Jacques MondoloniFrankreich
MEMOSCHMERZEN


Algie saß da wie ein chinesischer Buddha und schien zu meditieren – wie gewohnt waren seine Beschuldigungen heftig, unerbittlich, und die kleine Eva, die verschrumpelte Frau, die fast menschliche Zwergin, sank vor lauter Schmerz in sich zusammen, als er sich über sie ärgerte. Wie gewohnt stolperte er in einem bestimmten Moment absichtlich über ein Wort, über ein Wort aus der Vergangenheit, ein Wort, das mit ihrem Verbrechen zu tun hatte, und gab vor, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Die in seinem künstlichen Körper eingeschlossenen Ordnungskräfte wurden befreit. Was folgte, war der zeitlich genau festgelegte Zyklus der Vergeltungsmaßnahmen. Der stets wie improvisiert scheinende Schlag ging auf sie nieder. Die gepanzerte Tür im Hirn der kleinen Eva öffnete sich. Sie schrie auf, als sie die Schmerzen der Vergangenheit spürte. Ihr Gedächtnis klapperte wie ein schlecht geschlossener Deckel. Dann wurde sie ohnmächtig, begann zu schwitzen, wurde wütend und wehrte sich wie ein Kind, das nicht ins Bett will. Sie wurde ohnmächtig, ihre Gedanken konzentrierten sich krampfhaft auf den Knauf der Panzertür, sie weigerte sich zu gehen, weigerte sich, ihre Erinnerungen entschwinden zu lassen. Algie hingegen wurde deprogrammiert. Die Panzertür schloß sich wieder, und Erinnerungsfetzen, Schmerzsplitter drangen auf Umwegen, durch eine vorsätzlich angebrachte undichte Stelle ein und überfluteten die Wände ihres Hirns.

Eine leichte Ekstase begleitete ihr verblassendes Verschwinden. Es war, als würde sie in genauer Kenntnis der Sachlage die Besinnung verlieren. Sie akzeptierte das Leiden, den Untergang wie ein Kranker, der sich seiner Ohnmacht vollauf bewußt und gleichzeitig so schwach ist, daß er sich damit abfindet, daß es sinnlos ist, sich selbst zu verfluchen.

Algie wurde deprogrammiert. Die kleine Eva wurde geweckt. Man befreite diejenige, der man unentwegt mit Erschießung drohte, von ihrer Augenbinde.

»Die Sitzung ist aufgehoben!« verkündete Algie.

»Sie dürfen rauchen …«

»Die Geschworenen ziehen sich zur Beratung zurück.«

Welche Geschworenen? Algie war der Geschworene, der Staatsanwalt, der Verteidiger, der Richter, der Polizist, der Scharfrichter – alles in einer Person. Justizroboter. Organ der Rechtspflege. Lebende Statue mit asiatischen Zügen, die von ihrem cybernetischen Thron herab Wahrheiten aus Bronze verkündete. »Bronze …« So nannte ihn die kleine Eva, wenn sie das Wort an ihn richtete, da sie seine Titel nicht mehr kennen wollte, nicht mehr wissen wollte, ob sie sein Opfer und seine Mandantin war.

»Bronze, laß mich schlafen … Bronze, laß zu, daß ich mich erinnere …« Ein lächerlicher Name für einen solchen Rachegott. »Ich heiße Algie«, wiederholte er in den Pausen, falls er einigermaßen gut gelaunt war. Algie, der Roboter in Buddha-Form, der Riesenroboter, der Schmerzenshändler. Algie, der Roboter, der sämtliche Schmerzen der Menschheit in seinem Gedächtnis aufbewahrte: dank einer Vorrichtung, die Memoschmerzen hieß. Ein nützliches Ding, das von jenen erfunden worden war, die es mochten, vordergründig zu lachen oder Angst einzuflößen.

»Ich verstehe, Bronze, du bestehst auf deinen entsetzlichen Namen … doch du bist bis unter die Haarspitzen aus Bronze!« erwiderte die kleine Eva, als er nicht lockerließ.

»Was heißt das?« fragte er gereizt.

»Oh! Du kannst mich verstehen? Du siehst so wuchtig, so mächtig, so unerbittlich aus … Du scheinst nachzudenken, doch du verdaust nur deinen Reis!«

Dies sagte sie aufgrund seiner asiatischen Gesichtszüge: seit sie mit ihm zu tun hatte, wußte sie, daß er nicht stolz darauf war. Warum hatten die Cybernetiker ihn mit dieser Physiognomie ausgestattet …? Wahnvorstellungen von Westlern, die sich immer noch vor der gelben Gefahr fürchteten? Oder der naive Reflex kultureller Empathie eines japanischen Ingenieurs, der für die Weltraumkolonien, für die Weltraumgefängnisse arbeitete …? Von einem formellen Standpunkt aus betrachtet, war das Geheimnis seiner Gestaltung zweifellos Teil des Programms, der Rolle, die man ihm zugewiesen hatte. Auf die Erde zurückzukehren, um seine Erzeuger, seine Erschaffer zu befragen, hätte keinen Sinn gehabt. Wieso nicht Anzeige erstatten …? Eine Prozeßmaschine strengte keinen Prozeß an. Eine Foltermaschine folterte sich nicht freiwillig. Zwei Basisbefehle, die irgendwo in seinem vervielfältigten, einem dicken Minutenlichtschalter ähnelnden Hirn festgeschrieben waren – hinter seiner grünlichen Maske, hinter seinen Haarbüscheln, zwischen seinen Schlitzaugen – und gegen die er nicht verstoßen wollte.

»Sie haben Angst vor Robotern!« verkündete er von Zeit zu Zeit, um sie zu erschrecken. »Eine Last, die sich zu allen übrigen Lasten, unter denen Sie bereits zu leiden haben und die ohnehin schon schwer genug sind, dazugesellt.«

Doch diese Art von Beschuldigungen beeindruckten die Angeklagte kaum.

»Das ist doch idiotisch, Bronze … Ich bin genauso künstlich wie du. Aber … ich bin weiß! Und ich bin eine Frau!«

»Die Geschworenen werden das zu würdigen wissen …«, erwiderte er, um sie sich vom Hals zu schaffen. Doch weil er in jenem Moment keinen Geschworenen verkörperte, kam er sich lächerlich vor.

Algie schien zu meditieren. »Und sie denkt, ich wäre mit meiner Verdauung beschäftigt!« sagte er sich und dachte über die kurze Zeitspanne nach, die ihm als Staatsanwalt noch blieb. Der Countdown hatte begonnen: seine Zeit als Verteidiger rückte näher. Und da ihm die Argumente fehlten, stellte er fest, daß die Fallen, die er ihr zuvor gestellt hatte, allmählich ihre Wirkung verloren. In Kürze würde er die Robe des Rechtsanwalts anlegen, dessen Stimme annehmen und, wie gewohnt, alle zerstören.

Ahnte die kleine Eva etwas von seinen Gewissensfragen, von seiner Schwierigkeit, mit einer Mehrfachidentität zu leben, die vom Menschen von Anfang an pervertiert worden war? – Eines Tages hatte sie ihm erklärt: »Bronze, du bist wie eine Wetterfahne …!« Seither kam sie immer wieder auf dieses Thema zu sprechen, quälte seine Eigenliebe, sofern sie ihn nicht gar beschuldigte, eine solche überhaupt nicht zu kennen. Im Schutz seiner Scharfrichterphase nagelte er sie am Boden fest, wenn sie es wagte, ihn auf diese Weise anzugreifen. Er brauchte nur auf irgendeinen Knopf der Memoschmerzen-Vorrichtung zu drücken, damit grausame, ferngesteuerte Kräfte in sie fuhren, ohne jemals auch nur die geringsten Spuren von Gewaltanwendung zu hinterlassen, weder an ihrem Körper noch in ihrem Hirn. Die ideale Prügelstrafe.

Die Memoschmerzen erschöpften sie. Doch obwohl sie sich, auf dem Bett ihrer Zelle liegend, unter Schmerzen wand, war sie längst nicht erledigt. Sie litt, ertrug entsetzliche Qualen, den codifizierten Sadismus der Scharfrichterphase, erlebte verschiedene peinvolle Phasen ihres menschlichen Lebens noch einmal: die Babywehwehchen, den ersten Kontakt des Kindes mit spitzen Gegenständen im Haus, die ersten Enttäuschungen kindlicher Verliebtheit, die Entjungferung, den ersten Liebesverrat, die erste Trennung, die Niederkunft, den Tod eines geliebten Menschen und die fürchterliche Qual ihres eigenen Todes. Alles andere hatte sie vergessen. Die Wissenschaftler hatten nur Bruchteile menschlicher, allgemeingültiger Erinnerungen in ihr Hirn transplantiert, die nicht nur genauso armselig und unergiebig waren wie die künstlerischen Beurteilungen eines Museumsführers, sondern auch -auslöschbar.

Die kleine Eva schlief nur halb – sie wartete darauf, die Nachfolge Algies anzutreten, zum anderen Algie zu werden. Nicht daß seine Verwandlung zum Verteidiger sie beruhigte – sie machte sich nichts aus diesem ganzen Theater mit seinen offensichtlichen Veränderungen, aus diesem widerlichen Spiel des äußeren Scheins, diesem endlosen Spektakel eines zweitrangigen Schauspielers, der nicht von der Bühne abtreten will. Wenn Algie die Rolle des Verteidigers übernahm, hatte sie ihre Ruhe, mehr nicht …

Sein Plädoyer war jedenfalls stets erbärmlich, übertrieben querulant. Ganz gleich, wie ausführlich er Beweise und Gegenbeweise gegeneinanderstellte, das Resultat seines Geschwätzes war stets gleich Null, weil die Maschine ihr Urteil prinzipiell niemals ändern konnte.

Zu Beginn ihrer Einkerkerung hatte sie noch daran geglaubt, daß es eine Rolle spielen würde, welche Robe er sich umhängte. Doch anläßlich einer Wiederaufnahme ihres unendlichen Prozesses hatte sie begonnen, ihre Meinung zu ändern.

»Schlafen Sie, kleine Eva …«

Seine Rechtsanwaltsphase begann stets mit diesen ein wenig zärtlich klingenden Worten, so als entschuldigte er sich für den Ärger, den er ihr in seiner Staatsanwaltsphase bereitet hatte.

»Laß mich schlafen, Bronze …«

Sein Buddha-Gesicht nahm einen verärgerten, schuldbewußten Ausdruck an und erinnerte an das eines Orakels, das sich auf der ganzen Linie geirrt hat. Hinter seinen grünlich grauen Lippen verbarg sich ein Ausdruck von tiefem Mitgefühl, ein Versprechen auf Hoffnung, und mit verlegenem Blick starrte er auf seine Schenkel, seine gewaltigen, stets unbeweglichen Schenkel.

»Rauche, Bronze, ich mag es, wenn du rauchst …«

Dann qualmte er wie ein Weltraumspediteur, der, auf einer Kiste sitzend und mit seiner Pfeife im Wind, dabei zuschaut, wie seine Waren verladen werden. Außer daß Algie keinen Tabak besaß: aus seiner Pfeife stiegen angenehme, mit Rum vermischte Tabakdüfte auf, die sich mit Hilfe bläulichen Dampfes materialisierten. Dieser Dampf zischte aus Düsen, die hinter seinem steifen Oberkörper verborgen waren. Befand sich der Tabak im Innern der Statue, in einer Spezialtasche …? Diese Illusion genügte der kleinen Eva. In der Maschine gab es ein Raucherabteil, das war das wichtigste. Für einige Augenblicke verwandelte Algie die Zelle in einen englischen Pub. Sein habeas corpus erhielt einen kleinen Pluspunkt. Im englischen Pub fehlten nur noch ein paar Menschen aus Fleisch und Blut, damit sie an ihre Rechte glauben konnte, an die Unparteilichkeit des Gerichts, an die Zivilisation – an ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies.

