Skoff hatte sich daran gewöhnt, den Wecker klingeln zu lassen. Wenn das Geräusch leiser wurde, drehte er sich um und versuchte weiterzuschlafen. Die Schwere in seinem Körper drückte ihn wie ein Bleigewicht in die Polster. Im Halbschlaf dachte er an seine Arbeit, wollte jeden Moment aufstehen, konnte sich aber nicht überwinden. Heute entschuldigte er sich damit, daß es nichts ausmache, wenn er samstags später anfinge. Gegen neun gab er sich noch eine halbe Stunde, dann eine weitere. Erst um elf war er ganz wach.
Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fing sich Licht in der staubigen Luft des Zimmers, fiel auf die Karteikästen, Papierstapel und Bücher auf dem Regal, das seinen Arbeitsplatz abteilte. Skoff wischte sich mit der Decke die Feuchtigkeit vom Bauch und spürte Krümel unter den Sohlen, als er die Füße aufsetzte. Wo immer er hinsah, war alles von einer flaumigen Schicht Staub bedeckt.
Die Handtücher im Bad rochen muffig, er selbst nach einer Mischung aus Schweiß und Sperma. Während er nackt vor dem Spiegel stand und seine Erektion zurückging, fragte er sich, ob ihm heute dasselbe bevorstand, was er schon ein dutzendmal erlebt hatte. Sylvia hatte ihm gestern am Telefon erklärt, wo sie jetzt wohnte, und es auf die übliche Weise verstanden, ihn zu überrumpeln. Wenn seine morgendliche Phantasie die Wirklichkeit vorwegnahm, würde er heute abend wieder in ihrem Bett landen. Und er konnte sich vorstellen, was dann in einigen Tagen von ihrer einschmeichelnden Freundlichkeit übrigbliebe, wenn sie ihr Selbstbewußtsein mit der Gewißheit aufgefrischt hatte, daß sie ihn noch immer haben konnte, und ihm erklärte, sie habe an diesem Abend zuviel getrunken, die Sache nicht so ernst genommen, oder was ihr diesmal einfiel. Wie oft wollte sie das wiederholen? Mit klarem Kopf hielt er es für das beste, die Verabredung abzusagen, so schwer es ihm fiel.
Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bücher und photokopierte Manuskripte, Dutzende unerledigte Aufträge. Als er nach einer Katzenwäsche und einem Frühstück, das sein Mittagessen gleich vorwegnahm, in einer fettverschmierten Pfanne zubereitete Bratkartoffeln, die Seiten neben der Maschine durchsah, suchte er nach einer Möglichkeit, sich vor der Arbeit zu drücken. Der Rest des Originals belief sich auf sechs Seiten, vielleicht elf in der Übersetzung, einen Tag Arbeit. Zum Ende hin wurde die dünne Geschichte immer unerträglicher. Ein Blick auf den Wandkalender erinnerte Skoff daran, daß er schon um Wochen hinter seiner Terminplanung herhinkte. Bis zu seiner Verabredung blieben ihm drei Stunden. Es hatte kaum einen Sinn, noch anzufangen.
Er spannte einen Bogen in die Walze, überflog einen Absatz des Textes, blätterte im Wörterbuch und tippte halbherzig ein paar Zeilen. Nach zwei Sätzen verlor er den Faden, riß die Seite heraus und fing von vorne an. Er wußte nicht mehr, worum es in der Geschichte ging, was der Verfasser sagen wollte, was er selbst hinschreiben sollte. Nach einigen Versuchen, sich zusammenzureißen, stützte er die Ellbogen auf die Maschine, barg das Gesicht in beide Hände und dachte nach. Der Dreck überall, auf dem Teppich, den Regalen, dem Fernseher, an ihm selbst, machte ihn nervös. Er konnte sich in einer solchen Atmosphäre nicht konzentrieren.
Als das Telefon klingelte, hatte er die Termine durchgestrichen und beschlossen, den restlichen Tag zu nutzen, um Ordnung zu schaffen und seine Zeit neu einzuteilen, damit er morgen etwas disziplinierter weitermachen könnte. Aber wie oft hatte er das schon versucht?
Am anderen Ende der Leitung meldete sich Sylvia. Das ersparte ihm die Mühe, sie anzurufen.
