Die Maschinen blinzelten mit rötlichen und grünen Augen in die schattenlose Abenddämmerung und füllten das Laboratorium mit stillem, ununterbrochenem Summen. »Also das ist es?« sagte Gal und zeigte auf den leuchtenden Würfel auf dem Tisch. »So ein Spielzeug. Du hast mir doch versprochen …«
»Ja das habe ich«, unterbrach ihn der andere und sah ihn scharf an. »Ich brauche dich doch nicht an dein eigenes Versprechen zu erinnern?«
»Daß ich schweigen werde?«
Der Wissenschaftler antwortete nicht und trat zu dem Würfel. Er heftete seinen Blick auf die durchsichtigen Wände des Geräts. Sie schwiegen.
Mehr oder weniger war es ein einfacher Würfel. Er schnitt prosaisch mit seinen scharfen Rändern durch den Raum, zerdrückte die Schönheit durch die kalte Mathematik der rechtwinkligen Schnittlinie seiner Kanten. Das war die Oberfläche. Nach längerer Beobachtung drang sein Blick durch die matten Wände und konnte sich schon nicht mehr losreißen. Etwas hinderte das Auge, die glatten, leuchtenden Wände zu verlassen und aus dem Netz der Kanten und Winkel zu flüchten. Gal senkte nur mit Mühe den Blick.
»Was ist los mit dir?« fragte der Wissenschaftler.
Der Angesprochene lächelte beschämt und schüttelte den Kopf. »Ach, das hat nichts zu bedeuten, das vergeht wieder.«
»Also du auch?« sagte der andere langsam.
»Es ist … lebendig!« stieß er mühsam hervor, als würde er gegen eine Last ankämpfen.
Das Gerät bannte erneut seinen Blick und hielt ihn fest in dem Alabasterlicht, das in den Linien eingesperrt war. Ja, es lockte ihn auch eine eisglatte Fläche, unter der sich Nebelwürmer und Reigen von Funken ringelten. Im Innern pulsierte es blaß. An einigen Stellen kumulierten die Gaswolken in schwellende und gärende Flocken, anderswo blitzten helle Strömungen. Schatten tappten wie Kraken, die eine Wasserfinsternis umarmten. Nein, berichtigte er sich, das ist nicht lebendig.
Eine Anhäufung von leuchtendem Gas, das in einer würfeligen Kammer mit durchsichtigen Wänden verteilt ist. Das ist auch alles.
»Ja, sicher«, wiederholte der Wissenschaftler seinen Gedanken, »lebendig ist es nicht. Aber es ist auch keine tote Materie.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Damit will ich sagen, das alles ist keine leblose Substanz.«
»Ein Gas im elektromagnetischen Feld?«
Der Wissenschaftler zuckte die Achseln. Mit hastigen, nervösen Bewegungen zeigte er noch einmal auf das Gerät. »Das hier«, umkreiste seine Hand die Würfel, »hier drin also, ist der ganze Kosmos.« Er griff in seinen schneeweißen Bart. »Und ich beobachte ihn.«
»Also doch tote Materie.«
»Gas. Vor allem Wasserstoff, Helium und andere Elemente in einem entsprechenden Verhältnis. So ein kleines Modell. Ja, es hat hier drin sein Gravitations- und elektromagnetisches Feld, aber ich greife nicht ein. Ich beobachte und sehe zu.«
Er zeigte auf einen ovalen Bildschirm an der Mauer des Raums, auf einen kleinen Roboter, der einer glitzernden Spinne ähnelte. Sein Kopf aus zahlreichen kleinen Kristallen zusammengesetzt, rutschte in einer Schiene an der Peripherie des Würfels hin und her.
»Mein Auge«, sagte der Wissenschaftler. »Ein Superultramikroskop. Der Oberste Rat weiß darüber nichts. Du wirst schon begreifen, warum.«
Gal wußte, daß der Rat gegenüber den Marotten seiner Mitglieder nachsichtig war, also begriff er nicht: warum sollten sie nichts darüber wissen? Aber er sagte nichts und schwieg weiter.
»Das da«, sagte sein Freund und zeigte auf den Kameraroboter, »erlaubt mir einen Rundblick in die Tiefe dieser Mikroweit. Der Bau seiner Atome ist dem Bau unseres großen Kosmos analog. Die Sternensonnen sind durch die Atomkerne ersetzt, die Planeten durch Elektronen. Die Zeit kann ich selber nach meinem Belieben regulieren. Heute habe ich mir bei der Wand des Würfels ein Atom ausgesucht«, fuhr er fort und hielt den Roboter an. »Da ist es.«
Das Laboratorium tauchte in ein graues Dunkel. Die Rubin- und Smaragdaugen der Computer blitzten auf. Der Würfel auf dem Zentraltisch phosphoreszierte in mattmilchiger Beleuchtung und der spinnenähnliche Roboter glänzte auf ihm wie ein lebendiges Auge.