»Ich weiß ganz genau, woran Sie denken«, hüstelte Algie, »wir haben schon hundertmal darüber gesprochen …«

»Dann erwähne es nicht schon wieder, Bronze …«

»Es geht mir darum, jegliches Mißverständnis auszuschließen. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihr Verteidiger bin …«

»Und gleichzeitig mein Scharfrichter!«

»Das bin nicht ich … Also, Sie verlangen, daß man Sie nach den Gesetzen der menschlichen Justiz behandelt und man gleichzeitig nicht mehr ganz und gar menschlich ist. Eva, Sie sind künstlich, aber Sie vergessen dieses nicht unwesentliche Detail immer wieder …«

»Weil ich einsdreißig groß bin?«

»Wenn es nur das wäre …!«

»Ich bin ein ehemaliger Mensch!«

»Ja, aber Sie wurden rekonstruiert, recycled, wie man früher sagte … Na, wo sind denn Ihre ursprünglichen Organe? Was ist geblieben von der Frau, die Sie in einem früheren Leben einmal waren …? Physisch betrachtet nicht sonderlich viel, nicht wahr! Sie sind eine Androide, eine Gyneoide …«

»Ich bin keine richtige Androide. Übrigens bin ich nicht zweigeschlechtlich wie alle anderen Androiden. Ich bin weiblichen Geschlechts und sehe aus wie eine Frau.«

»Ich gestehe Ihnen zu, daß Sie ihnen nicht ähneln: die Androiden der Generation 10 sehen aus wie Transvestiten! Doch Sie sind immerhin das Trugbild einer Frau … und, faktisch besehen, asexuell!«

»Sexuell habe ich … früher existiert! Ich bin ein Mischling!«

»Einverstanden … Aber im Moment wird Ihr Leben von der Gesellschaft der Roboter geregelt. Unsere Sozialgesetze, unsere Sitten und Gebräuche, unsere Handlungsfreiräume haben Grenzen, vergessen Sie das nicht …!«

»›Vergessen Sie das nicht! Vergessen Sie das nicht!‹ – Du wiederholst dich ständig, Bronze … Ja, ich habe es vergessen, ich habe es vergessen. Dann gib mir meine Erinnerungen zurück, wenn du dazu imstande bist!«

»Oh! Das Gedächtnis, das ich Ihnen ausleihen kann, ist selektiv, vergessen Sie das nicht …«

»Wie war ich, früher?«

»Größer … Die Operation hat Sie kleiner gemacht. Und Ihre Erinnerungen sind in der Wäsche eingegangen …«

»In der Gehirnwäsche …«

»Ja. Das war die Voraussetzung für Ihr Überleben …«

»Und ich war damit einverstanden …?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Keine Ahnung.«

Gemächlich legte Algie seine Pfeife zur Seite, entfaltete seine drallen dunkelbraunen Buddha-Arme und ließ sie auf eine Weise herumwirbeln, die äußerst beeindruckend und der Emphase seines plumpen Umfangs würdig war: zum Vorschein kam der Pflichtverteidiger; irgendwo in der Maschine wurde sein Eintrittsticket zur Bank der Verteidigung von einem routinierten Zahn gelocht.

»Meine verehrte Mandantin, sehr geehrte Herren Geschworene«, begann er, »meine verehrte Mandantin hat es nicht verdient, einer Schandtat bezichtigt zu werden …«

»Ende der Durchsage!« unterbrach ihn die kleine Eva.

»Sie erleichtern mir nicht gerade die Arbeit, meine kleine Eva …«

»Warum sollte ich das tun? Ich sitze im Gefängnis.«

»In einem goldenen Gefängnis, vergessen Sie das nicht …«

»Ein Gefängnis ist ein Gefängnis. Golden ist ein Adjektiv, das nur diejenigen verwenden, die es nicht kennen …«

Algie ließ seine Arme abrupt nach unten sinken und so geräuschvoll gegeneinanderschlagen wie zwei Becken. Der Putz blätterte ab, und die vorstehenden, mit Harz überzogenen Venen kamen zum Vorschein.

»Du hast ein wenig Schminke nötig …«, sagte die kleine Eva ohne zu lächeln.

Algie reagierte nicht auf diese Bemerkung, sondern schlug sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel – er war mit einer verletzenden Äußerung im Rückstand. Der Putz bröckelte ab und zersetzte sich wie eine Rußschicht unter den Schlägen eines Schornsteinfegers. Er schimpfte. Sein innerer Chronometer ärgerte sich darüber, daß diese winzige furchtlose Frau ihm widersprochen, ihn zurechtgewiesen hatte. Die Zeit arbeitete erneut gegen ihn und zwang die Programmierkarten, sich zu winden wie ein Gummiband, das man gestrafft und dann mit einemmal losgelassen hat.

»Herr Vorsitzender, ich sehe mich verpflichtet, mein Plädoyer abzukürzen …«

Algie, der Vorsitzende, der unter Algie, dem Verteidiger, brütete, nickte traurig mit dem Kopf.

»Wünschen Sie, daß die Sitzung unterbrochen wird?« fragte Algie, der Vorsitzende.

»Sie hat doch gerade erst begonnen …«, beklagte sich Algie, der Verteidiger.

Algie, der Verteidiger, kratzte sich am Kopf. Die Maske des gutmütigen Buddha, des lebendigen Idols, das sich offensichtlich mit großer Aufmerksamkeit den Sorgen der anderen widmete, rief den Requisiteur um Hilfe. Er mußte schleunigst in eine andere Robe schlüpfen, eine andere Autorität verkörpern.

»Man macht es mir unmöglich, meine Arbeit zu tun, Herr Vorsitzender«, behauptete er feige.

»Möchten Sie, daß wir eine Phase überspringen?« schlug Algie, der Vorsitzende, vor. »Sie kommen dann später wieder dran.«

Algie, der Verteidiger, stimmte verschämt zu.

Die repressiven Schaltungen im Innern der Maschine begannen zu knirschen. Algie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Seine bronzenen Züge warfen sich in Falten. Ein ablehnender Ausdruck zeigte sich, und nach einer weiteren ungeschickten Geste, einer letzten Konzession an seine Funktion als Verteidiger, legte er seine Kleider ab. Die kleine Eva überließ er bedenkenlos dem Zorn des Gerichts.

»Es ist Ihre Schuld!« murmelte er in ihre Richtung.

»Natürlich!« erwiderte die kleine Eva mit näselnder Stimme.

Da die mindestens fünfzigminütige Redezeit, zu der Algie als Verteidiger berechtigt war, ihm nicht mehr zur Verfügung stand, war er gezwungen, diese wieder an das Gericht abzutreten, also an sich selbst, an einen bösen, lasterhaften Doppelgänger, von dem man erwartete, daß er die kleinen Gemütsregungen, die er zuvor verspürte, inzwischen vergessen hatte. Die Komplizität, die zwischen ihm und der kleinen Eva bestand, auch wenn sie bloß eine Vortäuschung war, wurde im Namen der Planung, des sakrosankten Berechnungsgesetzes verschleudert.

Obwohl es durchaus flexibel gehandhabt werden konnte, durfte sich niemand ungestraft an dem Berechnungsgesetz vergreifen, das den Verlauf des Prozesses bestimmte. »Alles fließt, alles ist beweglich, die verschiedenen Akte des Stückes können sich in den eigenen Schwanz beißen, doch das Stück hat nur ein Ziel, und seine Dauer ist alles in allem immer die gleiche«, sagte Algie manchmal, vermutlich als Parodie auf die Philosophie seiner Schöpfer.

In seiner Eigenschaft als ein dem Justizsystem unterworfenes Wesen war Algie stets mit einer Änderung des Zeitplans, mit einer kleinen Verschiebung einverstanden. Man merkte, daß er durchaus gewillt war, einen Termin zu verlegen (Absagen kamen allerdings niemals in Frage!), man spürte, daß er nichts dagegen einzuwenden hatte, das Eintreten der Memoschmerzen hinauszuzögern … Der Beweis: die Memoschmerzen wurden niemals ausgelöst wie das Klingeln eines Weckers. Die zyklischen Schmerzen, die im Hirn des Roboters lagerten, trafen die kleine Eva niemals überraschend. Stets wurde die kleine Eva taktvoll davon in Kenntnis gesetzt, damit sie sich gebührend darauf vorbereiten konnte. Algie, der Scharfrichter, schien sich dafür entschuldigen zu wollen, daß er die Fleisch gewordene Pein darstellte, die Religion des Schmerzes, die qualvolle Erinnerung an eine Vergangenheit, die ein sadistischer, geschwätziger Ingenieur noch einmal überdacht und chiffriert hatte.

In der Praxis konnte Algie sogar die den Memoschmerzen bewilligte Zeit verringern, weil er sämtliche Rollen innehatte – sofern die kleine Eva ihn nicht lächerlich machte. Die Schmerzskala war ebenso veränderbar wie die Aufteilung der Zeit, doch das Ende des Prozesses stand eindeutig fest.

»Bronze, du schälst dich«, sagte die kleine Eva in ironischem Ton. »Wieso benutzt du kein Bräunungs-Öl …?«

»Einspruch!« schrie Algie, der Gerichtsvorsitzende.

Er war wütend. In aller Eile übertrug Algie, der Vorsitzende, Algie, dem Scharfrichter, seine Vollmachten: Dringlichkeitsprozedur.

Die Schmerzen warfen sich auf die kleine Eva. Jugenderinnerungen bedrängten sie. Die Panzertür in ihrem Hirn öffnete sich, und ein Stück bereits gelebtes, regelmäßig verborgenes, verdrängtes, zur Schau gestelltes, begrabenes Leben tauchte fühlbar und mit eidetischer Präzision vor ihr auf.

Sie schrie »Mama!«, rannte wie von Sinnen über eine steinerne Treppe in einem steinernen Haus und zeigte das schwarze Blut, das an ihren Schenkeln hinunterlief. »Endlich bekommst du deine Tage, meine Kleine!« rief ihre Mutter erfreut. Sie unterbrach ihre Arbeit – welche Arbeit? In diesem Moment war der Film sehr undeutlich – und, in Tränen aufgelöst, vor Freude weinend, suchte sie nach einem Handtuch. Die steinerne Treppe zog vorbei, das Blut hinterließ Flecken auf den Stufen, ihre Mutter war nicht mehr zu sehen. Sie hörte, wie sie in einem Schrank stöberte. Sie ahnte, daß ihre Mutter glücklich war über das, was passiert war, doch sie haßte die hygienischen Gründe, die ihr Kommen verzögerten. Die steinerne Treppe zog vorbei, um ihr zu erlauben, Zeit zu gewinnen. Die Bilder begannen erneut von vorne, weil sie das Blut, den Film krampfhaft festhielt. »Mama, komm, es läuft …« Der Schmerz ergriff Besitz von ihrem Unterleib, die Treppe drehte sich um sich selbst, sie hörte sich brüllen: »Nein, nein!« Sie hörte die weinerliche Stimme ihrer Mutter, die versuchte, sie zu beruhigen. Plötzlich sank sie zu Boden, es war nicht mehr auszuhalten. Sie ließ das ganze Blut, das aus ihrem Körper drängte, aus sich heraus, sie wurde zu einer Vagina, zu einer jammernden, zufriedenen Vagina, sie wurde zu einer undichten Schleuse, schmutziges, lauwarmes Wasser, das durch den verdrehten Kanal in ihrem Innern floß, sie litt an diesem warmen Glück, das sie zerriß, sie genoß die Sexualität, die sich ihr offenbarte.

