Es war kein eindeutig bestimmbarer Augenblick, in dem diese Welt ihren Anfang nahm, diese Welt ohne Frauen – es waren viele solcher Momente. Es war nicht eine einzige Entscheidung, sondern es gab viele Entscheidungen. Jeder Moment war ein persönlicher Moment, jede Entscheidung eine persönliche Entscheidung, zunächst getroffen von Männern und Frauen. Dann immer häufiger von Männern. Und schließlich nur noch von Männern. Eine neue Welt entstand, in die wir still hinüberglitten. Eine Welt, die aus Entscheidungen entstand. Aber ich habe gelogen. Es gibt noch Frauen auf der Welt.
Der Labortechniker rückte seinen Stuhl zurecht und musterte die Frau. Sie lag in einer Nährlösung, rot und warm, weich und nachgiebig. Er kitzelte sie mit der Pipette. Er wartete. Mit angehaltenem Atem murmelte er: »Komm schon, Miststück, spuck’s aus.« Einen Augenblick später gab der Eierstock ein Ei frei, das Jack begierig mit der Pipette aufsaugte. Eine Viertelstunde später war das entnommene Ei ›gereinigt‹ und vorbereitet. Jack lehnte sich zurück und sah zu seinem Assistenten. Der junge Mann erwiderte seinen Blick.
»Eigentlich ist der Job nicht schwer«, erklärte Jack. »Das Warten ist immer das Schlimmste.«
Der junge Mann nickte und hakte die Daumen hinter den Hosenbund. Er hatte schöne Hände, sauber und kräftig. Die Jeans saßen eng. Jack deutete zur Kaffeemaschine in der Ecke. Sie stand ganz hinten auf einem Arbeitstisch und war schwer zu erreichen. Jack lächelte. »Ich sag dir was, mein Lieber. Wir trinken jetzt erst mal einen Kaffee.«
Unterdessen betraten in einem anderen Teil des Geburtszentrums die angehenden Eltern ein Zeugungszimmer. Als die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, blieben sie einen Augenblick stehen und betrachteten die unpersönliche Einrichtung. Seidenlaken auf dem Bett, erotische Bilder an den Wänden, ein Schafsfell auf dem Boden. Auf beiden Nachttischchen standen Becher für den Lebenssaft. Die beiden waren seit drei Jahren zusammen. Sie hatten die Eide geleistet und die Formulare ausgefüllt und sich allen notwendigen Tests unterzogen. Aber das hier war etwas Besonderes.
»Nervös?«
»Irgendwie schon.«
»Ich auch.«
Zögern. Dann: »Sie warten schon.«
»Ich weiß.« Er seufzte und strich seinem Geliebten mit flacher Hand über den Rücken. Kleider, von nervös-begierigen Fingern geöffnet, fielen zu Boden. Die Laken waren kalt. Sie mußten lachen.
Später wurden die Becher, gefüllt mit dem Lebenssaft, einem Zeugungstechniker übergeben. Der Inhalt wurde untersucht und sortiert, und die Auserwählten wurden innerhalb des Eies der Frau vereint.
Dann kam die Zeit der Ängste.
Die angehenden Eltern, Jean-Claude und Michael, warteten schweigend. Der Flur war öde, gestrichen mit einer Farbe, die man hier wohl für ein beruhigendes Grün hielt. Sie tranken geschmacklosen Kaffee aus einer Maschine mit einer Sprachstörung. Es gab nichts mehr für sie zu tun. Sie tauschten ihre Gedanken mit Gesten und Berührungen aus. Die Vertrautheit ihrer wortlosen Unterhaltung beruhigte sie ein wenig.
Jean-Claude hob die Flut des blonden Haars von Michaels Ohr. Er flüsterte: »Mach dir keine Sorgen.« Er küßte ihn – es war ein rascher Schmetterlingskuß auf den Rand der Ohrmuschel. »Es wird schon gut werden«, fügte er noch hinzu. Er sprach leise, und sein Akzent kam ein wenig durch. Michael nickte und erwiderte den Kuß.