Sie setzten sich in die Sessel vor dem Bildschirm. Ein feiner Klang ertönte, und in dem ovalen Bildschirm zeigten sich Wellen. Gal kam es zunächst so vor, als er durch die gläserne Wand in das wirbelnde Innere des Würfels blickte. Allmählich, als der Roboter das Bild vergrößerte, wurden die Bewegungen der Fünkchen und Flöckchen langsamer, und auch der schwindelerregende Tanz der Teilchen um die glühenden Kerne bremste sich ab. Die Schwaden wurden kleiner und lichteten sich, die Entfernungen unter ihnen wurden größer, die Weltsysteme krachten ineinander und verfielen in eine graue Dämmerung. Mit verhaltenem Atem beobachtete Gal, wie das Dunkel zwischen den Teilchen dichter wurde, wie das Licht der Kerne-Sonnen an Kraft gewann. Das Kameraauge nagte sich durch dieses Chaos, fing die Sternenhaufen der Sonnen in sein Blickfeld ein, dann auch die Halsbandketten der Satelliten und ließ sie wieder gleichgültig vorbeihuschen.
»Aber das ist doch – tatsächlich – das All!« sagte er schweratmend.
»Und da ist unser Atom«, sagte der Wissenschaftler und lächelte in seinen Bart hinein.
In dem tiefen Dunkel schien ein weißer Punkt auf, wurde größer und wuchs. Nun war es kein Punkt mehr, sondern eine golden- und orangefarben leuchtende Scheibe. Als sich das Kameraauge ihr nahte, verwandelte sich die Scheibe in eine zottige Feuerkugel, aus der Funkensprudel und Lichtgeysire sprühten. Beides ging in der Stille des ringsum liegenden Raumes taub und leise unter, verlor sich in ihm wie das Schweigen in der Lautlosigkeit.
Der Wissenschaftler beugte sich über das Pult. Seine Finger tanzten auf der Tastatur.
»Das ist der Kern – die Sonne«, sagte er.
»Und die Planeten?«
Die strahlende Scheibe schob sich seitwärts, und das Auge fiel in die Dunkelheit. Ja, die Finsternis war überall, aber auf ihrem Hintergrund leuchteten Myriaden von winzigen Funken, als hätte jemand ein schwarzes Gewebe mit Silberstaub bestreut. Der Raum war doch nicht leer.
Ganz nahe hastete ein kugelförmiger Körper vorbei. Es war zwar nur ein Augenblick, aber die Roboterkamera stimmte eilends die Lichtwellen mit der Bewegung des flüchtenden Teilchens ab und machte alles schärfer.
Das Teilchen blieb im Raum stehen.
Vergrößerung: Die rote und die schwarze Kugel hingen wie eine erloschene Lampe in den Strahlen des unsichtbaren Kerns. Noch eine Vergrößerung.
Sie beobachteten eine rundliche Gegend der wüsten Welt, die stürmisch war vor lauter Leben in der leblosen Materie. Hier herrschten Urkräfte. Wasserfälle von Funken und Lava spritzten in die Höhe, bildeten Krater, Gebirge und Bergschluchten, auf deren Boden das flüssige Metall kochte und Feuerflüsse abkühlten.
»Die Kugel dreht sich fast überhaupt nicht um ihre Achse, deswegen ist sie von dieser Seite her so heiß«, sagte der Wissenschaftler. Der Planet sprang unter ihnen, verschwand im Dunkel, erschien wieder in einem Feuerkranz der Protuberanzen aus dem zentralen Kern. Im Bruchteil einer Sekunde konnte man die in ewiger Nacht und stillem Gelände steifgewordene, zerklüftete Bergspitzen erkennen.
»Auf dieser Seite«, sagte der Gelehrte, »herrscht fast absolute Kälte. Die Temperatur des Alls.«
Es ist unglaublich, dachte Gal, was man alles aushalten kann, ohne wahnsinnig zu werden.
»Und da ist eins der Teilchen auf der zweiten Umlaufbahn«, unterbrach der Freund seine Gedanken.