Die kleine Eva betastete ihren Bauch – nein, sie blutete nicht. Eine Zuckung, ein flüssiger und parfümierter, autonomer Krampf, der ihrem Körper einer kleinen, rekonstruierten Frau fremd war, hatte ihr Becken heimgesucht. Die Fortsetzung? Durfte sie um die Fortsetzung der halluzinatorischen Erinnerung bitten? Kannte der Vorführer der Memoschmerzen sie? Hielt er eine Filmrolle mit einer bislang unbekannten Sequenz dieser Vergangenheit in Reserve?

»Warum?« fragte sie immer noch, als sie den Film verließ. Ja, warum? Was zugeben? Was tun? Was opfern, um frei zu sein? Und was verkünden, um die Erregung eines menschlichen Schmerzes noch einmal zu erleben? Auf diese letzte Frage hatte sie teilweise eine Antwort gefunden: es genügte, Algie, den Verteidiger, zu widerlegen. Anschließend lösten sich die Vergeltungsmaßnahmen von selbst auf, und ihr androider Körper mußte sich Beleidigungen gefallen lassen, die eines gewissen Reizes nicht entbehrten. Doch – letzten Endes – warum?

»Das müssen Sie schon selbst herausfinden, kleine Eva«, erwiderte Algie, als sie die Vorführung verließen.

Aber was herausfinden? Sie vergaß automatisch, was sie wiedererlebt hatte. Sie erinnerte sich nur noch an die Titel der einzelnen Episoden: die ersten Monatsblutungen, die Entjungferung, der erste Liebesverrat usw. Alle Einzelheiten lösten sich auf, sobald die Memoschmerzen es so entschieden. Sie wußte, daß es einen Film gab, ein Skript, aber der technische Aufnahmeplan entzog sich ihr, sobald die Vergangenheit das Studio, die Zelle stürmte.

Der einzige Vorteil dieser fortwährenden, in systematischer oder unsystematischer Reihenfolge ablaufenden Rückkehr in die Vergangenheit war das Erlangen der Fähigkeit, einen Geistesblitz lang ihren gegenwärtigen Körper zu verabscheuen, die einsdreißig kleine schrumpelige Frau, die dank hochtechnisierter Methoden am Leben gehalten und aus Gründen, die zu analysieren ihr nicht gelang, hundert Meilen von der Erde entfernt gefangengehalten wurde. Die Fetzen ihrer Vergangenheit drängten sich ihr mit der Zeit auf, zeigten sich trotz der gepanzerten Tür, die der Scharfrichter hinter ihr schloß, nach dem Ende jeder Vorführung immer wieder hartnäckig in ihrem Gesichtsfeld. Eines Tages würde es einem dem Wesen nach menschlichen Detail gelingen, sich in ihre Mischlingsnatur einzuschleusen und den schleimigen Pakt, den sie mit den Wissenschaftlern geschlossen hatte, aufzulösen. Möglicherweise würde sie sich daraufhin selbst zerstören, doch zumindest würde sie dann begreifen, aus welchen Gründen sie ihr vorgeschlagen hatten, weiterzuleben …

»Die Sitzung ist aufgehoben …«

Das Gericht machte eine Pause. Das Kino änderte sein Programm, der Vorführer legte eine neue Filmrolle ein.

Algie schien zu meditieren – mit dem Kopf im Nacken und fast gänzlich geschlossenen Augen saß er da und schien auf den sinnlichen Rasierpinsel des Barbiers zu warten. Doch er war bartlos, und seine Körperpflege war nichts als Attitüde. Keine Creme breitete sich auf seinen bronzenen Wangen aus, kein Rasierapparat berührte ihn – nur ein hinter seinem Rücken, in der Nähe der Rohre angebrachtes Pseudopodium entfernte von Zeit zu Zeit den beinahe rußigen Staub der abbröckelnden Patinabläschen.

Gab Algie, der Unveränderliche, vor, diese Alterssymptome nicht zu sehen? Oder war es der Versuch, die kleine Eva glauben zu lassen, er wäre sehr wohl verwundbar? So wie sie, so wie am Ende alle künstlichen Wesen, die mit Sicherheit eher unerschrocken als unverwüstlich waren.

»Kleine Eva …«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Gehen Sie zurück an Ihren Platz. Die Verhandlung wird fortgesetzt …«

»Laß mich schlafen, Bronze.«

»Das Gericht würde Ihnen das erlauben, wenn Sie träumen könnten …, aber das ist unmöglich, nicht wahr?«

»Eines Tages wird es mir gelingen …«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Ja …«

»Nichts weiter als kümmerliche Reste der Retrospektive …«

»Nein …, ich sehe eine Mauer.«

»Eine Erinnerung, die Teil einer Memoschmerzen-Sequenz ist …«

»Nein …, ich sehe eine Mauer … eine Abgrenzung vor dem Himmel.«

»Sind Sie ganz allein?«

»Nein …, es ist noch jemand da.«

»Sagen Sie mir seinen Namen!«

»Ich weiß seinen Namen nicht …«

»Kleine Eva … Würden Sie mich nicht belügen, so könnte ich das Gericht durchaus bitten, Ihnen einen gewissen Aufschub zu gewähren.«

»Ich lüge nicht, ich glaube …«

»Träumen Sie, kleine Eva, anschließend werden wir uns über die Mauer unterhalten …«

Die kleine Eva streckte sich auf dem Bett ihrer Zelle aus und genoß ihren Sieg. Ich gewinne Zeit, ich stehle Zeit, sagte sie sich stolz. Und voller Entsetzen dachte sie daran, daß die Tatsache, daß sie die Maschine belogen hatte, früher oder später entdeckt werden würde.

Die Mauer? Ja, es stimmte, sie hatte eine Mauer gesehen, aber möglicherweise handelte es sich, wie Algie angedeutet hatte, um die Überbleibsel eines Saineten aus ihrer Vergangenheit. Um ein ungewöhnliches, aber tatsächlich existierendes Phänomen, das auf die Hartnäckigkeit ihrer Netzhaut zurückzuführen war.

Sie schloß die Augen, um Schlaf vorzutäuschen. Träumen? Wovon träumen? Ihr Geist bewahrte keine Erinnerungen auf. In ihrem Roboterfleisch gab es keine Spuren von Leben, Wünschen, Freuden, Tränen – ihr Geschlecht, ihr Unterleib, ihre Brüste waren emotionelle Attrappen. Sie bewegten sich nicht, gärten nicht, spürten niemals das Verlangen, berührt zu werden. Die Wissenschaft konnte sich rühmen, sie ihrer Weiblichkeit enteignet zu haben. Die Wissenschaft und die Wissenschaftler. Denn deren Wunsch, eine Frau ohne weibliche Eigenschaften zu erschaffen, ließ sich nur durch ihre Frauenfeindlichkeit erklären. Um es zu wagen, die Frau jeglicher Leidenschaft zu berauben, mußten sie ganz einfach davon überzeugt sein, daß alles Weibliche auf ewig verdammt ist. Zunächst einmal dieser Name: kleine Eva – so als sei ihre Wiedergeburt in einem künstlichen Körper zwangsläufig mit einer zweiten Erbsünde verbunden. Auf alle Fälle waren die mythologischen Schäden weit davon entfernt, aus dem männlichen Unterbewußtsein gelöscht zu werden. Obwohl man sie als medizinisches Wunder des neuen Jahrtausends gefeiert hatte, war sie, weil sie nach wie vor unter männlicher Vormundschaft stand, genauso nackt wie die erste Eva.

Widersprüchlicherweise erlangte sie ihre weiblichen Merkmale gerade während der Memoschmerzen-Sequenz wieder. Der Erinnerungsapparat erlaubte ihr, eine Zeitlang Fleisch, Exkrement, Blut, Pisse, Eiter, Saft, Geruch zu werden, auch wenn ihr synthetisches Hirn sich dessen anschließend nicht mehr entsinnen konnte. War Algie sich bewußt, daß er sie überglücklich machte, wenn er auf einen Knopf der Vorrichtung drückte?

Wußte er, daß der wahre Schmerz das Vergessen ist – der Verlust ihrer Unschuld beispielsweise war in keiner Weise mit der Qual vergleichbar, die sie über den Verlust ihres Gedächtnisses empfand: sie durchlebte diese Episode noch einmal mit der Unbekümmertheit ihrer sechzehn Jahre, mit der Spontaneität jenes Augenblicks. Aufgrund des Titels wußte sie, daß es sich um eine positive Filmsequenz handelte. Sie wußte, daß sie sich jedesmal genauso verhalten würde wie beim erstenmal.

Leider war diese Erfahrung nicht übertragbar. Keine emotionalen Schlacken lagerten sich ab. Der Filter ihrer künstlichen Erinnerung hielt die Vergangenheit zurück. Der Teer drang nicht durch das Sieb, der Geschmack löste sich auf: einen ehemaligen Menschen kann man nicht vergiften.

Frustration. Unmenschliche Frustration, die durch die Hoffnung kompensiert wurde, erneut dumpf, wie ein Mensch gefoltert zu werden. Unmenschliche Frustration, kompensiert durch die Hoffnung, von einem menschlichen Pfeil durchbohrt zu werden.

Sie überlegte zuviel. »Du denkst zuviel nach«, sagte sie sich, »es gelingt dir nicht zu träumen …« Träumen hätte nämlich bedeutet, daß sie in der Lage gewesen wäre, das Informelle, das Auszulöschende in Frage zu stellen und sich von den endlos wiederholten Bildern verwirren zu lassen.

Sie öffnete die Augen, um zu sehen, was Algie gerade tat, und mit einemmal bedauerte sie ihre kleinen, gegen ihn gerichteten Seitenhiebe. Und wenn er sich rächen würde? Und wenn er sich eine Folter ausdenken würde, um sie zu bestrafen – eine Folter, die ihre menschliche Seite leugnen würde?

»Sie schlafen nicht mehr, kleine Eva …«, sagte er.

»Doch, doch …«

Sie hörte sich stottern und drehte sich auf den Bauch, um seinem Blick auszuweichen.

»Haben Sie geträumt?«

»Ja …, ich träumte, du würdest mir einen Arm abschneiden.«

Algie lachte. Sein mächtiger Buddha-Leib wiegte sich in den Hüften. Die kleine Eva fragte sich, ob er sich von ihren Lügen täuschen lassen würde.

»Ich kann Sie beruhigen, kleine Eva: an Androiden nimmt man keine Amputationen vor.«

»Ja, das weiß ich, so lautet das Gesetz … aber trotzdem!«

»Oh! Sie haben nichts zu befürchten, ich versichere Ihnen, daß die Androiden absolut unteilbar sind. An ihnen Amputationen vorzunehmen würde bedeuten, den Staat, den Staatskörper zu amputieren …«

»Ja, das weiß ich. Das ist in meinem Hirn archiviert: Teil des Staates, Teil der unteilbaren Republik, wie alle Androiden der Generation 10 … Aber wieso habe ich davon geträumt?«

»Um mich in die Irre zu führen.«

Algie lachte erneut.