»Hör mal, ich habe mir heute das Auto meiner Freundin geliehen. Dann brauchen wir nicht mehr zu überlegen, wie wir die Sachen zu dir rüberschaffen.« Sie redete, als sei das ganz selbstverständlich. Dabei wußten sie beide, daß nach den Monaten, in denen sie nichts voneinander gehört hatten, ihr die Möbelstücke, die noch in ihrer alten Wohnung standen, nur einen Vorwand boten.
»Ich wollte dich selbst gerade anrufen.«
»Was ist? Schaffst du’s heute nicht?«
»Nein. Ich habe noch mal darüber nachgedacht. Ich möchte dich nicht sehen.« Es fügte ihm einen körperlichen Schmerz zu, derart kalt zu sein. Er dachte an die raren Momente, für die er so viel geopfert hatte, Abende und Nächte, in denen zwischen ihnen alles ganz einfach ausgesehen hatte. Aber diese Vertraulichkeit hätte ihm jetzt ebenso widerstrebt. Sie schwieg eine Weile.
»Das mußt du wissen.« Er merkte ihrer Stimme an, daß es sie mehr traf, als sie erkennen lassen wollte. »Aber was machen wir mit deinen Sachen?«
»Laß sie mir vorbeibringen oder wirf sie auf den Müll.« Er bereute es im selben Moment, als er den Hörer auflegte. Die Überzeugung, das Richtige zu tun, hatte nicht verhindern können, daß ihre Stimme in ihm eine Illusion von Zuneigung hervorrief, die, wie er wußte, in eine Situation wie jene münden würde, als sie ihm nach ihrer letzten gemeinsamen Nacht erklärt hatte, daß es einen anderen Mann gäbe. Warum konnte sie nicht damit aufhören, in seinem Leben herumzupfuschen? Den Rest des Tages würde er sich niedergeschlagen fühlen und vielleicht Dinge tun, die er später bereute.
Eine Hand noch am Hörer, blätterte er den Notizblock neben dem Apparat durch und riß entschlossen zwei Seiten mit Telefonnummern und Adressen von Frauen heraus, auf deren Bekanntschaft er künftig auch lieber verzichtete. Sylvia durfte nicht wieder in der Weise auf ihn Einfluß nehmen, daß er sich in seinem Stammlokal zur Ablenkung auf Affären mit Frauen einließ, die am nächsten Tag schon nicht mehr wußten, warum sie etwas mit ihm angefangen hatten, oder mit solchen, die zu betrunken waren, um ihn überhaupt wahrzunehmen. Immer wieder entglitt ihm sein Leben ins Chaos. Immer wieder erwachte er an einem Morgen wie diesem, um festzustellen, daß nichts so lief, wie er es sich vorstellte. Er war jetzt siebenundzwanzig und auf dem besten Wege, sich alle Chancen zu verbauen. So durfte es nicht weitergehen.
Aus einem Fach im Küchenschrank kramte er ein Bündel Plastiktüten, warf in eine die Papierschnipsel und ging durch die Wohnung, um Aschenbecher auszuleeren, Flaschendeckel, Teebeutel und zerrissene Umschläge einzusammeln und alles an Unterlagen, Zeitschriften und Prospekten wegzuwerfen, was er nicht brauchte. Während er dann den Schmutz von Regalen und Fensterbänken wischte und mit dem Staubsauger über Polstermöbel und Teppiche fuhr, ließ er in der Küche in einer Schüssel mit heißem Wasser die Essensreste von drei Wochen einweichen. Ehe er sich an den Abwasch machen konnte, hatte er im Flur sechs Tüten mit Abfällen aufgestapelt.
Von den Vorräten im Kühlschrank war die Hälfte verdorben. Der Frischkäse in den Bechern hatte Schimmel angesetzt, die Milch war sauer geworden, die Salate und Gemüse im untersten Fach zu einer schleimigen Masse verfault. Er nahm sich alle paar Tage vor, sparsamer zu leben, fand aber meist keine Zeit, selber zu kochen, und verpulverte Unsummen für Fertiggerichte, während seine Vorräte darauf warteten, im Müll, Ausguß oder Klobecken zu verschwinden. Er wagte nicht abzuschätzen, wieviel Geld er in den letzten Jahren auf diese Weise verschwendet hatte.
