14

Hawks besprach gerade mit den Technikern die Einzelheiten des geplanten Versuchs und erläuterte die voraussichtlichen Bedingungen, die das Observatorium auf dem Mount Wilson errechnet hatte, als Barker die Treppe herunterkam. Er trug seinen Ordner unter dem Arm, sein Gesicht war ernst, sein Gang rasch und unbeirrt. »Gut, Martins«, sagte Hawks und nickte dem Ingenieur zu, der für die Übertragungsantenne verantwortlich war. »Richten Sie sich darauf ein, daß wir in zwanzig Minuten anfangen wollen. Am besten stellen Sie sofort mit der Relaisantenne Verbindung her, damit wir mit der Übertragung beginnen können, sowie er den Schutzanzug anhat.«

Will Martins nahm seine Brille ab und deutete damit auf Barker. »Glauben Sie, daß er in letzter Sekunde kneift?«

Hawks schüttelte den Kopf. »Besonders dann nicht, wenn man es wie Sie ausdrückt. Und das habe ich bereits getan.«

Martins grinste. »Armer Teufel, wenn er sich damit ein bißchen Geld verdienen muß.«

»Barker könnte uns beide hundertmal kaufen, ohne sich deshalb Sorgen um die Butter aufs Brot machen zu müssen.«

Martins sah noch einmal zu Barker hinüber. »Warum hat er sich dann freiwillig zur Verfügung gestellt?«

»Weil er so ist«, antwortete Hawks. »Und weil ich so bin, vermute ich. Und weil diese Frau so ist …«, murmelte er vor sich hin, als er Barker entgegenging. »Connington hat auch etwas damit zu tun. Wir suchen alle nach dem, ohne das wir nicht glücklich sein können. Was werden wir wohl bekommen?«

»Hören Sie, Doktor«, sagte Barker und schlug mit der flachen Hand auf den Ordner, »wenn man diesen Berichten glauben will, kann eine bestimmte falsche Bewegung bedeuten, daß ich in meinem Anzug verblute, ohne nachher Anzeichen von Gewaltanwendung aufzuweisen. Mache ich dagegen eine andere, bin ich von der Hüfte ab gelähmt, so daß ich auf dem Bauch weiterkriechen muß. Aber das wiederum scheint dieses Ding zu reizen, denn es zerquetscht mir plötzlich den Schädel, als sei er eine überreife Tomate. Und so geht es fröhlich weiter …

Wenn ich nicht wie ein Seiltänzer auf jeden Schritt achte und gleichzeitig im richtigen Augenblick am richtigen Ort bin, erreiche ich nicht einmal die Grenze des bisher erforschten Gebiets. Mit anderen Worten — ich habe nicht die geringste Aussicht, dieses Gebilde lebend zu verlassen.«

Hawks nickte. »Selbst wenn Sie gar nichts tun, sind Sie nach zweihundertzweiunddreißig Sekunden ein toter Mann«, stimmte er dann zu. »Selbst wenn Sie sich nicht von der Stelle rühren, läßt das Gebilde Sie nur so lange am Leben wie Ihren Vorgänger. Diese Zeitspanne wird größer, je weiter Sie vordringen. Wir wissen allerdings nicht, warum es sich durch menschliche Anstrengungen dazu bewegen läßt. Es ist sogar wahrscheinlich, daß das nur eine Zufallserscheinung seines eigentlichen Zweckes ist — wenn es überhaupt einen hat.

Vielleicht ist es das außerirdische Gegenstück zu einer weggeworfenen Konservendose. Weiß ein Käfer, daß er nur von einer Seite in ihr Inneres gelangen kann, wenn er sie vor sich liegen sieht? Begreift der Käfer, warum es schwieriger ist, an den Wänden entlangzukriechen, anstatt einer geraden Linie zu folgen? Kann man den Käfer als dumm bezeichnen, wenn er annimmt, daß die Menschen die Dose absichtlich an diese Stelle gelegt haben, um ihn zu quälen? Oder kann man sein Verhalten egozentrisch nennen, wenn er sich einbildet, die Dose erfülle nur den Zweck, ihm ein Rätsel aufzugeben?