»Ich weiß«, sagte er. »Es ist nur …« Er trank seinen Kaffee aus und warf den leeren Becher in einen randvollen Abfalleimer. Der Becher fiel herunter und kollerte auf den Boden. Michael machte eine rasche Bewegung, als wollte er aufstehen, doch dann überlegte er es sich anders. Jean-Claude drückte seine Hand und lächelte. »Sinnlos«, sagte er. Sinnlos, irgendwo hinzugehen. Sinnlos, den Becher aufzuheben.
Unter dem weichen karierten Hemdstoff begannen Michaels knospende Brüste zu jucken. Ihm war heiß, er fühlte sich unbehaglich, und er konnte nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Er wußte, daß irgendwo in der Nähe der empfindliche Keim ihres Sohnes einer Frau übergeben wurde.
Er machte sich Sorgen, obwohl kein Grund dazu bestand. Die Übertragung klappte einwandfrei. Später durften Michael und Jean-Claude ihren Sohn besuchen. Aber alles, was sie sahen, war ein dunkler Schatten im zornig roten Schoß der Frau.
Jack wartete, bis die Hormone ihre Wirkung entfalteten. Seine Schultern taten weh, und er tröstete sich mit dem Gedanken, daß die Hände seines Assistenten die Schmerzen fortmassieren würden. Später vielleicht. Er kitzelte ungeduldig die Frau und wurde mit einem weiteren Ei belohnt. Er legte es in eine bereitstehende Schale ausgewählter und aktivierter X-Spermien. Dann holte er sich einen Kaffee.
Als das Ei befruchtet war, wurde es Lewis übergeben. Lewis war ein stiller, nachdenklicher Mann. Er liebte seine Arbeit, und manchmal zogen ihn die anderen auf, wenn sie ihn dabei ertappten, wie er mit seinen winzigen Schutzbefohlenen redete. Im richtigen Augenblick näherte Lewis sich mit seinem Messer dem Embryo. Es war allerdings kein metallenes Messer, denn selbst der feinste chirurgische Stahl wäre noch viel zu grob gewesen. Es war ein chemisches Messer, das mit größter Präzision in Michaels embryonische Tochter schnitt und Kopf, Beine und Arme abtrennte, bis nur noch ein Eierstock und ein Schoß übrig waren. Diesen Rest übergab er Frank, der für die Zellkulturen zuständig war.
Schließlich wurde Michaels Tochter neben ihre Mutter gelegt. Die Mutter wußte nichts davon. Sie hatte keinen Mund, um ihre Tochter zu begrüßen. Sie hatte keine Arme, um sie zu umarmen. Vielleicht habe ich doch nicht gelogen.
Neun Monate nach der Zeugung trat Jean-Claudes und Michaels Sohn still in diese Welt ein. Es war eine leichte, wenig bemerkenswerte Entbindung. Der Geburtshelfer zog den winzigen, blutüberströmten Körper aus der Gebärmutter und legte ihn auf eine Heizdecke. Dann führte er den aufgeregten Eltern flüsternd vor, wie sie ihren Sohn anregen konnten, seinen ersten Atemzug zu machen. Sie mußten die Hände in warmes Öl tauchen und reiben – sehen Sie, so. Fest und sanft zugleich. Hier etwas drücken. Mit dem Finger unter den Fuß tippen. Schließlich weinte das Kind. Ein leises, protestierendes Klagen.
Vorsichtig, andächtig die winzigen Finger und die aufmerksamen blauen Augen bestaunend, legte Michael seinen Sohn an die Brust. Das Kind suchte und fand, unterstützt von den hilfreichen Händen des Geburtshelfers, die Brustwarze. Michael schnappte nach Luft, als er überrascht bemerkte, wie kräftig dieser winzige Mund schon war. Er hätte nicht erwartet, daß es weh tun würde.
»Das wird mit der Zeit besser«, erklärte der Geburtshelfer, »wenn die Milch kommt.«
Michael sah zu Jean-Claude. »Du bist dran«, sagte er. »Wollen doch mal sehen, ob dir auch das Lachen vergeht.«
Jean-Claude zog sein Hemd aus der Hose und rieb mit einem Finger sanft über das dunkle, feuchte Haar des Kindes. »Er hat deine Augen«, sagte er.