Aus dem Brunnen der Finsternis stieg das Phantom einer struppigen Kugel. Den Pelz ihrer Oberfläche durchlief ein Beben, als würden in ihm Unmenge von Parasiten wimmeln. Nun eine nähere Aufnahme: Der Pelz verwandelte sich in eine braungraue Gasatmosphäre, die gigantische Stürme durchfurchten. Gal stellte sich im Geiste das röchelnde Heulen der Orkane und das Gerassel der zusammengebrochenen Sandwände vor – was versteckte sich alles unter dieser Wolkendecke?
»Und die Planetenschale?«
Im Dickicht des Bartes blitzte ein Lächeln auf. »Kann man nicht feststellen.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenigstens nicht damit«, er zeigte auf den ovalen Bildschirm. »Eine Welt des ewigen Brodems.«
Gal schüttelte nur den Kopf. Der Gelehrte sprach:
»In unserem Kosmos sind die ersten zwei Bahnen der Elementarteilchen mit mathematischen Formeln der Materie besetzt. Interessanter sind deswegen die entfernteren Globen. Zum Beispiel dieser da …«
Das zottige Ungeheuer verschwand in der funkelnden Finsternis, und in das Feld des Superultramikroskops segelte eine grünliche Kugel mit der bläulich-goldenen Aureole der Atmosphäre. Als sie näher kamen, füllte sie den Bildschirm immer mehr. Sie drehte sich träge um ihre Achse, und der zentrale Kern zog auf dem Wasserspiegel der Ozeane eine brennende Lichtfurche, bis die Augen wehtaten.
»Sieh mal einer an, wie schön sie geworden ist«, sagte der Wissenschaftler lächelnd.
Wie die Sekunden und Minuten verflossen, änderten sich die Umrisse der Kontinente. Da und dort blitzte ein Licht auf und erlosch wieder. An seiner Stelle wuchs und verschwand eine Rauchblase aus Miniaturvulkanen. Die Küstenlinie schob sich vor den tastenden Zungen der Strömungen hin und her. Umgekehrt verschlang der Ozean den Kontinent, und aus den Sandflecken der Wüsten stiegen Berge auf, so lange, bis auf ihren Gipfeln das Eis zu funkeln begann. Ein monumentaler Anblick, der Kampf der Elemente, zusammengepreßt in einen mikroskopischen Bruchteil der Raumzeit.
»Wenn ich jetzt den Blick schärfer einstellen würde, dann würdest du nur Gespenster sehen – ein Schatten- und Farbenspiel«, sagte der Wissenschaftler, und ergänzte für sich: »Ich muß die Zeit verlangsamen.«
Auf dem Bildschirm erschienen kleine, mit schattenartigen Beinchen wedelnde Spinnen. Ihre Körper blähten sich unwahrscheinlich schnell auf, verschlangen die Fläche, bis sie den ganzen Bildschirm ausfüllten. Dann – als würde sie platzen – zog die weiße Blase ihren kurzatmigen Bauch auseinander und schluckte die ganze Fläche hinunter, ein milchiges Grau hüllte die ganze Fläche ein.
»Bis sich der Roboter adaptiert, das dauert eben eine Weile«, flüsterte der Gelehrte, zitterte vor Aufregung und zupfte das Ende seines Bartes.
Aus dem milchigen Schwaden entstanden länglich geformte Schatten. Sie platzten und wurden in Milliarden von scherbenartigen Fünkchen zertrümmert. Die Fünkchen erloschen, die Schatten vereinigten sich mit den Rändern des Bildes und schmolzen wie der Reif unter dem Atem der Sonne. Dann erschienen Farben. Überwiegend Gelb, das sich in Orange verwandelte. Das kam andeutungsweise aus der rechten oberen Ecke, von wo es langsam zur entgegengesetzten Ecke durchdrang.
Es war eine traurige Gegend, und die Stille lag auf ihr wie eine Scheibe aus Blei. In den safranäugigen Sümpfen zwischen den Ästen der merkwürdigen Pflanzen blubberte es zum opalisierenden Himmel, der einzige Ton, der ab und zu die bleierne Ruhe durchbrach. Die Kanten der lederartigen Blätter waren schwarz, und das Licht floß in die Mitte der Blätter, wo es sich bronzen verfärbte. Über dem Horizont schwammen die grauen Geister des Wassernebels und umarmten die rötliche Halbkugel der untergehenden Sonne. Darüber und überall Totenstille. Der Gelehrte runzelte die Stirn. »Zu wenig Bewegung«, knurrte er und drückte vorsichtig die mittlere Taste.