Als er sich vergeblich bemühte, den noch immer strengen, halb fauligen, halb süßlichen Geruch in der Küche zu beseitigen, indem er die klebrige Schicht aus eingetrocknetem Tee und Kaffee, Sojasauce, Sambal, Fett und Gewürzen auf dem Tisch mit Scheuerpulver bearbeitete, ahnte er, was er übersehen hatte. Er mußte den Schrank und die Geräte von der Wand rücken, um festzustellen was sich in dem Zwischenraum an Brot-, Keks- und Kuchenkrümeln, Saucen und Speiseresten angesammelt hatte, eine fingerdicke, bräunliche Masse, an der selbst die Fliegenmaden eingegangen waren. Skoff konnte sie nur mit einem Spachtel entfernen. Um den Boden zu reinigen, verbrauchte er drei Eimer Wasser.
Die Mülltonnen vor dem Haus waren voll, deshalb brachte er die Tüten in den Keller. Sein Abstellraum lag am Ende eines fensterlosen Gangs der nur von einer staubbeschlagenen Glühbirne erhellt wurde. Über den rutschigen Boden führte eine Spur von Farb-, Lack- und Kleisterflecken zu der Lattentür. Schon als er den Keller betrat, bemerkte Skoff den Geruch verrotteter Pappe und Tapeten. Vor der Tür, wo die Luft vor Schimmel und Fäulnis klamm wurde, hielt er einen Moment den Atem an. In den kleinen Raum drang gerade so viel Licht, daß er die Umrisse der Müllbeutel, Eimer und Stapel von Pappkartons erahnen konnte, die er hier im Frühjahr aus Bequemlichkeit untergebracht hatte, als er sich endlich dazu aufraffte, das zweite Zimmer zu renovieren, das seit seinem Einzug vor drei Jahren leer stand. Beim Versuch, seine Augen anzustrengen, schien es ihm fast, als bewegten sich die unförmigen Haufen etwas.
Spinnweben und Ruß hatten das Fenster zum Hof nahezu geschwärzt. Skoff stellte die Plastiktüten, die er in den Armen hielt, an die Wand und tastete sich ins Dunkle vor. Mit den Füßen schob er Lackdosen und Farbeimer beiseite. Mit ausgestreckten Händen versuchte er etwas zu fassen zu bekommen, was er nach hinten werfen konnte, um Platz zu schaffen, aber seine Fingerspitzen berührten nur feuchte, aufgequollene Flächen, fanden nirgends eine Kante oder eine Ecke. Der Lärm aufgedrehter Fernseher und Radios, der durchs Treppenhaus geschallt hatte, verstummte hinter ihm. Skoff warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, daß die Lampe im Flur noch brannte. Mit jedem Schritt schien ihr Licht schwächer zu werden.
Hier, mitten unter den Abfällen, haftete dem Geruch etwas an, das Skoff nicht benennen konnte. Es war nicht die noch immer aus undichten Behältern dringende Schärfe von Terpentin und Lacken, die ihn beunruhigte, auch nicht der modrige Gestank verfaulter Lebensmittel. Die einzelnen Gerüche flossen vielmehr zu etwas zusammen, was am ehesten an rohes Fleisch und Blut erinnerte. Skoffs eigener Atem übertönte das Rieseln und Schaben, das er einige Male zu hören glaubte. Einmal hatte er den Eindruck, ein Stück Pappe ziehe sich unter seiner Berührung zurück, aber er hatte den Karton selbst mit dem Schienbein weggeschoben, ohne es zu merken.
Plötzlich ging das Licht aus. Ein Knall erschütterte die Stille, als die Kellertür zufiel. Skoff hatte das Gefühl, als träfe ihn im Innersten ein Schlag. Er fuhr herum, zog sich am Türrahmen aus dem Dreck, in dem er plötzlich zu versinken drohte, und stürzte auf den Gang. Mit wenigen Schritten, indem er jeweils drei Stufen auf einmal nahm, ließ er die Treppe hinter sich. Erst als er die Klinke herunterdrückte und ins Treppenhaus stolperte, wurde ihm bewußt, daß es keinen Grund zur Aufregung gab.
Über ihm stampfte jemand die Treppe hinauf. Ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht und eine Tür zugeschlagen. Die Schnulzen aus dem Radio des Junggesellen im ersten Stock leierten weiter. Es mußte derselbe übereifrige Nachbar sein, der schon oft das Licht ausgeschaltet und die Tür versperrt hatte, als Skoff im Keller beschäftigt war.