»Und deine Nase, der Ärmste.«
»Du hast eine sehr schöne Nase«, sagte Jean-Claude zu ihrem Kind. »Hör nicht auf Michael-Papa. Er ist nur eifersüchtig.«
»Wegen der Nase?« Michael lachte. »Ist er nicht wunderschön?«
Der Geburtshelfer blieb in der Nähe und half ihnen, während sie das Baby hin- und herreichten. Er zeigte ihnen, wie sie die Wange des Kindes kitzeln mußten, wie sie ihm helfen mußten, die Brustwarze selbst zu finden, statt sie ihm in den Mund zu stopfen. Schließlich erklärte er ihnen, daß das Kind jetzt schlafen müsse.
»Haben Sie sich schon für einen Namen entschieden?« fragte er.
Michael und Jean-Claude wechselten einen Blick. Gleichzeitig sagten sie: »Adam.«
»Als wir dich zum erstenmal sahen, wußten wir sofort, wie wir dich nennen würden«, erklärte Jean. Wie meistens, wenn er mit seinem Kind allein war, sprach er im weichen Singsang seiner Muttersprache. »Schau her, das bist du, als du drei Tage alt warst. Siehst du, wie winzig deine Hände damals waren?«
Adam sah zur anderen Seite des Zimmers. Dort war gerade Michael zu sehen, der mit einem Kind im Arm auf einem seltsamen Bett saß. Das Kind nuckelte schmatzend an Michaels Brust. Adam sprang von Jeans Knie herunter und rannte durch den Raum. Er beobachtete die Szene einen Moment, dann stieß er dem Baby die Hand durch den Kopf. Jean lachte, und als er plötzlich den Kopf bewegte, rann Wasser von seinem nassen schwarzen Haar über seine nackten Schultern. Sie hatten gerade geduscht, und beide waren nackt. Adam rannte zurück und setzte sich wieder auf das Knie seines Vaters. Er klatschte eine Hand auf Jeans Brust. »Weg«, sagte er.
»Ja.«
»Wohin?«
Jean zögerte. Lange bevor Adam entbunden oder schon bevor er überhaupt gezeugt worden war, hatte er sich geschworen, seinem Sohn immer die Wahrheit zu sagen. Aber damals hatte er nicht gewußt, wie schwer das manchmal sein würde. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wenn wir noch ein Kind bekommen würden, dann würden sie wiederkommen. Michael-Papa würde das mögen. Was meinst du?«
Adam schüttelte den Kopf und kicherte, als das Wasser in alle Richtungen spritzte. Er machte es gleich noch einmal. Jean rief etwas, schnappte sich ein Handtuch und hüllte Adam völlig darin ein. Adam krabbelte hervor, kicherte und schüttelte wieder den Kopf – und ein kleines Spiel wurde geboren.
Als das Spiel vorbei war, war Adam trocken und angezogen und bereit fürs Bett. Jean war naß und zerzaust und müde. Er setzte sich auf den Boden und sah zu, wie Adam die ›Bilder‹ durchging. Ab und zu sprang Adam von seinem Sitzplatz auf und rannte durchs Zimmer, um ein Bruchstück der Vergangenheit genauer anzustarren, zu treten oder zu durchlöchern. Zwischendurch legte er den Kopf auf den Arm und sah sehr müde aus.
Jean wußte, daß er eigentlich mit dem Abendessen beginnen mußte, aber er hatte keine Lust. Vor ihm auf dem Kaffeehaustisch lagen Reiseprospekte und Broschüren des Geburtszentrums einträchtig nebeneinander, jeweils eine andere Fülle prächtiger Möglichkeiten anbietend. Tausendundein Ort am Meer und in der Sonne. Hundert Schattierungen gesunden blonden Haars.
Michael wollte einen zweiten Sohn. Er liebte die Hilflosigkeit und die schlaflosen Nächte und die bekleckerten Hemden. Er wollte wichtige Entscheidungen treffen. Wikingerblondes Haar, braune Augen und etwas, das die Prospekte als ›optimale Figur‹ bezeichneten. Jean erinnerte sich daran, wie sich Michaels Brüste unter seinen Händen angefühlt hatten. An ihren süßen Geschmack auf seiner Zunge. Aber es war eine Süße, die durch Michaels Unrast bedrückend wurde. Durch Streitereien und Spannungen. Michael war zu angepaßt, zu konservativ. Es war deshalb ein gefährliches Vergnügen.