Auf den ersten Blick hatte sich nicht viel verändert. Dann doch. Die safrangelben Tropfen flossen aus einem schwarzen kammartigen Kopf hinunter. Auf beiden Seiten starrten stumpf unbewegte Augen, wie aus Glas. Es war in ihnen Leben, dann und wann. In der Platte des Sumpfes klaffte eine Wunde, der Kopf ging in einen schlangenartigen Hals und einen riesengroßen eiähnlichen Körper über. Die ledernen Schulterplatten des Hinterkammes fielen auf die Seiten, klatschten um die dicken Hüften und erzitterten, als das Ungeheuer nach Luft japste. Es war kein Laut zu hören, doch das Bild war vielsagend.
Die Sonne ging unter, die Opalfarbe verwandelte sich ins Blutrote, die Schatten wurden dunkler und liefen über das Wasser und die Büsche von phantastischen Pflanzen. Der Saurier zeichnete sich mit den scharfen Platten seines Kamms scharf gegen die dunkler werdenden Farben des Abendhimmels ab. Der Kopf auf dem langen Hals schwankte von einer Seite zur anderen. Der Abend mit seinen Schatten weckte in dem Wassersaurier Unruhe.
Ein leichtes Läuten und harmonische Töne erklangen. Der Bildschirm wurde dunkler, und das Mosaik der Strahlen leuchtete auf und erlosch wieder, als das Gerät die Epochen übersprang.
»Die Wirbeltiere«, flüsterte der Wissenschaftler und streichelte seinen Bart.
»Das soll Leben sein? Aber was für Leben! Worin unterscheidet es sich vom anorganischen Rasen der Elementarkräfte, von den elektromagnetischen und atomaren Stürmen der Materie? Nur dadurch, daß es gedämpfter ist und seine Vibrationen rhythmischer sind? Durch die Zellenwand begrenzt, unvergleichlich verletzbarer und kürzer? Dieses Ungeheuer – das ist ein Anfang – vielleicht. So fing es auch anderswo an …«
»Und was weiter?« fragte Gal, schon ganz unbeherrscht, »das ist wohl nicht das Ende des Experiments, oder?« Und als sein Gegenüber weiter schwieg, rief er: »Also sprich schon!«
»Nein, es ist noch nicht zu Ende, Gal. Die Materie besinnt sich nach einem gewissen Plan selber.«
»Tiere?«
»Die Tiere haben die Gabe nicht!«
»Eine Gabe?«
»Jawohl. Die Gabe des Fragens. Wenn das Kind nicht fragt, ist es kein Mensch.«
»Also Fragen«, flüsterte Gal nachdenklich. »Es kommt doch darauf an, wonach es fragt.«
»Nein, darauf kommt es nicht an. Es genügt, daß es fragt. Was ist der Baum, was ist der Tisch, was ist die Mutter, und was ist die Welt. Das Garnknäuel der Zeit haspelt seine Fragen ab – erst sobald du fragst, woher du kommst und wohin du gehst, wirst du zum Menschen.«
Der Bildschirm blinzelte erneut. Die Nacht. Das dunkle Himmelsgewölbe mit Tausenden von Funken. Zuerst glaubte Gal, der Apparat beginne von neuem, von der milchigen Periode zu den Atomgalaxien. Aber nein. Es war tatsächlich das Firmament – und es waren tatsächlich – Sterne. Die Zähne der Felsen fraßen sich ein in die Schüssel des schwarzen Himmels. Am Fuß der Felsen huschten Schatten herum. Sie erstarrten, als der Roboter die Vergrößerung präzisierte.
Ein Funke. Das rote Flämmchen loderte empor, das zweite, dritte. Und dann verpflanzte sich das Feuer, schmiß sich nach rechts und links und besäte die Nacht mit einem Funkengewirr. Erneut ein stiller, harmonischer Klang, und das Licht erstarrte. Der Bildschirm warf einen rötlichen Schein in das Laboratorium.
Gal biß sich auf die Lippe.
Die Farbe des Feuers floß an den zerspaltenen Wänden hinab. Dahinter erschien dunkel die Öffnung der Höhle, und um das Feuer hingen erstarrte Masken in der Finsternis. Niedrige Stirnen, verwachsene Gesichter, kleine Augen, die nicht blinzelten.
Der Glanz der Scheiterhaufen spiegelte sich in ihnen, aber sonst waren sie stumpf – wie die Augen des Sauriers aus dem vorherigen Bild.