Für den Käfer wäre es am besten, wenn er die Dose, so gut er eben kann, auf die für sie geltenden Gesetzmäßigkeiten untersuchen würde. Diese Methode setzt natürlich einige Intelligenz voraus. Aber dafür besteht die Möglichkeit, daß der Käfer nach einiger Zeit sogar herausbekommt, wer die Dose weggeworfen haben könnte.«

Barker warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Alles Quatsch! Ist der Käfer dadurch glücklicher? Bekommt er etwas? Entgeht er etwas? Verstehen die anderen Käfer, was er tut, sammeln sie für ihn, während er seine Zeit verschwendet? Ein schlauer Käfer geht um die Dose herum, Doktor, und lebt weiterhin glücklich und zufrieden.«

»Sicher«, antwortete Hawks. »Gehen Sie doch gleich jetzt, Barker.«

»Ich habe nicht von mir gesprochen! Ich meinte Sie.« Barker sah sich in dem Laboratorium um. »Einen Haufen Leute haben Sie hier. Alle Ihretwegen eingestellt. Ich nehme an, daß das ein schönes Gefühl sein muß.« Er klemmte sich den Ordner unter den Arm und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Männer, Geld, Arbeitskraft, Fleiß, Wissen — alles für unseren berühmten Dr. Hawks und seine kleinen Spielereien. Anscheinend haben die anderen Käfer doch gesammelt.«

»Wenn man es so ansieht, ist alles schön einfach«, meinte Hawks gelassen. »Und es erklärt auch, warum ich immer wieder neue Freiwillige in das Gebilde schicke. Es befriedigt mein Ego, wenn ich andere Männer auf meinen Befehl hin sterben sehe. Jetzt sind Sie an der Reihe. Kommen Sie, Lancelot — Ihre Rü stung liegt bereit. Haben Sie die Trompeten nicht gehört?« Er berührte einen Lippenstiftfleck auf Barkers Hemdkragen. »Was ist das? Wessen Herz würde brechen, wenn Sie nicht mehr zurückkommen würden?«

Barker stieß seine Hand beiseite. »Ein Käferherz, Doktor.« Er entblößte seine Zähne zu einem häßlichen Grinsen. »Nur ein kleines Käferherz.«


* * *

Hawks war mit Barker allein, nachdem er alle weggeschickt hatte, die beim Anlegen des Anzugs geholfen hatten. »Sie werden sterben, Barker«, sagte er leise zu ihm. »Geben Sie alle Hoffnung auf. Sie haben keine mehr.«

»Das weiß ich, Doktor«, antwortete Barker ruhig.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie immer wieder sterben würden. Das werden Sie auch. Heute ist nur das erstemal. Wenn Sie den Verstand behalten, sind Sie wieder völlig in Ordnung — aber Sie werden sich an Ihren eigenen Tod erinnern können und daran denken, daß Sie am nächsten Tag wieder sterben müssen.«

»Auf irgendeine unbegreifliche Weise, das weiß ich bereits.« Barker seufzte. »Schön, Doktor — wie wollen Sie es anfangen? Was für ein Zauberkunststück haben Sie sich ausgedacht?« Er war bemerkenswert ruhig, sein Gesichtsausdruck war beinahe apathisch. Nur die schwarzen Augen, deren Pupillen unnatürlich erweitert waren, waren lebendig.

»Sie werden sich verdoppeln«, erklärte Hawks ihm. »Nachdem Sie abgetastet worden sind, wird der Impuls, der Sie darstellt, nicht nur zum Mond übertragen, sondern auch von dem Empfänger hier im Laboratorium aufgenommen. Der für den Labor-Empfänger bestimmte Impuls wird allerdings auf Band gespeichert, bis der zweite den Mond erreicht hat. Dann entsteht in beiden Empfängern gleichzeitig ein Barker. Wir haben dieses System eingeführt, als uns klar wurde, daß der Freiwillige auf dem Mond zum Tod verurteilt war. Was die Erde betrifft, ist er also nie gestorben. Bis jetzt hat diese Methode einwandfrei funktioniert.«

Barker sah geduldig zu ihm auf.