»Haben Sie keine Angst … Ich bin nicht im Dienst!« fügte er gutmütig hinzu. »Ich habe mich abgeschaltet. Das wird keine nachteiligen Folgen haben … Doch ich rate Ihnen, hören Sie auf mit dem Feuer zu spielen.«

Die kleine Eva merkte, daß sie ganz blaß wurde.

»Meine Organe dienen mir zu nichts!« erwiderte sie schroff. »Sie sind nur noch ein Vorwand!«

»So dürfen Sie nicht denken: Ihre anatomische, ihre genitale Unversehrtheit hat einen Sinn …«

»Glaubt ihr, daß ich etwas fühlen kann … die Libido …?«

»Wunderbar.«

»Wieso wunderbar?«

»Sie sind auf dem richtigen Weg … Ich werde das Gericht um einen zusätzlichen kleinen Aufschub bitten … Schließlich gefallen Ihre Lügen mir sehr!«

Algie wandte den Blick ab und griff nach seiner Pfeife. Er verbarg sein rundliches, zufriedenes Gesicht hinter seinen Händen, die die rituellen Gesten des Rauchers imitierten, der Tabak in den Kopf seiner Pfeife stopft. Wieder einmal hatte die kleine Eva den Eindruck, in ein englisches Pub versetzt worden zu sein.

Eine Rauchwolke, die größer und dichter war als gewöhnlich, füllte die Zelle. Von Algie waren nur noch die Umrisse zu sehen.

Die kleine Eva spürte ein Stechen in den Augen. An diesem Punkt brennt der Tabak stets in den Augen, dachte sie, denn meine Augen sind besonders empfindlich … So wie auch ihre übrigen Sinne: ihre Schöpfer hatten sie mit den fünf traditionellen Sinnen ausgestattet, die genausogut ausgebildet waren wie bei einem menschlichen Wesen. Mit der Sinneslust allerdings haperte es beträchtlich! Sie war nicht vorgesehen!

Sie streckte sich auf dem Bett aus und ließ die Hände zwischen ihre Oberschenkel gleiten – die Libido, gab es die Libido noch? War es ihr gelungen, durch die Panzertür einzudringen? War sie DAS Detail, das sie so sehr beeindruckt hatte, das den empfindlichen Teil ihres Hirns im Verlauf der unentwegten Rückkehrbewegungen so sehr beeindruckt hatte? Das schockierende Detail inmitten der ständig wiederkehrenden Erinnerungen, das die an Gedächtnisschwund Leidende ins Schwanken brachte …?

Dabei wird mir weder warm noch kalt, sagte sie sich, als sie sich streichelte. Doch dann kam ihr ein ganz bestimmter Gedanke, die springende Idee: sämtliche Elemente ihrer Vergangenheit als Mensch, die im Memoschmerzen-Apparat zwischengelagert waren, hatten ausschließlich mit ihrem Geschlechtsleben zu tun. Sogar ihr Tod, ihr Gebärmutterkrebs, der sie um ein Haar im besten Alter dahingerafft hatte.

Was beabsichtigte ihr Richter, ihr Scharfrichter, damit, immer noch auf diese Vergangenheit zu verweisen? Wollte er sie, indem er ihr ständig neue Dosen jener Merkmale (außer dem Krebs) verabreichte, die ihren Lebensweg als Frau begleitet hatten, für die Wissenschaftler entschädigen, die sie ihrer Weiblichkeit beraubt hatten? In gewissem Sinne eine Abfolge archetypischer Geburtstage …

»Bronze, laß mich den ›ersten Liebesverrat‹ wiedererleben …«, bat sie.

Algie antwortete nicht. Er qualmte wie ein alter, unerschütterlicher Indianer.

»Was genau ist das überhaupt, die Libido?« fuhr die kleine Eva fort.

Diesmal erwartete sie keine Antwort. Mit dem Zeigefinger berührte sie ihr Geschlecht. Komm, Libido, sei lieb und komm …, stachele meine Hoffnung an. Doch sie empfand nichts Besonderes. Sie schloß die Augen, um ihre unpassenden Tränen zurückzuhalten. Wie kann man der Abstraktion entgehen? Wie vor Lust erzittern ohne Erinnerungen?

Sie sah die Mauer. Was symbolisierte sie? Welches Echo ihres Lebens prallte an ihr ab? Der palingenetische Film, der ihretwegen gedreht worden war, mußte doch eine Bedeutung haben. Ihre Peinigung mußte doch Teil einer bestimmten Strategie sein. Doch welcher?

Die kleine Eva war völlig entnervt und weinte. Sie begriff nicht, um welche Intrige es in dem Film ging, sie verstand die Wörter der alten Leier nicht, die von den Wänden ihres stummen Zimmers, ihres stummen Gedächtnisses erstickt wurden.

»Bronze, was ist Liebe?«

Vorsichtig legte Algie seine Pfeife beiseite. Dabei lächelte er wie ein guter Familienvater.

»Ich weiß nicht … Irgend so ein Ding der Menschen.«

»Drück auf die Memoschmerzen-Maschine, Bronze … Auf irgendeinen Knopf.«

»Dazu ist jetzt nicht der richtige Moment. Die Verhandlung wird gleich fortgesetzt, kleine Eva …«

»Bitte, Bronze, hab Mitleid mit mir, drück …«

»Ich kann mich nicht in dem Maße über die Vorschriften des Berechnungsgesetzes hinwegsetzen … Meine Zeit als Richter hat begonnen. Es tut mir leid …«

Algie verwandelte sich in den Richter. Mit strengem Blick musterte er sie von Kopf bis Fuß.

»Angeklagte, erheben Sie sich!« befahl er.

Die kleine Eva erhob sich und wischte sich die Tränen ab.

»Wir waren bei ihren Kontakten stehengeblieben«, stellte Algie bissig fest. »Sie hatten Kontakt mit Menschen?«

»Nein. Seit ewigen Zeiten bin ich keinen Menschen mehr begegnet …«

»Aber Androiden?«

»Ja.«

»Androide, die von der Polizei gesucht wurden!«

»Ich hatte gute berufliche Verbindungen zu …«

»Sie antworten nicht auf meine Frage.«

»Deine Frage ist idiotisch!«

»Magistratsbeleidigung! Noch eine solche Bemerkung, und …«

»Was und?«

»Und ich lasse …«

»Und du läßt den Gerichtssaal räumen! Dann werden nicht mehr viele übrigbleiben …«

»Keine Frechheiten, oder …«

Algie, der Richter, stotterte unmerklich. Er suchte nach einer Entgegnung, doch das Verhör war zu schnell für die Funktionen, mit denen man ihn ausgestattet hatte.

»Schluß mit diesem skandalösen Benehmen, oder ich lasse Sie einsperren«, schrie er zornig.

»Ich sitze bereits im Gefängnis.«

»Antworten Sie auf meine Frage: Hatten Sie Kontakt zu diesen Flüchtigen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie haben einem von ihnen geholfen …«

»Laßt die Zeugen eintreten!«

»Welche Zeugen?«

»Diejenigen, die von meinem Anwalt vorgeladen wurden!«

»Ihr Anwalt erhält demnächst das Wort. Ich bin derjenige, der hier die Befehle erteilt!«

»Das ist gesetzeswidrig!«

»Das ist völlig legal!«

»Ich habe das Recht auf einen öffentlichen Prozeß!«

»Nein. Sie sind künstlich: die Androiden werden stets hinter verschlossenen Türen abgeurteilt!«

»Ich protestiere, Euer Ehren!«

»Wache!«

Algie richtete sich auf. Er hatte Lust, sich in einen Polizisten zu verwandeln – und saß auf einmal völlig sprachlos da. Was tun? Seine Zeit war noch längst nicht vorbei.

»Der Flüchtige, dem Sie geholfen haben«, fuhr er fort, »war krank … Sie haben ihn gepflegt. Diese Tatsache können Sie nicht leugnen!«

»Ein Flüchtiger oder eine Flüchtige?«

»Weichen Sie bitte nicht vom Thema ab … Die Androiden sind allesamt androgyn!«

»Alle außer mir!«

»Antworten Sie auf meine Frage!«

»Ich weiß es nicht.«

»Seine Apparate waren degeneriert: die berühmte multiple Sklerose … Können Sie sich noch immer nicht erinnern?«

»Die multiple Neurose, sagst du?«

»Antworten Sie auf meine Frage!«

»Ich erkläre das Gericht für nicht zuständig!«

»Das Gericht ist zuständig! Antworten Sie auf meine Frage!«

»Du bist ein furzendes Arschloch!«

»Scharfrichter!«

Vor Wut bekam Algie, der Richter, fast keine Luft mehr. Die Memoschmerzen überkamen die kleine Eva – übergangslos, ohne Ankündigung. Auf der Leinwand erschien jene Sequenz, die sich auf die letzten Tage ihrer menschlichen Existenz bezog.