God berührte die Tasten, und das Bild wurde beweglich. Unglaublich langsam leckten die Flammen die schwarzen Arme der Äste, umringten sie mit gelben Kränzen, und aus dieser Liebe wurden Funken geboren. Auch die Masken der Dämonen regten sich. Die dicken Lippen ließen den Glanz starker Hauerzähne durch, in die Augen schlüpfte das Licht des Lebens; sie zwinkerten satt und schläfrig. Nein, das waren schon nicht mehr die stumpfen Saurieraugen. Sie zeigten mehr Lebendigkeit.
»Sind das vielleicht …?« stieß Gal hervor.
Sein Freund nickte. »Ja, das sind Menschen.«
»Das sind Tiere!«
Die behaarten Finger ergriffen geschickt die blutigen, fetten Fleischstücke, und die gelben Zähne bohrten sich mit unbeherrschter Gier hinein. Gal preßte die Lippen zusammen: »Das sind Raubtiere.«
Die roten Äuglein hefteten sich auf den Bildschirm, es war, als würde die Kreatur beide Beobachter ihrerseits beobachten. Eine riesige, mit borstigen Zotteln bewachsene Pratze wandte sich ihnen zu und bedeckte fast den ganzen Bildschirm.
Im Zimmer wurde es dunkel, und der Wissenschaftler hob die Hand. In selbem Augenblick erhellte sich der Raum, und die wilde, schmausende Gesellschaft erschien abermals vor der Grotte. Nur das mittlere Geschöpf, das, mit dessen Pranke sie vor einer Weile Bekanntschaft gemacht hatten, hielt nun einen scharfen Stein, mit dem es in ein Stück zähes Fleisch schnitt …
»Werkzeuge, siehst du, Werkzeuge«, jubelte der Bärtige. »Es sind Menschen.«
»Weil sie fragen?« warf Gal ironisch ein.
»Ja«, sagte der andere ruhig. »Auch das habe ich gesehen. Paß auf!«
Das Feuer erlosch allmählich. Es war, als ob die Gestalten sich in sich selbst zurückgezogen hätten, es schien, als ob die Nacht auf sie drückte, die Nacht der frühen Epochen einer wilden Erde, in denen Sterne kein Schmuck der Verliebten sind, sondern bedrohliche Feuer des feindlichen Raums. Und dann stand die große haarige Kreatur auf, die mit dem scharfen Stein in der Pranke, und lief watschelnd zur Höhle, von der ganzen Horde gefolgt.
Die letzten Flämmchen beleuchteten einen riesigen Schädel mit mächtigem Gehörn, der auf der Felswand neben dem Grotteneingang hing. Der Affenmensch blieb vor dem Schädel stehen und hob seine lange Hand. Er bedeckte die Augen, und die anderen setzten sich nieder. Ihre unproportional langen Rümpfe begannen von einer Seite zur anderen zu schaukeln. Und ihr Anführer holte aus und warf etwas zu der Felswand unter diesem Schädel, etwas Fettes und Blutiges. Das Bild wurde dunkler.
Aus der Dunkelheit leuchteten Gals Augen. »Ich gebe zu, er hat ein Opfer gebracht – ohne Zweifel hat er das Fleisch geopfert – aber wem?«
Der Wissenschaftler kniff die Augen zu. »Er hat einem Gott geopfert. Wem sonst? Er bedankt sich für die gute Jagd und für die fette Beute.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe es auch auf anderen Planeten gesehen – ich will sagen: Teilchen. Aber ich zeig’ es dir nicht. Wir müssen weiter.«
Der Bildschirm leuchtete von neuem auf. Diesmal schwebten sie über einer ockergelben Ebene, die mit falben und schwarzen Felsen besät war. Stellenweise änderte sich die Farbe in Rot, es sah aus wie große, blutige Wunden. Das Auge des Superultramikroskops sank herab, und nun beobachteten sie die Landschaft aus der Höhe von etwa zweihundert Metern.
In der Ferne glänzte der Wasserspiegel eines großen Stroms, entlang beider Ufer zogen sich Haine von schlanken Bäumen mit fächerartigen Blättern. Die Wüste verlor sich am Horizont, und dort erstarrte der Felsen in gelbroten Streifen, die an zwei reglos daliegende Schlangen erinnerten.
Aus dem Grün leuchteten Ansammlungen von würfelartigen Gebäuden. Sie häuften sich wie eine Schuttsammlung, elend und demütig um ein hohes und reich verziertes Bauwerk. Verschärfung auf das Bauwerk: Die schrägen Prismen der Türme verrieten das Können der Architekten, die sie gebaut hatten. Säulenreihen umliefen die zentralen Höfe, und an den Wänden wimmelte es von bunten Bildern. Einige stellten Halbmenschen und Halbtiere dar, merkwürdige, in die Länge gezogene Mäuler und Schnäbel auf menschlichen Rümpfen. Gestalten in langen weißen Gewändern spazierten auf den Höfen, und die Sonne glänzte auf ihren rasierten Schädeln.