Hawks sprach umständlich weiter. »Dieses System sollte das Leben der Freiwilligen retten«, sagte er und zog die Augenbrauen zusammen. »Und es wird auch Ihres retten. Barker M wird auf dem Mond sterben. Aber Barker L wird hier im Empfänger erscheinen und wird, falls er nicht den Verstand verliert, heute abend nach Hause gehen können, als sei nur ein ganz normaler Tag in seinem Leben vergangen. Und nur Sie«, fuhr er fort, wobei er Barker in die Augen starrte, »der auf dem Mond steht und sich an diesen Au genblick hier erinnert, werden wissen, daß Sie der Pechvogel Barker M sind, und daß ein Fremder Ihren Platz auf der Erde eingenommen hat.«

Hawks fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ein anderer wird heute nacht Claire in den Armen halten. Ein anderer wird Ihren Ferrari fahren und Ihren Whisky trinken. Sie sind nicht mehr der Barker, den ich zusammen mit Connington besucht habe. Den Mann gibt es nicht mehr. Aber bis jetzt mußte noch kein Barker sterben — kein Barker mußte eine Reise ohne Wiederkehr antreten. Jetzt können Sie noch den Anzug ausziehen und einfach gehen, Barker. Ich würde es tun.« Er beobachtete ihn aufmerksam.

Barker dachte einen Augenblick nach und lachte dann lautlos. »Lassen Sie das, Doktor«, wehrte er ab. »Sie wissen genau, daß ich bereits Blut geleckt habe.«

Hawks versenkte die Hände in den Hosentaschen. »Ausgezeichnet. Noch etwas. Als wir mit dieser Methode zu arbeiten begannen, stellten wir fest, daß der Freiwillige L Anzeichen vorübergehender Verwirrung zeigte. Obwohl er sicher im Laboratorium lag, benahm er sich, als sei er der Freiwillige M, der auf dem Mond stand. Diese Geistesverwirrung dauerte nur einige Sekunden und ging rasch in den Normalzustand über. Zunächst verschoben wir die Untersuchung dieses Phänomens auf einen späteren Zeitpunkt, an dem wir uns ausführlicher damit befassen wollten. Aber dann erhielten wir die ersten Berichte der Mannschaft des Mondstützpunkts, in denen beschrieben wurde, daß der Freiwillige M unerklärlicherweise Zeit verlor — daß er einige Sekunden brauchte, um sich nach Verlassen des Empfängers zu orientieren. Den Grund dafür konnten wir uns damals nicht vorstellen, aber jedenfalls verlor der Freiwillige dadurch wertvolle Zeit.

Dieses Problem mußte schnellstens gelöst werden. Wir fanden die Lösung, als wir uns überlegten, daß unsere Versuche ein unbeabsichtigtes Ergebnis gehabt hatten — zum erstenmal existierten in dem uns bekannten Universum zwei identische Gehirne zur gleichen Zeit. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, daß die riesige Entfernung zwischen ihnen für ihre Gedanken kein größeres Hindernis darstellte, als ein Kreidestrich über den Pfad eines Wanderers, über den er achtlos hinwegschreitet. Von mir aus nennen Sie es sogar Telepathie …« Hawks zog einen Augenblick verächtlich die Mundwinkel herab.

»Selbstverständlich bestand nie Aussicht auf einen echten Gedankenaustausch, denn die beiden Gehirne waren schon nach wenigen Augenblicken nicht mehr völlig miteinander identisch. Die beiden Freiwilligen nahmen verschiedene Sinneseindrücke wahr und speicherten diese Erfahrungen in ihren Gehirnzellen. Die Verbindung zwischen den beiden Gehirnen wur de schnell schwächer und riß schließlich völlig ab. M und L waren nicht mehr der gleiche Mensch.

Verstehen Sie mich richtig, die beiden Freiwilligen konnten nie miteinander ›sprechen‹. Um die Gedanken eines Mannes lesen zu können, muß man dieser Mann sein, muß sein Leben führen und seine Arbeit tun. Selbst in unserem Ausnahmefall konnte es nur einen Augenblick so erscheinen, als seien die beiden Menschen ein Wesen.«

Hawks sah auf und nickte Gersten zu, der neben dem Empfänger stand und ihn beobachtete. Dann wandte er sich wieder an Barker.

»Dann erkannten wir, daß dies ein erfolgversprechender Weg war, um einen Mann genau zu beobachten, der sich innerhalb des Gebildes befand, und veränderten die äußeren Umstände unserer Versuche dementsprechend. Barker M wird in dem Empfänger auf dem Mond erscheinen, wo er nicht mehr unter dem Einfluß von Betäubungsmitteln steht, die seiner Atemluft nur eine bestimmte Zeit beigemischt werden. Er wird wieder zu Bewußtsein kommen, sich normal bewegen und ungestört beobachten können. Aber Barker L steht nach wie vor unter unserer Kontrolle. Er bleibt in seinem Anzug isoliert und ist keinerlei Einflüssen von außerhalb ausgesetzt. Die einzigen Eindrücke, die sein Gehirn während dieser Zeit erhält, kommen aus Barker M's Gehirn.

