man nach Norden blickt. Es ist tödlich, die linke Hand zu irgendeiner Zeit über Schulterhöhe zu heben. Von einem gewissen Punkt ab ist es tödlich, einen Schutzanzug zu tragen, dessen Luftschläuche über die Schultern führen. Von einem anderen Punkt an ist es tödlich, einen Anzug zu benützen, der seine Luft direkt aus den Druckluftbehältern bezieht, ohne dabei Schläuche zu haben. Jeder Schutzanzug, dessen Ausmaße die unseres letzten Modells überschreiten, bringt seinem Träger ebenfalls den Tod. Es ist tödlich, die Handbewegungen zu machen, die erforderlich sind, um das Wort ja zu schreiben — ob rechts oder links macht keinen Unterschied.

Die Gründe dafür kennen wir nicht. Wir wissen nur, was ein Mensch tun darf, während er sich in dem bisher erkundeten Teil des Gebildes aufhält. Bis jetzt umfaßt das einen Bereich von etwa zwölf Metern. Die Überlebensdauer beträgt unterdessen zweihundertzweiunddreißig Sekunden.

Lernen Sie das Zeug hier auswendig, Barker. Sie bekommen die Karte und eine Aufstellung der ungefährlichen Bewegungen mit, aber niemand weiß, ob diese Schriftstücke sich nicht als tödlich erweisen, wenn Sie den letzten bekannten Punkt überschreiten. Falls Sie noch Fragen haben sollten, können Sie die Antworten in den einzelnen Versuchsberichten nachschlagen. Ich erwarte Sie pünktlich in einer Stunde im Laboratorium, damit ich Ihnen die letzten Anweisungen erteilen kann. Setzen Sie sich lieber an meinen Schreibtisch, dort ist das Licht besser.«

Hawks verließ den Raum.

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