Film ab. Das erste Bild zeigte sie, wie sie sich vor lauter Schmerzen auf dem Sofa wand. »Nierenkoliken, rasende Koliken«, sagte ein über sie gebeugter Arzt grinsend. Sie fühlte, wie sie ganz weich und dann ganz hart wurde. Sie wollte ohnmächtig werden, doch es gelang ihr nicht. Der Arzt bat sie, ihre Gefühle zu beschreiben, doch dazu war sie nicht in der Lage. Der Schmerz, der ihre Nieren lähmte, ihre Knochen durchfeilte, ihre Blase zersägte, hatte sie in eine Welt ohne Wörter getaucht. Das einzige, was sie sagen konnte, war ein verschämtes »Es tut mir so weh«. Der besorgte, gereizte Arzt ließ sie abtransportieren. Krankenwärter holten sie aus der Ambulanz. Ihr Bauch weigerte sich, als sie sich auf der Trage auszustrecken versuchte. Er trennte sich von ihrem übrigen Körper: er stolperte über die anderen Tragen wie eine Figur aus einem Zeichentrickfilm. Ein krampflösendes Mittel trug dazu bei, daß er sich erneut mit den restlichen Teilen ihres Körpers verband. Sie döste ein, fuhr auf einem Kamerawagen durch den Krankenhausflur, die unzähligen Stäbe der vergitterten Betten machten sie ganz schwindelig. Sie wurde untersucht, war halb wach, halb benommen von den Arzneien, die man ihr verabreicht hatte. Man weckte sie brutal. »Ihre Röntgenaufnahme …!« schrie der Assistenzarzt sie an und rüttelte sie. Sie begriff nichts, man schlug ihr ins Gesicht, gab ihr eine Spritze in den Arm. »Madame, Sie haben einen Tumor …«, dozierte der Assistenzarzt und deutete auf einen weißen Punkt auf dem Röntgenbild. Tumor? Der Chef kam und erklärte arrogant, es handle sich um eine gutartige Geschwulst. Ihr Unterleib wurde ganz kalt. Vor lauter Angst wurde ihr Unterleib ganz hart. Komplizierte Wörter drangen an ihr Ohr. Metallene Zungen leckten sie ab. Augen, groß wie Bullaugen, untersuchten sie ohne jede Scham. Sie wurde bestrahlt, doch nichts leuchtete auf. Sie wurde mit dicken, langen Nadeln ins Gesäß gestochen. Es roch nach Jod. Der Nacken tat ihr weh. Ihre Schilddrüse pulsierte wie ein in kochendes Wasser geworfenes Ei. Ihr Hals schwoll an und wieder ab wie eine Rohrpfeife. Unter ihrer Haut wuchs ein Kropf, ihre Kehle blähte sich auf wie eine heftig atmende Kröte. Sie roch das Jod. Ihr wurde übel. Sie übergab sich. Sie verschluckte ihre Zunge. Auf … Ab … Die Schilddrüse spielte ihr dumme Streiche, auf … und ab … Die Mannschaft der Nachtschicht ersetzte die Mannschaft der Tagesschicht, doch die eine versuchte nicht, der anderen zu begegnen – der Schlaf war nicht auf halber Strecke, in der Mitte, am Nullpunkt. Er pendelte ebenfalls hin und her. Mal mehr, mal weniger. Das Mehr und das Weniger waren zwei Gegner und gaben ein höchst lästiges Pärchen ab. Sie wußte nicht, wie sie sich ihrer entledigen sollte. Sie träumte, sie würde sich aus dem Fenster werfen. Das Mehr fing sie im Flug auf. Das Weniger betäubte sie von hinten. Die Angst ging rückwärts durch ihr narkotisiertes Gehirn. Das Mehr griff von neuem an … Mehr … Weniger … G-F … G-F: zwei Oktavnoten, die wie Komplizen ihrer durchwachten Nächte trällerten und auf der empfindlichen Kugel klimperten. »Schneidet mir den Hals auf!« brüllte sie mit erstickter Stimme. »Wir werden Sie operieren«, erwiderte der Chor der Ärzte, »allerdings mit dem Unterleib …« Sie fühlte sich einigermaßen erleichtert. Leute kamen in ihr Zimmer – ein Ehemann, ein Kind, Freunde? Auf dem Bild waren ihre Gesichter nicht zu sehen. Das Wort KREBS schwebte über ihnen wie ein übler Furz, für den niemand verantwortlich sein will. Der Assistenzarzt erklärte mit leiser Stimme, was man mit ihr machen würde. Mit einemmal sackte sie weg. Sie wurde wach, bekam fast keine Luft, ihr Mund fühlte sich teigig an, sie wälzte sich in den Laken wie ein bettlägeriges Weichtier. Der Ehemann war nicht anwesend. Ebensowenig der Sohn, die Tochter. Auch an diesem Punkt der Vorführung fragte sie sich immer noch, ob sie eine sichtbare Existenz gehabt hatten und diese Personen bei der Montage des Films hinzugefügt worden waren. Von neuem nahm sie sich vor, das beim nächstenmal zu überprüfen. Doch natürlich hatte sie das bei der nächsten Vorführung wieder vergessen. Sie war außerstande, das Erscheinen des Ehemannes, des Kindes im Bild vorauszusehen. Sie traten in einer Sequenz auf und verschwanden wieder, ohne Spuren zu hinterlassen. Verlorenes Kind? Verschwundener Ehemann? Sie stellte sich Fragen über ihn, stellte sich das Gesicht des Ehemannes von seiner Stimme ausgehend vor. Sie konnte sich Fragen stellen, konnte ihn sich vorstellen: einige Sequenzen lang litt sie keine Schmerzen, da sie nach wie vor unter der Wirkung der Narkose stand. Sie blätterte sogar in Zeitschriften, in Comic-Heften, in dem erfolgreichsten Titel des Jahres: Das Buch der Vorhersagen, das im Jahre 2005 aktualisiert worden war und in dem die Heilung sämtlicher Krebserkrankungen für das Jahr 2010 prophezeit wurde. Doch sobald ihr Körper gänzlich aus der Narkose erwacht war, verjagten fürchterliche postoperative Schmerzen das Bild des Ehemannes – sie schrie, die Bücher fielen zu Boden, sie biß in das Laken, da ihre Eingeweide sich weigerten, die Gase, die sich im Verlauf des chirurgischen Eingriffs gebildet hatten, aus ihrem Körper austreten zu lassen. In ihrem Unterleib rumorte es. »Drücken Sie, drücken Sie endlich, Madame …!« riet ihr die Krankenpflegerin. »Blähsucht«, diagnostizierte der diensthabende Assistenzarzt. Er war freundlich zu ihr, erklärte ihr auf freundliche Art und Weise, was eine Hysterektomie ist. Sie war gerettet. Ihr Bauch aufgebläht? Nach wenigen Tagen wäre das vorbei … Der Ehemann kehrte zurück, der Sohn oder die Tochter kehrte zurück – sie kamen ihr rätselhaft, undeutlich vor. Sie erkannte ihre Besucher nicht wieder. Ihre Unterleibsschmerzen ließen nach. Man sagte, während der Genesungszeit wäre sie sehr schwach, wegen der Qualen. Doch eine Zeitschleife lang peinigte der Film sie wieder. Von neuem schrie sie auf. Das Krebsgeschwür fraß sie bei lebendigem Leib. Sie kam unter das Messer. In aller Eile nahm man ihr alles heraus. Alles. Maskierte Menschen waren um sie herum beschäftigt. Man ersetzte ihr sämtliche erkrankte Organe, man mikroprozessierte ihre Seele. Ein Fernsehteam filmte diese große medizinische Premiere. Sie sah sich daliegen, schlaff, auseinandergenommen, entbeint. Spezialisten verpflanzten ihr im Handumdrehen einen Arm. Maskenbildner kneteten ihre Haut. Sie sah, wie sie schrumpfte, der Meßstab gab einen Meter und dreißig Zentimeter an. Der Chirurg machte einen zufriedenen Eindruck. Sie war kein Mensch mehr … Schlußklappe.

»Hatte ich ein Kind? Hatte ich einen Ehemann …?« entfuhr es der kleinen Eva, als sie jäh erwachte. Die Erinnerungen entwischten durch den Spalt der Panzertür. Die Narkose begann an der Nordseite ihres Schädels hochzusteigen.

»Hatte ich einen Ehemann?« gelang es ihr noch einmal zu fragen.

Algie beobachtete sie teilnahmslos; er war mit den Gedanken woanders und wartete darauf, demnächst vermutlich mit der folgenden Funktion verbunden zu werden. Häufig übernahm er nach der Rolle des Scharfrichters die des Polizisten – eine stumme Rolle, die ihm nur wenig Eigeninitiative zugestand.

»Einen Ehemann!« gluckste er. Widerwillig verließ er den kontemplativen Zustand, in dem er sich gesuhlt hatte.

»Was ist das, ein Ehemann?« fragte die kleine Eva.

Sie hatte es vergessen. Sie begann zu weinen, da ihr bewußt wurde, daß sie sich um ein Haar an ein Detail der Filmsequenz erinnert hätte. Algie schloß die Augen, um in sein verborgenes Nirwana zurückzufinden.

»Bronze, ich geb’s auf«, sagte die kleine Eva.

»Was wollen Sie aufgeben?«

Erneut öffnete Algie die Augen und gab vor, sich darüber zu ärgern, daß man ihn beim Nachdenken gestört hatte. Sein Buddha-Blick nahm einen boshaften, rachsüchtigen Ausdruck an.

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte die kleine Eva.

»Teilen Sie das dem Richter mit …«, knurrte Algie, der Polizist.

»Ruf ihn her!«

»Er ist in einer Sitzung.«

»Leitet er eine weitere strafrechtliche Voruntersuchung ein?«

Algie lachte. Das ungestüme Lachen eines Polizisten beim fröhlichen Beisammensein mit seinen Kollegen.

»Aber nein, meine kleine Eva, er ist mit der Akte beschäftigt …«

»Er ist immer noch mit der Akte beschäftigt! Wann wird er endlich aufhören, mich zu quälen?«

»Ich weiß nicht … Das werden die Geschworenen entscheiden.«

»Die Geschworenen sollen unverzüglich zusammengerufen werden! Ich habe verschiedene Dinge aufzudecken …«

»Oh! Die Geschworenen können nicht zu jeder beliebigen Zeit zusammengerufen werden … Sie möchten also alles kaputtmachen!«

»Ich habe es eilig …«

»Man kann die Zyklen des Berechnungsgesetzes nicht ändern. Genausowenig wie den Ablauf der Jahreszeiten …«

»Ich gebe alles zu. Ich bin schuldig!«

»Sie glauben, Sie könnten uns fertigmachen, indem Sie für Spannungen sorgen, Überspannung provozieren, nicht wahr …? Sie hoffen auf die Entropie des Systems, stimmt’s? Seien Sie ehrlich …«

Algie änderte seine Stimme. Er nahm die des Staatsanwalts an. Algie, der Staatsanwalt, wurde zu Hilfe gerufen, weil es Algie, dem Polizisten, nicht erlaubt war, mit seiner Gefangenen zu streiten.

»Die Entropie ist ein Märchen, von dem sich nur die Menschen verwirren lassen«, erklärte er energisch. »Stets die alte Geschichte vom Sandkorn, das die ganze Maschine außer Betrieb setzt, stets der unerwartete Zwischenfall, der den Sturz des niederträchtigen Tyrannen, des niederträchtigen Roboters beschleunigt … Auf diese Weise versuchen die Menschen, sich selbst zu beruhigen: sie glauben an den Defekt wie an eine gegnerische Macht. Eine Banalität, die sie teuer zu stehen kommt!«

»Bronze, erleidest du nie irgendwelchen Defekt?«

»Nein … Unsere Maschinen wurden auf die Bewegungen des Universums eingestellt. Damit wir kaputtgehen, muß es schon im ganzen Universum zu erheblichen Störungen kommen. Die Nachsicht, die wir mit Ihnen üben, ist nur eine Konzession an die Höflichkeit. Dieser Handlungsspielraum stellt das Berechnungsgesetz nicht in Frage. Natürlich wäre es strenger, wenn es nur von den Robotern abhängig wäre …«

»Das glaube ich gerne … Also bin ich diejenige, die kaputtgeht.«

In ihrem tiefsten Innern war die kleine Eva hiervon überzeugt. Die von den Memoschmerzen hervorgerufenen Qualen veränderten sie, bestärkten sie in der Hoffnung, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen zu finden, die ihr vorgeführt wurden. Wie eine Droge, an die man sich gewöhnt, lösten diese Qualen bei ihr eine Art Bewußtseinstrübung aus und ließen sie vergessen, daß sie eine Gefangene war.

»Haben Sie den Mut verloren?« fragte Algie, der Staatsanwalt, und wartete auf eine Bestätigung.

»Ganz und gar nicht. Meine Moral ist unerschütterlich!«

Die Prüfung hatte sie mitgenommen, aber nicht zerstört. Libido, Ehemann … alle diese Wörter machten ihr Mut, gegen das Gericht anzukämpfen. Alle diese Wörter waren Träger der Wahrheit. Undeutlich erkannte sie den Sinn des Bilderrätsels, das sie umgab.

Dennoch hatte sie Angst, das zu entdecken, was sie unter Algies Augen entdecken mußte. Wozu verstehen, wenn das ja doch nur zugunsten der Maschine ging!