Beim Abendessen, für das er alles verarbeitete, was sich noch an Eßbarem in seiner Wohnung befand, fragte er sich, was ihn überhaupt so erschreckt hatte. Seit er immer seltener ausging und froh war, wenn er keine Anrufe erhielt, aus Angst, es könne sein Verlag sein, fühlte er sich hier oben wie eingesperrt. Gelegentlich bedauerte er es, viele Bekanntschaften nur deshalb nicht weiterverfolgt zu haben, um sich Enttäuschungen zu ersparen. Ihm war der Entschluß schwergefallen, sein Stammlokal nicht mehr zu besuchen, und er wußte nicht, wo er sonst hingehen sollte, aber ihn widerte der Lärm an, bei dem er von dem alkoholisierten Gerede seiner Tischnachbarn kaum ein Wort verstand, die Nächte, die er bei Dope und Alkohol in den Wohnungen von Leuten verbrachte, die er nicht mochte, wenn alle Kneipen geschlossen waren. Wieviel Zeit hatte er auf diese Weise schon verloren?
Später schaltete er alle Lampen in der Wohnung und den Fernseher ein und drehte den Ton bis zum Anschlag auf. In Gedanken bei Sylvia, was ihn von Minute zu Minute mehr ärgerte, zog er sich aus und ließ Badewasser ein. Er wußte nicht, welchen Kanal er gerade empfing, er wollte nur Stimmen hören. Als ihm die Discomusik zu aufdringlich wurde, schaltete er wahllos um. Auf dem Bildschirm erschien eine vierköpfige Gesprächsrunde. Einer von den gelehrtenhaften Männern erzählte etwas über Müll, und Skoff lachte. Genau das Thema, das ihn interessierte.
Das eklige Gefühl, von einer millimeterdicken Kruste umgeben zu sein, war er losgeworden, als er nach fünfzehn Minuten aus der Wanne stieg, in der in Flöckchen alles schwamm, was er von sich abgenibbelt und -gekratzt hatte, Dreckkrusten unterm Hals, Hornhaut an den Fußballen, gelbliche Schmiere unter der Vorhaut. Nach einer Kopfwäsche und Rasur nahm er die letzten Korrekturen mit einer Nagelschere vor, und noch einmal drang etwas von dem schweißigen Geruch in seine Nase, als er das Gemisch aus abgestoßener Haut und Dreck unter seinen Fußnägeln hervorkratzte. Im Bettkasten fand er etwas frische Wäsche. Zum erstenmal seit langem stellte ihn sein Anblick im Spiegel schließlich zufrieden. Er spürte, daß er das brauchte. Die Endgültigkeit, mit der er Sylvia abgewiesen hatte, machte ihm noch immer zu schaffen.
»Wir verlieren immer mehr Lebensraum an unseren eigenen Abfall«, erklärte der Müllprofessor, als Skoff sich am Schreibtisch daran machte, einen neuen Terminplan aufzustellen. Wenn er sich diesmal daran hielt, konnte er in drei Monaten alle anstehenden Projekte erledigt haben. Er hörte nur mit einem Ohr hin. »In den modernen Industriestaaten werden durchschnittlich zehn bis fünfzehn Prozent der Fläche zur Müllvernichtung oder -lagerung benötigt. In einigen amerikanischen Großstädten ist die Masse kaum noch zu bewältigen. In den Halden am Rande der Slums gedeihen neue Krankheitserreger, an denen selbst die Ratten zugrundegehen. Wir laufen Gefahr, daß inmitten unserer zivilisierten Welt menschenfeindliche Lebensräume entstehen, über deren Entwicklungen wir keine Kontrolle haben.«
Jetzt, da er sich von dem äußeren und inneren Schmutz befreit hatte, der ihn seit Tagen lahmlegte, spürte er im Bauch dasselbe flaue Gefühl wie jedesmal, wenn er seinen Schmerz wegen Sylvia hinunterzuschlucken versuchte. Er füllte eine weitere Plastiktüte mit den Plänen, die er von der Wand und aus Schnellheftern riß, Aufstellungen seiner Kosten für die nächsten Monate, Listen von Büchern, die er seit Jahren schreiben wollte. Neue Pläne zu tippen, brachte aber die Stimme nicht zum Verstummen, die er noch im Ohr hatte.