»Die Zeiten vergingen …«, flüsterte der Bärtige. »Und das hier sind …«
»… Menschen«, ergänzte Gal verträumt. »Das sind Kunstwerke, dieses Gebäude gehört dazu. Dort studieren sie die Wahrheit und denken über die Fragen des Lebens und des Todes nach.«
»Nein«, widersprach der andere, »nicht die Wahrheit. Falls sie diese zufällig finden, packen sie sie in einen Unsinn ein. Die Gestalten an den Wänden – das sind ihre Götter.«
»Die Götter?«
»Wesen, die sie als ihre Beschützer und Schöpfer verehren – es sind nur Analogien des ausgetrockneten Hirschschädels vor der Höhle der Affenmenschen.«
»Und die Männer in Weiß und die Stadt rund um das große Gebäude?«
»Du meinst den Tempel?« warf der Bärtige ein.
»Also dieser Tempel dient ihnen nur, damit …«
»Damit sie die Frage des Lebens und des Todes enträtseln. Ja. Für die ist es die Frage des Lebens und des Todes.«
»Du machst Witze«, sagte Gal. »Die haben doch keine Maschinen, und die Landschaft um ihre Stadt ist doch die Wüste. Und die elenden Hütten und dagegen der herrliche Tempel – nein, ich verstehe das nicht. Die Frage des Lebens und des Todes heißt: die Wüste, die sie sonst erwürgt, bewässern, fruchtbar machen …«
»Für die gibt es etwas Wichtigeres als das. Sie sehen ständig zurück, bevor sie auf den langen Weg aufbrechen …«
Das Bild überflog die ockerfarbenen Flächen und blieb in einem Irrgarten von schwarzen Felsen stehen. Zwischen den sonnenglühenden Steinen wimmelten Leute wie Ameisen. Die kleinen Gestalten behauten die Felsblöcke, schleppten schwere Stücke auf roh gefügte Schlitten, sie fielen um vor Müdigkeit. Andere, etwas besser gekleidete, bewegten sich unter ihnen und schwangen Peitschen über ihren gebückten Rücken.
»Was machen die denn da?«
»Sie bereiten die Bausteine für den Bau des Tempels – von so einem Tempel, wie wir ihn gerade gesehen haben. Diesem Gebäude opfern sie alles.«
Vergrößerung: Ein nackter Mann, der auf dem Rücken einen Stein trug, stolperte und fiel aufs Gesicht. Der Stein zersprang in tausend Stücke. Der Büttel sprang zu ihm hin und erhob den Arm mit der Peitsche. Man konnte auf dem Bildschirm klar seine scharfen, sonnenbraunen Gesichtszüge sehen – da riß er die Augen weit auf, blickte direkt in den Bildschirm hinein, und sein Mund verzerrte sich vor Angst. Womöglich rief er etwas, doch es war nichts zu hören. In demselben Augenblick verschwand das Gesicht, und beide Männer sahen nur noch seinen Rücken, der vor Schweiß glänzte.
Der Wissenschaftler hustete.
Ein neues Gesicht mit der klaffenden Wunde des Mundes, der Mensch zeigte in den Bildschirm, noch weitere Gesichter, Augen und Münder – sie tauchten auf und verschwanden, wie vom Winde verweht.
»Was ist passiert?« fragte Gal beunruhigt.
»Weiß nicht«, brummte der Bärtige, »irgendwas hat sie erschreckt.«
Er bewegte die Hand. Vor ihnen lag die ganze Belegschaft des Steinbruchs auf den Gesichtern, wie ein aufgegrabenes Nest von Maden lagen hier die Menschenrümpfe der Sklaven und der Aufseher einträchtig nebeneinander im Schoß der Basaltfelsen.
»Nun, diese armen Luder haben ganz sicher keine Zeit zum Nachdenken über den Sinn des Lebens«, knurrte der Wissenschaftler.
»Aber was ist eigentlich geschehen?« fragte Gal.
»Weiß nicht«, sagte der Bärtige, preßte die Lippen zusammen und wandte die Augen ab.
»Glaubst du vielleicht …?«
»Was?«
»… daß die uns sehen können?«
Das Laboratorium erzitterte, das Lachen des Bärtigen erscholl.
»Bei dreißig Dezimalstellen hinter dem Komma? Also das ist dir wirklich gelungen, Gal!« Doch es klang ein wenig hohl.