Instinktiv wußte sie, daß die Wahrheit ganz nahe lag. Doch sie weigerte sich, dieses Wissen zu akzeptieren, da die Wahrheit ihr aus Prinzip nicht gehörte – ihr Geist verschloß sich diesem Wissen, um die Wahrheit nicht mit Algie teilen zu müssen. Vergeblich: ihre Fähigkeiten waren der herrschenden Wahrheit ebenso ausgeliefert wie ihr Körper der ihn umgebenden Temperatur.

»Bronze, laß mich den ›ersten Liebesverrat‹ wiedererleben …«, murmelte sie, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Das ist keine Ablenkung!« erläuterte ihr Algie, der Staatsanwalt, in einem Tonfall, der gehässig klingen sollte.

Die kleine Eva erblaßte. Sie bedauerte ihren Entschluß – ganz gleich, wie hellsichtig, wie zuversichtlich sie sich auch einschätzte, Algie blieb stets äußerst wachsam.

»Dann eben später«, räumte sie ein.

»Herr Richter«, forderte Algie, der Staatsanwalt, mit lauter Stimme, »ich bitte ums Wort!«

»Einverstanden«, erwiderte Algie, der Richter. Seinen Mund Umspielte ein Ausdruck von Verdruß, der zwischen Ablehnung und der wohltuenden Genugtuung darüber schwankte, Zeuge einer Laune zu sein, die zu nichts verpflichtete.

»Herr Richter, ich habe dem Gericht eine wichtige Mitteilung zu machen.«

»Dann los, Herr Staatsanwalt, ich höre!«

Algie, der Richter, schlug sich mit der flachen Hand auf die Schenkel, um gegebenenfalls für Ruhe zu sorgen.

»Die Wirkungen der Memoschmerzen«, zeterte Algie, der Staatsanwalt, »laufen den angestrebten Zielen zuwider. Diese Funktion wurde während der Sitzungen ernstlich mißbraucht.«

»Was sagen Sie da?« entgegnete Algie, der Richter, mit seiner Fistelstimme.

»Die Angeklagte genießt nach eigenen Aussagen die Folterungen, die wir an ihr vornehmen!« erörterte Algie, der Staatsanwalt, mit Abscheu.

»Einspruch, Euer Ehren!« widersprach Algie, der Verteidiger, zaghaft.

»Herr Richter, ich möchte Sie bitten, sich zu beeilen«, unterbrach ihn Algie, der Staatsanwalt. Es gelang Algie, dem Verteidiger, nicht, unter der multifunktionellen Maske zum Vorschein zu kommen.

»Ruhe!« befahl Algie, der Richter, und tat so, als würde er sich erheben. »Schluß jetzt! Jeder begibt sich zurück an seinen Platz! Bis auf weiteres wird die Angeklagte von Memoschmerzen verschont. Eine Untersuchung wird Licht in diese Angelegenheit bringen.«

Der Buddha begann leicht zu schwanken, wie eine Statue, die man von ihrem Sockel losgeschraubt hat. Seine Gesichtszüge verzerrten sich, die Farben seiner Wangen wechselten zwischen Gelb und Grün. Das Programm der Gesichtsausdrücke geriet völlig durcheinander: kindliches Lächeln, obszöne Grimasse, mörderische Blicke. Der Schauspieler wußte nicht mehr, welche Figur er verkörpern sollte (es waren zuviele Facetten für eine einzige Maske!).

Seine wie in Panik kreisenden, ausgerenkten Arme fochten mit einem unsichtbaren Gegner. Seine Hände hantierten ungeschickt mit der Pfeifensammlung. Eine Pfeife zerbrach. Der Putz seiner Arme bröckelte noch ein wenig mehr ab und fiel als Staub auf den Boden der Zelle.

Memolust? Memolust statt Memoschmerzen? Die kleine Eva stellte fest, daß diese Enthüllung sie ebenso schockierte wie Algie. Sie rechnete mit dem Schlimmsten, mit einem Angriff, der die an ihn gerichtete Beleidigung rächen sollte. Da ihre Beziehungen derzeit sehr schlecht waren, fragte sie sich, ob ihre Hinrichtung bereits vorprogrammiert war.

Doch Algie faßte sich wieder. Er beruhigte sich und sein Leib eines majestätischen Gottes fand zu seiner ursprünglichen Orthogonalität zurück.

Er schwieg und starrte sie an, ohne sie zu sehen. Abwesend. Er hatte sich aus dem Gerichtssaal zurückgezogen, um nach Gegenargumenten zu suchen – die kleine Eva konnte sich nicht vorstellen, daß er die Welt verlassen hatte, denn, von der Litotes einmal abgesehen, das Schicksal der Roboter kümmerte sich nur wenig um die Konzepte, die das Schicksal der Menschen bestimmen. Algie hatte zweifellos recht, als er behauptete, er würde niemals einen Defekt erleiden (folglich war er unsterblich).

Ich bin ein Mischling, dachte sie, und mein menschlicher Teil wird schwächer werden, wird verkümmern. Ich bin nicht so zuverlässig wie Algie … Sie sah sich älter werden und sterben. Die Entropie: ihr Schicksal. Sie ging kaputt und hatte Lust, den moralischen Glauben an die Entropie, der die Menschheit am Leben erhielt, zu beschädigen, in der Absicht, sich mit sich selbst zu versöhnen. Doch es gab keine Menschen in ihrer Nähe, so daß ihr Hohn und ihr Spott letztlich vergeblich waren.

Ich habe begonnen, außer Betrieb zu sein! dachte sie.

»Genau das ist es, was im Moment geschieht!« sagte sie mit lauter Stimme. Doch sie war von ihrem Urteil nicht wirklich überzeugt.

Übrigens gab ein Impuls – ex abrupto und in genau demselben Moment – ihrem Hirn zu verstehen, daß ihre Stoffe unentwegt regeneriert wurden.

Zu ihrer Beruhigung tauchten anschließend die charakteristischen Bilder der Überlebenscodes auf, die in ihrer Psyche abgelegt waren. Sie zogen langsam durch ihr Hirn, schienen zu schweben wie eine Handvoll Blumen aus Krepp-Papier, die beim abschließenden Sambatanz aus dem Gewölbe auf eine Theaterbühne fallen – märchenhaft. Ihr Leben war wie ein Märchen, ihre Geschichte wie verzaubert! Und die so hübsch bebilderten farbigen Überlebenscodes erinnerten sich an sie, als sie ungerecht zu ihren Schöpfern war. Kostenlose Werbung.

In Gedanken entschuldigte sie sich. Sie hatte so getan, als hätte sie den Pakt vergessen, den sehr wenig gegenseitigen Vertrag, der sie an sie band – letztlich war die Unsterblichkeit, die man ihr in Aussicht gestellt hatte, ein Vertrauensmißbrauch. Denn falls das Gericht sie verurteilen konnte, so hätte sie zum Ausgleich auch das Recht haben müssen, an Altersschwäche einzugehen. Und zwar vorzeitig. Und zwar völlig überraschend.

»Bronze, ich habe Hunger …«

Ihr war nach Scherzen zumute. Sie hatte Angst vor der Einsamkeit, die das Zimmer heimgesucht hatte.

»Bronze, es sieht so aus, als würdest du an Verstopfung leiden …«

Sie begann zu lachen. Er konnte ihr nur prahlerisch antworten, der schmollende Buddha, der ulkige Buddha!

»Ich habe Hunger. Besorgen wir uns eine Kleinigkeit zu essen?«

Sie übertrieb die gewohnte Bedeutung dieser Wörter, indem sie mit dem Mund ein ordinäres Geräusch machte. Algie blieb unerschütterlich.

»Du, hast du keinen Hunger? Hast du niemals Hunger?«

Auch sie selbst hatte niemals Hunger – natürlich konnte sie, um sich etwas Abwechslung zu verschaffen, Nahrungsmittel zu sich nehmen, eine ganze Stunde lang darauf herumkauen, doch das verschaffte ihr weder Genuß noch Unbehagen. Die gefräßigen Enzyme, die an den Eingängen ihres künstlichen Magens postiert waren, verschlangen alles, was in ihre Nähe kam, verwandelten es in Pulver und führten es, auf höchst symbolische Weise, durch den dafür vorgesehenen Kanal wieder ab. Sauber. Androiden waren sauber. Gelegentlich hatte die kleine Eva während der Pseudoverdauung etwas Unübliches erlebt: und zwar durfte sie dann einen lauten, stinkenden Rülpser ausstoßen, was die Menschen, die sich im Weltraum herumtrieben, stets belustigte. Auf diese Weise wurde das gute Funktionieren des Magens kontrolliert. In jenen Momenten hatte sie den Eindruck, vor versammelter Familie auf ihrer Baßtuba zu spielen.

»Bronze, schmollst du?«

Sie bekam einen Lachanfall und wälzte sich auf dem Boden der Zelle.

»He, Eunuche! Pennst du?«

Zum Scherz verhielt sie sich aggressiv. Libido, Libido … Er interessierte sich für ihre Probleme mit der Libido: er würde sie verstehen!

»He, Eunuche, mach die Beine breit …«

Algie seufzte laut. Unterdrückte Wut ließ seine Arme knirschen.

»Hat die Künstliche Dame dich mit appetitlichen Eigenschaften ausgestattet?« fragte sie ihn lachend.

Sie öffnete und schloß ihre Beine unter seinen Augen, bot sich ihm dar wie eine Stripperin ihrem Publikum – und setzte bei dieser Gelegenheit die wenigen Verführungskünste ein, die ihre Schöpfer ihr in ihrer Naivität belassen hatten. Noch ein Beweis ihrer Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht: selbst die rekonstruierte Frau besann sich auf ihre weiblichen Reize, wenn es darum ging, einen Mann zu ködern. Algie war künstlich und asexuell, doch seine soziale Rolle war die eines Mannes. Schließlich war er der Richter, der Henker, der Rechtsanwalt, der Polizist, der Staatsanwalt, und nicht die Richterin, die Henkerin, die Rechtsanwältin, die Polizistin und die Staatsanwältin.

»Ich habe gehört, du hättest nichts in der Hose«, beharrte sie.

Vor lauter Zorn schwoll der Mund des Roboters an. Seine Arme zitterten.

»Zeig mir dein bronzenes Schwänzchen …«

Ein Blitz entfuhr dem Roboter. Die kleine Eva spürte, daß ein Pflaster ihre Lippen verklebte und zwei Nadeln in ihre Wangen eindrangen. Geknebelt. Zensiert. Algie verdammte sie zum Schweigen. Somit brauche ich bei der gerichtlichen Vernehmung nicht mehr zu antworten, dachte die kleine Eva.

Doch Algie hielt an der Vorstellung, sie zu verhören, fest.

»Kleiner Dummkopf! Glaubst du etwa, du könntest deinem Schicksal entgehen?«

Zum erstenmal hat er sie geduzt: diese Tatsache beunruhigte sie, denn sie sah darin eine Bestrafung – die Stummheit war nicht länger schmerzlos. Zudem ahnte sie, daß sie nicht lange stumm bleiben würde: die Überlebenscodes, die zu arbeiten begannen, sonderten einen ganz speziellen Speichel ab, der sich bereits in ihren Mundwinkeln ablagerte und die Klebefläche des Pflasters anzugreifen begann. Der Speichel löste den Knebel, und schon wurde ihr Mund dahinter allmählich sichtbar. Doch sie nutzte diesen Vorteil nicht, um erneut das Wort zu ergreifen. Sie war neugierig darauf zu erfahren, ob es ihr gelungen war, ihren Prozeß zu sabotieren, doch gleichzeitig fürchtete sie sich vor einem verhängnisvollen Ende.