»Im mikrokosmischen Bereich bildet unser eigenes Körpergewebe Kondensationspunkte aus, an denen sich die Trägersubstanzen einer konträren Evolution abscheiden. Wir wissen nicht, was in den Ruß- und Teerpartikeln in einer Raucherlunge, den Tröpfchen von Nahrungsgiften in einer Drüsen- oder Leberzelle geschieht, in die aus dem umgebenden Gewebe Vitalstoffe hineindiffundieren. Wir schaffen Milliarden mikrometergroße Enklaven, in denen wir Schadstoffe in unserem Körper deponieren.«
Ein einziger Müllbeutel, ein paar Blätter im Papierkorb genügten für Skoff, um die klare Atmosphäre zu trüben, die er geschaffen hatte. Er zog die Vorhänge zu, damit er nichts mehr draußen sah, und mußte sich zwingen, noch einmal in den Keller zu gehen. Die Geräusche im Treppenhaus waren auf ein kaum vernehmliches Maß abgesunken. Vor der Kellertür zögerte er kurz.
Am Fuß der Treppe konnte er vom anderen Ende des Gangs nichts erkennen. Die blaßgelbe Lampe warf auf halbem Weg nur einen tellergroßen Lichtfleck auf den Boden. In den Leitungsrohren rauschte es leise. Ein leichter Zug bewegte die Luft, ohne daß Skoff ausmachen konnte, aus welcher Richtung er kam. An seinen Fingerspitzen blieb feuchter, fast schleimiger Putz hängen, als er sich an der Wand abstützte. Es roch nach Innereien, Galle und Magensäure.
Mit jeder Lattentür, an der er vorbeiging, wurde der Geruch stärker. Seine Sohlen lösten sich schmatzend von weichen Stellen am Boden, und er bemerkte feuchte Flecken an der Wand. Einige Male tropfte etwas auf seinen Kopf, rann beinahe zielstrebig seinen Nacken hinunter in den Hemdkragen. In den Kellerräumen hörte er Geräusche, als sänken Abfallhaufen in sich zusammen. Er wollte möglichst schnell wieder hinaus, wagte sich aber nur mit äußerster Vorsicht zu bewegen. Die Tüte in seiner Hand wurde immer schwerer. Am Ende des Gangs trat er in eine Pfütze, die nach Erbrochenem stank.
Mit verhaltenem Atem versuchte er sich zu erinnern, wo in dem Gerümpel noch Platz gewesen war. Als er die Tür aufzog, deren Scharniere so laut knarrten, daß er zusammenfuhr, schien der Lichtschimmer auf eine einzige zusammenhängende Masse zu fallen. Er warf die Tüte einfach hinein, aber sie glitt von irgendwo hinunter, ihm wieder vor die Füße. Vor ihm bewegte sich etwas, vielleicht auch neben ihm. Beim ersten Schritt in die Kammer rutschte er aus und prallte mit den Schultern gegen die Wand. Für einen Moment schien es ihm, als würde das lehmige Mauerwerk beben. Halb auf den Knien tastete Skoff nach der Tüte und versuchte sie irgendwohin zu stopfen, aber überall traf er auf denselben zähen Widerstand. Die Plastikgriffe klebten an seinen Händen. Die Lampe im Gang schwang in einem Luftzug an ihrem Kabel langsam hin und her und ließ ihn immer länger in völliger Dunkelheit.
Zuerst hatte er das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben, als die helle Phase völlig ausblieb. Dann verriet ihm das Geräusch einer Klinke, die heruntergedrückt, und eines Schlüssels, der herumgedreht wurde, daß er nicht träumte. Er hörte noch die Haustür zufallen und ein lautes Rauschen, als jemand im ersten Stock den Wasserhahn betätigte, bevor der Luftzug so stark wurde, daß er in seinen Ohren wie ein Seufzen klang.
Ruckartig schreckte Skoff von der Wand zurück. Er wußte nicht, ob er sich nur eingebildet hatte, daß der Putz in seinem Rücken zu pulsieren begann. Der Gestank setzte sich in seiner Nase fest, stieg ihm in den Kopf. In seinem Mund breitete sich ein fader Geschmack aus. Er taumelte hilflos um die eigene Achse und hatte den Eindruck, der Boden geriete ins Wanken. Bis zu den Knöcheln versank er in einer zähen, sich windenden Masse. Als ein Wulst sich um seine Hüfte schloß, wußte er, daß er sich nichts einbildete.
Das Seufzen schwoll an. Der ganze Kellerraum pumpte Luft in den Gang und brachte verborgene Membranen zum Vibrieren. Skoff drohte nach hinten überzukippen und versuchte sich abzustützen. Etwas hatte seine Hosenbeine aufgeweicht und ein Brennen kroch die Waden hinauf. Seine Hände griffen ins Leere, spürten nur die feuchte Luft, die aus einer Öffnung hinter ihm gepreßt wurde. Aus dem Seufzen wurde ein Heulen. Skoff bäumte sich auf, aber er kam nicht frei.