Er lächelte noch, während sich vor ihnen Bilder des Lebens von dem verwunderlichen, in seinem Kosmos existierenden Teilchen, in den Nebeln des durchsichtigen Würfels irgendwo verloren.
Sie sahen große Scharen, die durch die Wüste schritten, die Leute taumelten wie betrunken in der Glut ihres Muttergestirns, das – wie sich Gal immer wieder und wieder überzeugen mußte – nichts anderes war als der Zentralkern eines winzigen Atoms irgendwo in dem transparenten Würfel. Sie sahen Schlachten, Feiern, sie sahen Städte und Schiffe mit Segelflügeln auf den grünen Wassern der Ozeane …
Die Bilderfolge war nun ununterbrochen. Der Wissenschaftler versuchte, die einzelnen Entwicklungsperioden aufs genaueste zu verfolgen, damit ihm nichts entginge.
Bisher konnte man vieles erklären – den Kampf ums Überleben, die Suche nach neuen Ressourcen, neue Länder, die Unterdrückung der primitiven Gesellschaften durch höher organisierte, das war alles ganz natürlich. Bis auf eine geringe Kleinigkeit.
Etwas gehörte in diese Welt nicht hinein. Etwas, das für diese Gesellschaften, die untereinander um einen kargen Bissen kämpften, eine ungeheure Belastung bedeutete. Majestätische Bauwerke mit goldenen Wänden, hohen, aus Steinspitzen gewebten Turmnadeln, farbigen Kuppeln und Säulenwäldern. Sie wurden durch Unmengen von Sklaven und Arbeitern gebaut, in diesen Gebäuden dienten Tausende von Dienern und Priestern – doch niemand wohnte darin. Aber in Zeiten von Not, großen Epidemien und fremden Invasionen strömten die Massen hinein. Warum? Aber auch wenn die Gefahr wich, blieben die Gebäude nicht verlassen und leer, wieder füllten sie sich mit den Menschenmassen und dem Duft von Räucherwerk. Warum?
Der Wissenschaftler rieb sich die Stirn.
»Ja, ich habe auch darüber nachgedacht. Es ist genauso wie auf anderen Welten. Ich habe mir vorgestellt, daß eine gerade Entwicklung stattfinden würde. Aber immer kompliziert es sich. Sie können einfach die technischen Errungenschaften mit den Vorteilen der primitiven Gesellschaften zusammenfügen. Unaufhörlich drückt sich in dessen Tun eine gewisse Prise von Unsinnigem aus – Aberglauben, Ängsten, ein ewiges Suchen nach etwas, nach …«
»… nach Gott«, schloß Gal ab. »Aber du hast doch selber gesagt, daß ein Kind zum Menschen wird, wenn es zu fragen anfängt, oder?«
Der Wissenschaftler wedelte ungeduldig mit der Hand.
Sie sahen auf den Bildschirm, wo inmitten von prächtigen Bauwerken eine Menschenansammlung mit aufgerissenen Augen böse dreinblickte. Auf einem Haufen von zusammengelegtem Holz stand ein Mann in weißen Gewand an einen Pfahl angebunden, und ein anderer, Schwarzgekleideter, sprach zu ihm. Ein weiterer Mann, das Haupt mit einer Kappe bedeckt, zeigte hinauf zu den Türmen eines großen Bauwerks, doch der Gefesselte wandte das Gesicht ab.
»Er will nicht«, murmelte der Bärtige, »aber das bedeutet nichts.«
»Was – nicht? Was wollen die mit ihm tun?« flüsterte Gal, ganz blaß vor Grauen.
Aus dem Scheiterhaufen loderte als Antwort ein Feuer auf, und der graue Rauchschleier verschlang beide Männer, den gefesselten und den mit der Kappe, und die ganze Schar und auch das Gebäude. Das Bild wurde dunkler.
»Genau dasselbe wie auf den anderen Welten. Die Hinrichtung eines, der nicht glaubt«, sagte der Wissenschaftler, und in seinem Blick erschien Müdigkeit.
»Was glaubt er nicht?«
»Er glaubt nicht, daß es etwas außer seiner eigenen Zeit und außerhalb seines Raumes gibt. Er glaubt nicht an Gott.«
»Das ist widerlich«, sagte Gal und stand auf.
Es war, als wäre der Bärtige plötzlich älter geworden. »Nur noch eine Weile, dann muß es kommen. Ich will, daß du es mit deinen eigenen Augen siehst«, fügte er fast bittend hinzu. Langsam, seinen Blick auf seinen Freund geheftet, sank Gal wieder in den Sessel.