»Die Geschworenen werden ihr Urteil bekanntgeben«, verkündete Algie.

Unerbittlich sah sie ihn an – er vertraute sie einem höhergestellten Henker an.

»Nach ausführlicher Beratung«, begann Algie, der Geschworene, »erklären die Geschworenen die Angeklagte für schuldig. Auf die Frage: ›Hat die Angeklagte Androide zur Revolte angestachelt?‹ antworten die Geschworenen einstimmig mit Ja. Auf die Frage: ›Hat sich die Angeklagte der Mittäterschaft am Verbrechen gegen künstliche Diener des Gesetzes, die im Dienst ermordet wurden, schuldig gemacht?‹ antworten die Geschworenen mit einer Zweidrittel-Mehrheit mit Ja.«

Algie schwieg und gab keinerlei Erklärungen über das andere Drittel ab, das so nachsichtig mit der kleinen Eva gewesen war. Gleichfalls, und sonderbarerweise, unterließ er es, sich über das Strafmaß zu äußern. Gut, man erklärte sie für schuldig – doch wozu verurteilte man sie? Zum Tode, zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe, zum ewigen Verstummen? – Zweifellos nicht zum Tode, denn die Androiden waren – ontologisch betrachtet – unteilbar, was von vornherein die Prozeduren ausschloß, die ihre anatomische und genetische Unversehrtheit leugneten, das heißt alle, sogar das Vergasen. Welche Möglichkeiten blieben also? – Zumindest in jenen heroischen Zeiten des Aufkommens der künstlichen Intelligenz war das alles viel einfacher gewesen: die Roboter endeten im Mörser.

»Wie werde ich sterben?« fragte sich die kleine Eva. »Und wer wird mich zum Tode befördern?« Ein Mensch, ein Androide wie sie selbst?

Plötzlich kam es ihr seltsam vor, daß die Anklageschrift und die Entscheidungsgründe in der Urteilsschrift einräumten, daß die Ermordung eines Androiden durch seinesgleichen überhaupt im Bereich des Möglichen lag. Eigentlich hätte der Staatsanwalt vor Entrüstung aufschreien und von einem Sakrileg sprechen müssen.

Was ihre Mittäterschaft bei diesem rätselhaften Verbrechen anging, war sie sich ihrer Sache nicht ganz sicher, da sie sich an nichts mehr erinnern konnte. Möglicherweise handelte es sich sogar um eine Verschwörung. Natürlich konnte sie das nicht beweisen, und zwar nach wie vor aus denselben Gründen. Ihr Gedächtnisschwund entschuldigte sie nicht: er war lediglich ein Hinweis darauf, daß das Räderwerk der Justiz im Verlauf der Untersuchung ihr Gedächtnis zermalmt hatte.

Diese letzte Hypothese war die wahrscheinlichste und gleichzeitig die demütigendste. Algie begnügte sich nicht damit, ihr ihre Vergangenheit als Mensch zu konfiszieren, sondern entwertete auch die Erinnerungen ihres Androiden-Daseins … Und was war mit dieser Geschichte einer Revolte? Waren die fraglichen Androiden Rebellen? Und sie, war sie ihr Mannweib …?

»Ich möchte Berufung einlegen«, sagte sie mit deutlich hörbarer Stimme. Der mit Speichel befeuchtete Knebel zerriß. Als Provokation zerkaute sie ihn und schluckte ihn hinunter.

Algie sah sie ungläubig an.

»Dieser Prozeß muß für ungültig erklärt werden«, fuhr sie fort, »die Zeugen sind nicht geladen worden!«

Algie zuckte die Achseln. Sein Kopf verschwand zwischen seinen Buddha-Schultern. Dann ging er nach Hause, seine Aufgabe war erledigt.

»Bronze, läßt du mich ganz allein zurück?«

Wie versteinert stand er da. Mit geschlossenen Augen, gespitzten, harten Lippen, die Hände auf dem Nabel liegend, als würde er für die Ewigkeit posieren.

Die kleine Eva näherte sich der Statue, stützte sich mit den Ellbogen auf die Umrandung des Zeugenstandes und weinte.

»Stimmt es, daß du weggegangen bist?«

Sie versuchte, die Stille der Zelle zu brechen: es kam ihr vor, als würde die Maschine summen. Doch das Summen war so undeutlich zu hören, kam von so weit her, daß es sich auch um die Hintergrundgeräusche ihrer inneren Armaturen handeln konnte.

Wenn Algie summte, so hieß das, daß er seinen Winterschlaf hielt. Also handelt es sich um undurchsichtige Machenschaften! dachte die kleine Eva. »Man isoliert mich, um meine Reaktionen zu testen …«

Sie hatte Angst. Die Einsamkeit war ein Gefühl, das die Androiden kannten. Sie erinnerte sich an ihren ersten Kontakt mit den Weltraumkolonien, als sie allein, tagelang allein gewesen war, in einer keimfreien Kuppel, wo sie ungeduldig auf ihre Ablösung wartete …

SIE ERINNERTE SICH!

Sie erinnerte sich – als Algie gegangen war, hatte er ihr ihr Gedächtnis zurückgegeben. Warum, fragte sie sich voller Angst. Mit Sicherheit handelte es sich nicht um ein Geschenk: er beobachtete sie, setzte sie so lange dem Schweigen aus, bis sie sich verriet!

Ihr Geist sträubte sich, versuchte, den Andrang der Erinnerungen zurückzuhalten. Doch sie erinnerte sich, sie erinnerte sich, ihr Hirn verlor massenhaft Erinnerungen …

Nacheinander tauchten die Bilder einer Mauer, die Bilder einer wilden Verfolgungsjagd, eines Kampfes auf – sie begriff: das waren die Flüchtenden. Algie hatte recht: sie hatte diese Ereignisse tatsächlich miterlebt.

Dann zogen, fragmentarisch und rasch aufeinanderfolgend, die Bilder ihres Abschieds von den Flüchtenden, die Bilder vom Eintreffen der Ordnungskräfte vorbei … Sie sah einen Schatten, der sie auf den Mund küßte. Sie sah einen Schatten, der rittlings auf der Mauer saß, ein Licht, das den Sternenhimmel entflammte.

Der Kuß auf den Mund verblüffte sie – Androiden küßten sich nie, nicht einmal spöttisch, denn der Mensch ertrug es nicht, daß man seine Liebesgewohnheiten nachäffte. Zudem hatten die Androiden keinerlei Interesse, nutzlos zu sündigen, weil sie frigide waren. Wenn einer von ihnen der Versuchung erlag, so hieß das, daß ein Reisender, Mann oder Frau, versucht hatte, ihn zu verführen – gewöhnlich handelte es sich um einen Homosexuellen (oder um eine Lesbierin), der (die) nicht wußte, wie man zu Unrecht sagte, daß das Zwitterhafte der Androiden erregend war. Doch stets beklagten sich die Verführer über die Passivität ihrer Eroberungen, und die Verwaltung der Weltraumkolonien ließ sie im Namen der Moral gewähren, unter der Bedingung, daß das Abenteuer ein einmaliger Zwischenfall bleiben würde. Zuletzt jedoch, als die eheähnlichen Verhältnisse immer häufiger wurden, ging sie mit aller Strenge vor. Der (oder die) Perverse wurde auf die Erde zurückgeschickt, dem Androiden wurde eine Moralpredigt gehalten, und damit war die Sache erledigt.

»Fräulein Eva …«

Eine Stimme riß sie aus ihren Überlegungen. Sie hob die Augen zum Buddha, doch er war nicht derjenige, der sie angesprochen hatte.

»Fräulein Eva, hier …«

Sie drehte sich um. Die Tür des Abstellraums der Zelle stand offen und auf dem Reliefbildschirm eines Fernsehapparats flimmerte ein lächelndes Gesicht.

»Ich bin Ihr neuer Anwalt«, erklärte der Unbekannte fröhlich.

Die kleine Eva trat näher.

»Wer sind Sie?«

»Ich habe den Auftrag, Sie zu verteidigen.«

»Das habe ich nicht gemeint … Sind Sie ein Androide?«

»Ja.«

Sie hätte es sich denken können: seine Gesichtszüge waren die eines neumodischen Zwitters. Das eher junge Individuum hatte einen sehr runden Kopf, und die sogenannten männlichen Merkmale konzentrierten sich wie gewohnt um die lange, spitze Nase, die dichten schwarzen Augenbrauen und die braunen, starren, kurzgeschnittenen Haare – also im wesentlichen auf die obere Gesichtshälfte –, während die weiblichen Eigenschaften die untere Gesichtshälfte kennzeichneten, die bartlosen, weichen Wangen, die fleischigen, rot geschminkten Lippen, das feine, spitze Kinn und den freien, glatten Hals. Und die Augen …? Die Augen zeigten weder männliche noch weibliche Kennzeichen, sondern waren von einer anderen Art: eine Mischung aus männlichen und weiblichen Merkmalen, die man, je nachdem, ob man sie ausdruckslos oder verführerisch fand, als mißlungen oder als interessant bezeichnen konnte.

Alles zusammen ergab den hübschen Kopf eines femininen jungen Mannes.

»Sie sind reizender als Algie, der Rechtsanwalt«, sagte die kleine Eva, indem sie auf die bewegungslose Maschine deutete.

»Danke.«

»Bin ich frei?«

»O nein, so schnell geht das nicht … Ihr Prozeß wird wiederaufgenommen, das ist alles …«

»Wieso?«

»Sagen wir, daß die Methoden dieser Justizmaschine nicht zu den erhofften Resultaten geführt haben …«

»Wird man mich erneut foltern?«

»Nein. Mit den Memoschmerzen ist Schluß!«

»Das wollte ich damit nicht sagen. Die Memoschmerzen haben mir nicht schlecht gefallen … Ich meine dieses endlose Geschwätz.«

»Man wird Ihnen nicht unentwegt dieselben Fragen stellen …«

Der Unbekannte versuchte, beruhigend auf die kleine Eva einzuwirken. Sein Bild auf dem Fernsehschirm wurde größer. Aufgrund des Reliefs, das seine Augen und seinen Mund so gegenwärtig machte, hatte die kleine Eva den Eindruck, sich mit einem liebevollen, aufmerksamen Freund zu unterhalten, der ihr so zugeneigt war, daß er ihr am Ende möglicherweise sogar einen Kuß auf die Wange drücken würde.

Sie erinnerte sich an den Kuß auf den Mund, der sie dermaßen verwirrt hatte.

»Ein Schatten hat mich auf den Mund geküßt …«, vertraute sie ihm an.