Mit letzter Willensanstrengung versuchte er trotz der Flüssigkeit, die auf ihn herabregnete, und des Gestanks, der ihn zu ersticken drohte, ruhig zu bleiben. Seine Hände suchten nach einem Gegenstand, mit dem er sich hätte verteidigen können, bekamen aber nur die Tüte zu fassen. Ohne lang zu überlegen, warf er sie in den Schlund hinter seinem Rücken. Das Geheul erstarb in einem Glucksen und für einen Moment lockerte sich die Umklammerung.
Skoff wußte später nicht mehr, wie er sich befreite, durchs lärmende Dunkel den Weg zur Kellertür fand und die Treppe hinaufhetzte, um oben die Tür hinter sich zu verbarrikadieren. Noch Minuten später hämmerte sein Herz und rang er um Atem. Als ihm endlich bewußt wurde, daß er mit dem Rücken zur Tür im Korridor hockte, fragte er sich, ob er den Verstand verloren habe. Er lauschte angestrengt, aber im Treppenhaus blieb es still. An seinen Hosenbeinen klebten Papierfetzen. Aus seinem Haar tropfte Feuchtigkeit, aber es war nur Wasser, nichts von dem, was er gespürt zu haben glaubte.
Es beruhigte ihn nicht, daß ihm nur gewöhnlicher Kellergeruch anhaftete. Sein Verstand suchte nach einer einfachen Erklärung, aber etwas in ihm wehrte sich dagegen. Er dachte an die wenigen Sätze, die er von der Fernsehdiskussion mitbekommen hatte, und fragte sich, wieviel unentdeckte Winkel es in seiner Wohnung noch gab, in denen sich Schmutz ansammelte, unter den Teppichen vielleicht, hinter losen Fußleisten oder Tapeten. Was ging in ihm selbst vor? Was war dieses schmerzhafte Ziehen wirklich, das seinen Magen zusammenkrampfte?
Er brauchte eine Stunde, bis er aufstand, seine Kleider in die Wäschetrommel warf und sich im Bad alles vom Körper wusch, was ihm verdächtig erschien. Bis in die Nacht ließ er alle Lampen in der Wohnung brennen, schaltete den Fernseher ein und legte sogar Schallplatten auf. Eine Zeitlang überlegte er, ob er jemanden anrufen sollte, Sylvia vielleicht, aber das hielt er für lächerlich. Gegen Mitternacht beschwerten sich seine Nachbarn durch Klopfen, und er drehte widerwillig den Ton und die Musik leiser. So sehr er sich bemühte, die Handlung des Spätfilms zu verfolgen, es gelang ihm nicht. Um zwei wurde er zu müde, um sich weiter auf den Beinen zu halten. Anfangs versuchte er bei Licht zu schlafen, dann sah er ein, daß er früher oder später doch wieder Dunkelheit vor Augen haben würde.
Zu seiner Erleichterung blieben die Halluzinationen aus, vor denen er sich gefürchtet hatte. Die weichen Polster verhalfen ihm zur Entspannung, so daß er schließlich sogar den Gedanken erwägen konnte, vielleicht nur überreizt oder erschöpft gewesen zu sein. Er wollte nicht darüber nachdenken, in welchem Maße Sylvia daran mitschuld war. Ab morgen würde er einiges in seinem Leben ändern. Es durfte nicht wieder dazu kommen, daß sich ihm die Dinge entwanden, die ihm wichtig waren.
Das einzige, was von der Aufregung zurückblieb, als er an der Schwelle zum Schlaf hindämmerte, war der Schmerz in seiner Magengrube. Er merkte kaum etwas davon, weil mit der Erschöpfung die Schwere vom Morgen in seinen Körper zurückkehrte. Noch geringfügig mehr zerrte der Kloß in seinem Magen an seinen Eingeweiden. Skoff krümmte sich und verschränkte die Arme über dem Bauch, aber die Müdigkeit erwies sich als stärker. Die amöbenartige Masse in seinem Bauch schien zu wachsen und sich auszubreiten. Bevor er ganz das Bewußtsein verlor, hatte Skoff die vage Empfindung, daß sie unter seinen Brustkorb auf sein Herz zukroch.
Copyright © 1996 by Michael K. Iwoleit • Erstveröffentlichung