Sie sahen Massen von bewaffneten Männern, wie sie im Rauch primitiver Waffen verreckten, sahen, wie stolze Städte brannten und wie ihre Mauern zusammenbrachen, sie sahen den ruhigen Gang der Zeit mit dem Schicksal dieses Teilchens. Das Leben brach zusammen, wurde in Asche verwandelt, und schon wieder loderte es in kleinen wieder stärker werdenden Flämmchen. Der das Superultramikroskop führende Roboter änderte in regelmäßigem Rhythmus den Leistungsbedarf des Apparats.
»Jetzt kommt’s«, schrie der Wissenschaftler und krallte die Finger in die Sessellehne.
»Worüber sprichst du?« fragte Gal.
God zeigte auf den Bildschirm.
Sie schwebten im Halbdunkel einer mächtigen Halle mit einer riesigen Gewölbedecke. Durch die Fenster strömte buntes Licht herein, und die Kapitelle der Säulen glänzten golden. Es war barbarisch herrlich schön – und barbarisch grausam. Auf den immens großen Bildern, die die Wände schmückten, ringelten sich blasse Rümpfe, von Pfeilen durchbohrt, Leichengesichter mit geschundenen Zügen, weinende Frauen. Und all die Blicke, all die Blässe, all der Schmerz und all das Leiden zielten auf das zentrale Kolossalbild, das die Stirnseite des Raums beherrschte. Unter dem Bild stand ein Mann ganz im Gold und mit einer hohen Mütze auf dem Kopf, sein Mund öffnete sich und schloß sich wieder. Die Augen wanderten über den riesigen Schwarm der Betenden, die sich vor dem Bild beugten.
Gal riß die Augen auf. Nein – er konnte dem nicht Glauben schenken, was er sah.
Denn auf dem Gemälde schwebte in einem absonderlichen, goldroten Gewand die getreue Abbildung seines Freundes, und sein langer schneeweißer Vollbart wallte wie eine phantastische Schwinge hinter ihm her …
»Als ich das zum erstenmal gesehen habe«, sagte der Wissenschaftler, während sie am frühen Abend auf der hohen Terrasse saßen, »hatte ich Lust, den verdammten Würfel in Stücke zu zerschlagen, damit von ihm nicht eine einzige Scherbe bliebe. Ich hatte Lust, ihn in den Desintegrator zu werfen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich konnte es einfach nicht tun.«
Sie schwiegen eine Weile. Aus den duftenden Sträuchern flogen goldene Käfer, deren melodische Musik den Abend erfüllte. Der Himmel war violett, und nur am Horizont leuchtete nach dem Sonnenuntergang noch ein gelber Streifen.
»Das begreife ich«, sagte Gal und nippte an seinem Glas mit rotem Getränk. »Ja, ich glaube, daß ich dich verstehe«, wiederholte er ruhig und ein wenig nachdenklich.
»Aber es ist doch vollkommen unsinnig und unmöglich, daß sie mich gesehen haben können.« Er sprach schnell und fiebrig, als versuchte er, sich selber zu überzeugen. »Und wenn ich mir vorstelle, daß die mich dort mit all diesen Greueltaten, Morden und dem widersinnigen Treiben der geisteskranken Gehirne verbinden, daß ich es bin, der ihnen den Blick auf die Wahrheit versperrt – so ist mir davon auf eine fatale Weise übel, eklig und schaudererregend.«
»Das ist selbstverständlich ein unlösbares Problem für dich, mein Freund«, sagte Gal nachdenklich. »In einem Punkt – da bin ich mir vollkommen sicher – haben diese Wesen jedoch ausgesprochen recht.«
Der Wissenschaftler zog die Augenbrauen fragend nach oben und zupfte an seinem Bart.
»Du bist tatsächlich ihr Gott und ihr Schöpfer«, sprach Gal sachlich und mit Nachdruck.
Der Bärtige stöhnte auf. »O Gott«, flüsterte er.
Gal nickte bedeutungsvoll.
Währenddessen drehte sich der Planet Erde in der Helligkeit seiner Sonne in einem verlassenen Randbereich der Galaxie, deren flatterndes Funkeln sich matt von den Wänden des durchsichtigen Würfels in dem leeren Laboratorium widerspiegelte …
Originaltitel: ›NEŘEŠITELNÁ OTÁZKA‹ • Copyright © 1996 by Václav Kajdoš • Erstveröffentlichung • Copyright der deutschen Übersetzung © 1996 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Tschechischen von Karl v. Wetzky • Illustriert von Manfred Lafrentz