Barker L bildet sich also ein, sich ebenfalls auf dem Mond im Inneren des Gebildes zu befinden. Er weiß nicht, daß er in Wirklichkeit Barker L ist. Praktisch bedeutet das, daß sein Gehirn alle Eindrücke registriert, denen Barker M's Körper ausgesetzt ist. Dabei ist natürlich nicht zu verhindern, daß der Kontakt zwischen den beiden Gehirnen allmählich schwächer wird, weil der Metabolismus der beiden Körper im Lauf der Zeit voneinander abweicht. Aber theoretisch wäre eine Verbindung denkbar, die etwa zwanzig Minuten anhält — obwohl dieser Wert selbstverständlich noch nie erreicht wurde.

Wenn Sie Rogans Leiche erreichen, wissen Sie, daß Sie die Grenze des bisher erkundeten Gebiets erreicht haben. Wir wissen nichts über seine Todesursache. Es spielt auch keine große Rolle, Sie dürfen nur nicht das gleiche tun. Vielleicht gibt Ihnen die Lage der Leiche einen Hinweis. Wenn das zutrifft, haben wir wenigstens etwas durch seinen Tod dazugelernt. Als Rogan L fühlte, daß Rogan M dort oben den Tod fand, war er für sämtliche anderen Sinneseindrücke nicht empfänglich. Ihnen wird es genauso gehen.

Barker M's Geist wird mit seinem Körper sterben, wie auch immer dieser Körper zerstört werden wird. Hoffen wir, daß er es länger als zweihundertzweiunddreißig Sekunden aushält. Und Barker L's Geist, der sich hier befindet, wird diesen Tod ebenfalls emp finden, weil sein Gehirn keinen anderen Eindrücken ausgesetzt sein wird. Barker L wird den Schmerz, den Schock und die unbeschreibliche Verzweiflung fühlen, die sein Tod mit sich bringt. Das hat bisher noch niemand ertragen können. Selbst die intelligentesten und emotional stabilsten Freiwilligen wurden dabei verrückt. Sie waren ohne Ausnahme nicht mehr in der Lage, zusammenhängend über ihre Erfahrungen zu berichten, und der Aufwand für unsere Versuche war vergebens.«

Barker sah zu Hawks auf. »Na, das ist aber wirklich schade, Doktor.«

»Wie soll ich denn Ihrer Meinung nach darüber sprechen?« fuhr Hawks auf. Die Zornesader auf seiner Stirn trat auffallend stark hervor. »Soll ich Ihnen erzählen, was wir hier zu tun haben, oder wollen wir über etwas anderes sprechen? Wollen Sie mit mir einen Streit über meine moralischen Grundsätze anfangen? Wollen Sie behaupten, daß ich ein Mörder bin, weil einer der beiden Menschen auf dem Mond sterben wird? Wollen Sie mich vor ein Gericht zerren, damit ich auf den elektrischen Stuhl komme? Wollen Sie in Gesetzbüchern nachschlagen, um zu sehen, welche Strafen einen Mann erwarten, der wiederholt andere systematisch in den Wahnsinn getrieben hat? Hilft uns das hier? Wird unsere Aufgabe dadurch leichter? Erreichen wir deshalb unser gestecktes Ziel eher?

Lassen Sie sich auf den Mond schicken, Barker. Sterben Sie dort. Und wenn Sie dann feststellen, daß Sie den Tod wirklich so lieben, wie Sie bisher geglaubt haben, sind Sie vielleicht der erste, der normal genug zurückkehrt, um sich an mir rächen zu können!« Hawks griff nach dem schweren Deckel, der das Oberteil von Barkers Anzug verschließen sollte, und knallte ihn zu. Er stützte sich mit beiden Händen darauf, bis sein Gesicht sich ganz dicht an der Öffnung in Barkers Helm befand. »Aber bevor Sie das tun, werden Sie mir verraten, wie ich es beim nächstenmal bessermachen kann.«

Загрузка...