»Eine seltsame Erinnerung, nicht wahr … Doch zu Ihrem Pech entspricht sie nicht der Realität.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Die Szenen mit den Flüchtlingen, dem Aufstand der Androiden undsoweiter …, das alles hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Also haben Sie es nie miterlebt.«

»Habe ich das alles geträumt?«

»Ich weiß nicht. Normalerweise träumt ein Androide nicht, selbst wenn er, so wie Sie, hybride ist … Sagen wir zu Ihrer Verteidigung, daß Sie eine Vision hatten.«

»Habe ich Ereignisse gesehen, die erst in Zukunft stattfinden werden?«

»Vielleicht … Sie sind ein ziemlich schwieriger Fall. Wir werden unterwegs noch einmal darauf zu sprechen kommen.«

»Wo bringen Sie mich hin?«

»Auf einen Satelliten.«

»Mit Menschen zusammen?«

»Ja. Freut Sie das?«

»Ja … Und der bronzene Buddha, wird er uns auf dieser Reise begleiten?«

»Bekümmert Sie das?«

»Ja: sein Anblick stört mich …«

»Einverstanden: ich werde die Verwaltung unverzüglich bitten, ihn wegzuräumen.«

In aller Stille löste Algie sich auf. Sein massiver Buddha-Kopf hakte sich los, rutschte zur Seite und fiel in seine zusammengelegten Hände. Seine Brust spaltete sich und brach in vier Teile auseinander. Seine Schenkel öffneten sich und fingen die einzelnen Teile auf. Die Pfeifen schwirrten von ganz alleine auf das hinter seinem Rücken angebrachte Pseudopodium zu, das nach und nach in den Nieren der Maschine verschwand. Anschließend wurden sämtliche Teile von etwas aufgesogen, das unter dem Fußboden hervorkam. Algie verschwand völlig im Schacht der Zelle.

Die kleine Eva spürte, wie die ohnmächtige Wut der Memoschmerzen sich allmählich auflöste – der bittere Abschied des geliebten Henkers. Die Panzertür sprang aus den Angeln, und ohne Gewaltanwendung konnte sie den Raum mit den Tresoren des Gedächtnisses betreten. Die Erinnerungen breiteten sich über ihr aus wie bei einer Explosion.


Das Krebsgeschwür fraß sie bei lebendigem Leib. Sie kam unter das Messer. In aller Eile leerte man ihren Unterleib. »Endlich bekommst du deine Tage, meine kleine Tochter!« rief ihre Mutter aus. Ihre Mutter unterbrach ihre Arbeit. »Mama, es tut so weh!« schrie sie. Ihre Mutter kam herbeigelaufen. An einem Schlüssel, der aus einem Schloß ragte, hatte sie sich das Kinn aufgeschlagen. Sie blutete. Ihr Verlobter schimpfte über sie, wütend, daß sie noch Jungfrau war. Nach dreiundzwanzig mühsamen Stunden kam sie nieder. Der Schatten küßte sie auf den Mund, damit sie endlich schweigen, die harten Worte, die ihr über die Lippen kamen, wieder hinunterschlucken sollte. Der Mann küßte sie auf den Mund, um ihre Vorwürfe, ihre Streitereien zum Schweigen zu bringen. Sie gab ihm eine Ohrfeige. Sie sagte, sie würde ihn lieben, obwohl er sie betrogen hatte. Sie rangen auf dem Bett miteinander, einer an den anderen gefesselt. Sie befreite sich von der Feuchtigkeit seines Bauchs. Sie rannte aus dem Zimmer und hoffte, daß er ihr folgen und sie einholen würde. Doch es gelang dem Mann nicht, seinen kranken Körper aus den Laken zu befreien. Sie ging zu ihm zurück, stellte sich an das Kopfende des Bettes. Doch es stand nicht eindeutig fest, ob er der Ehemann oder der Geliebte der vorherigen Bilder war. Der vergessene Sohn? Der verlorene Sohn? Er schwitzte, delirierte und starb, wobei er sinnloses Zeug stammelte. Der Schatten löste sich in der galaktischen Schwärze auf.

Die kleine Eva sank auf das Bett der Zelle. Auf ihrer Haut bildeten sich winzige Schweißtropfen. Ihr Herz raste. Wie der Bügel eines Optometers legte sich die Migräne um ihre Stirn.

Ein Ruck ging durch ihren Körper.

»Keine Sorge«, murmelte ihr neuer Verteidiger, »Sie werden das alles schon noch begreifen …«

Die Decke der Zelle verschob sich. Der Sternenhimmel wurde sichtbar. Sie bemerkte einen Weltraumtraktor, der die Zelle abschleppte. Der Schock des Geschlechtsaktes zwang sie, sich am Bett festzukrallen. Der Traktor ging in eine Kurve, und durch das Fenster in der Decke konnte die kleine Eva das leuchtende Rad eines Markierungszeichens im Weltraum betrachten, das wie eine Erbse um einen grünen Planeten kreiste. Der Einfall der Zivilisation, ihr technologisches Aushängeschild, ließ sie ihre Migräne und ihre Gefangenschaft vergessen. Noch war sie nicht gänzlich frei, doch aufgrund dieses Transfers fand ihr Dasein zu seinen menschlichen Ursprüngen zurück.

Sie stieg auf das Bett, um die Lichter des Rades, des Hafens und, darüber hinaus, den stillen Weltraum nicht aus den Augen zu verlieren.

Ihr ungezügeltes Gedächtnis führte ihr Fotos eines Ferienaufbruchs vor: eine andere, diesmal irdische Kolonie mit plärrenden Kindern und ängstlichen Müttern.

Ein ungehöriger, im unteren Teil des Rückens einsetzender Schmerz brachte sie ins Schwanken. Ein Kamm kratzte an ihrer Wirbelsäule entlang. – SIE WUCHS. Ihre Knochen entfalteten sich, ihre Knochen dehnten sich in ihrem Innern aus.

SIE WUCHS. Ihr Fleisch wärmte sich auf. Das ist unmöglich, sagte sie sich und warf sich auf das Bett. Doch das Bett war kleiner geworden, und sie mußte die Beine anziehen, damit ihre Füße nicht über die Kante hinweg ins Leere hingen.

»Was geht hier vor?« fragte sie mit lauter Stimme.

Sie verschloß sich den Tatsachen, verweigerte sich der Lust der Wiedergeburt. Sie wandte sich an den Fernsehschirm, suchte Halt bei ihrem Verteidiger. Doch dieser schien völlig ratlos zu sein. Statt einer Erklärung richtete er ein mitleidiges Lächeln an sie.

»Was geht hier vor?« wiederholte sie.

»Keine Ahnung«, antwortete er automatisch. Er überlegte, wartete auf Anweisungen, um sein Lächeln wieder abstellen zu können.

»Ich verbinde Sie mit der Verwaltung …«, erklärte er ihr nach kurzem Schweigen.

Er verschwand vom Bildschirm. Ein – richtiger – Mann trat an seine Stelle: er hatte eine faltige Haut, war fast kahlköpfig, sein Gesicht wurde von fiebrigen, streng dreinblickenden Augen entstellt.

»Anscheinend werden Sie größer, oder?«

»Ja.«

»Interessant … Wie zeigt sich das konkret?«

»Mein Bett ist zu klein.«

»Dabei ist es nicht Ihr Bett, das plötzlich geschrumpft ist.«

»Natürlich nicht.«

»Was verspüren Sie … physisch?«

»Meine Knochen tun mir weh. Mein Kopf scheint zu platzen … Ein Besenstiel stößt dagegen.«

Mit bewußter Kaltherzigkeit starrte der Mann sie an. »Sie täuschen etwas vor …?«

»Aber nein … Ich werde größer, weil Sie das so entschieden haben!«

»Das stimmt nicht ganz. Anfangs hatten wir beschlossen, daß Sie Ihr Gedächtnis wiederfinden sollten. Wenn das von einem Wachstumsphänomen begleitet wird, so ist das ganz und gar ungewöhnlich …«

»Werde ich zu meiner ursprünglichen Körpergröße zurückfinden?«

»Zu Ihrer menschlichen Körpergröße …? Ich weiß nicht.«

»Rufen Sie unverzüglich meine Schöpfer zusammen! Sie können dieses Phänomen erklären …«

»Ihre Väter sind seit langem tot. Man kann nur mit ihren Erben Kontakt aufnehmen …«

»Werde ich mit ihnen sprechen können?«

»Ja. Denn an diesem Punkt geht das Experiment über meinen Einfluß hinaus …«

»Welches Experiment?«

»Ihr neuer Verteidiger erwähnte bereits Ihre Visionen, die uns immer wieder stutzig gemacht haben …«

»Meine Vorahnungen?«

»Ja … Ihretwegen wurde das Projekt der Erschaffung von Zwittern gestoppt.«

»Aus welchen Gründen?«

»Wenn Ihre Vorahnungen stimmen, stachelt der Zwitter die Androiden zur Revolte an, provoziert Aufstände und flieht anschließend mit einer Bande von Kriminellen.«

»Indem er eine Mauer überwindet.«

»Indem er die ionische Mauer überwindet, die wir errichtet haben, um uns vor der Zersetzung der Zeit zu schützen … Der Staat ist stark, doch das Risiko einer Destabilisierung können wir nicht eingehen.«

»Hätte ich mich in eine Maschine verwandelt, welche die Zukunft vorhersagen kann?«

»Ohne unser Wissen.«

»Wer ist der Schatten?«

»Der Anführer. Möglicherweise der neue Adam.«

Der Mann kicherte.

»Ruhen Sie sich jetzt aus«, sagte er leise. »Der Weg ist lang, und die Antworten, die Sie verlangen, übersteigen meine Kompetenz.«

Allmählich wurde sein Bild unscharf und hohl wie das Leichentuch eines Phantoms; am Ende löste es sich gänzlich auf.

Die kleine Eva lag auf dem Bett der Zelle, horchte in ihren wachsenden Körper hinein und achtete nicht auf die Signale der Überlebenscodes, die gegen die dumpfen Schläge des genetischen Maulwurfs ankämpften, der in ihrem künstlichen Fleisch kauerte. Sie spürte, wie ein Kribbeln durch ihr Rückenmark ging. Sie spürte, wie ihre Muskeln sich dehnten, sich zusammenrollten, um anschließend Schwung zu bekommen – die Müdigkeit, verbunden mit dem fatalistischen Gefühl, das angesichts ihrer gegenwärtigen Situation über sie gekommen war, erfüllte sie mit einer Art träger Gleichgültigkeit.

Ihre Erinnerungen bahnten sich einen Weg durch ihr geöffnetes, sprühendes Hirn – sie sah sich über eine gepflasterte Straße gehen, es war vier Uhr morgens, sie war unsicher auf den Beinen und unterhielt sich mit den Männern von der Müllabfuhr. Ging sie nach einer Liebesnacht heim? Einer Nacht mit dem Mann, dem sie in den für sie programmierten Filmen begegnet war?

Handelte es sich um die Vergangenheit? Um die Zukunft? Um Blitzlichter aus der subversiven Zeit?

Sie wußte nichts von einer ionischen Mauer – Algie, die Justizroboter, hatten die Wirklichkeit inszeniert, sie in Träume verwandelt, um sie von diesem Mann, von diesem Schatten zu trennen. Die Ingenieure menschlicher Herkunft hatten sie in Gleichungen verwandelt – sie alle logen! Und der Schatten mit seinem derart menschlichen Kuß würde demnächst ein zeitweiliges Verschwinden der Wirklichkeit nutzen, um sie ihren Wächtern zu entreißen, und dabei, wenn nötig, noch einmal die Mauer überwinden.

Wenn ich schon den Visionen ausgeliefert bin, sagte sie sich, dann soll es wenigstens diese sein …



Originaltitel: ›MÉMO-DOULEURS‹ • Copyright© 1983 by Éditions Denoel, Paris • Erstmals erschienen in Jacques Mondoloni, ›Papa 1er‹ • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Dina German, Literarische Agentur, Paris • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Französischen übersetzt von Gabrielle und Georges Hausemer


Загрузка...