Adam schlief schon, als Michael nach Hause kam. Michael trug ihn ins Bett, während Jean einen Salat machte. Eine Flasche Wein und mehrere Stunden später waren die Prospekte des Geburtszentrums vergessen. Sie hatten sich für Thásos entschieden.
»Ich wollte nicht, daß du das siehst. Das hat nichts mit dir zu tun. Es hat nichts mit uns zu tun.« Das war Jeans Stimme, gefährlich weich und leise.
Adam war schon eine Weile wach gewesen und hatte, im Dunklen liegend, ihrem Flüstern zugehört. Er liebte das vertraute Auf und Ab ihrer Stimmen. Wenn es ein langes Schweigen gab, wußte er, daß sie sich küßten. Dann war einer von ihnen, Michael-Papa, dachte Adam, ins Schlafzimmer gegangen. Er hatte gehört, wie die Schritte durchs Zimmer tappten, wie Schubladen geöffnet und wieder geschlossen wurden. Er hatte gehört, wie Michael sagte, daß er es nicht finden konnte. Und wie Jean erwiderte, daß es keine Rolle spielte. Michael sagte leise, einen Moment noch. Dann hatte es ein langes Schweigen gegeben, und als Michael ins Nebenzimmer zurückgekehrt war, hatte ihre Unterhaltung nicht mehr beruhigend geklungen.
Adam wünschte, er hätte geschlafen. Er wünschte, er hätte nicht die leisen Explosionen ihrer Wut anhören müssen. Bis jetzt hatte er nur hin und wieder einmal ein einzelnes Wort verstehen können. Er langte nach unten und schob sich die Hand zwischen die Beine. Michael sagte gerade:
»Natürlich hat das was mit uns zu tun. Es hat jede Menge mit uns zu tun.«
Und Jean erwiderte: »Reiß dich zusammen, du weckst Adam auf!«
»Mein Gott, Adam!« sagte Michael. Es klang, als wäre ihm gerade etwas Schreckliches eingefallen. »Wird er … hast du … mein Gott. Ich kann es nicht fassen. Ich dachte, ich kenne dich. Ich dachte, du liebst mich – und die ganze Zeit wolltest du so was.«
Adam konnte Jeans Antwort nicht verstehen. Er zögerte einen Augenblick lang, dann stieg er aus dem Bett und ging zur Tür. Er öffnete sachte seine Schlafzimmertür. Nur einen Spaltbreit. Gerade weit genug, um etwas zu sehen.
Michael und Jean-Claude standen einander gegenüber. Michael hatte ein zerknülltes Stück Papier in der Hand. Er weinte. Jean war blaß, schien aber beherrscht. Er ging einen Schritt auf Michael zu, doch Michael wich zurück.
»Nicht«, sagte er. »Faß mich nicht an!«
»Michel, bitte.«
»Nicht. Nenn mich nicht so! Nie wieder!«
»Versuch doch wenigstens zu verstehen …«
»Nein.« Michael drehte sich um und ging zur Tür. Jean rief ihm nach, aber Michael blieb nicht stehen.
Die Tür schloß sich mit einem Geräusch, das wie eine Ohrfeige klang. Danach war es still.
Adam hatte nicht gewußt, daß Stille sich ausbreiten kann wie eine Welle. Daß sie über einen Menschen hereinbrechen und ihn ertränken und einem die Kehle vor Furcht verschnüren konnte. Er hatte nicht gewußt, wie unerträglich sie sein konnte. Er schob die Schlafzimmertür weiter auf. »Jean-Papa?«
»Geh ins Bett, Adam.«
Adam rührte sich nicht. Er stand nur da und starrte Jeans Hinterkopf an.
»Geh ins Bett«, sagte Jean noch einmal.
Adam ging und setzte sich auf sein Bett. Nach einer Weile kam Jean herein und setzte sich neben ihn. »Er wird zurückkommen«, sagte er.
Adam nickte.
»Was hast du gehört?«
Adam antwortete nicht. Jean nahm Adams Kopf zwischen beide Hände. »Michel-Papa ist wütend«, sagte er. »Weil er ein Bild von einer Frau gefunden hat.«
»Von einer Frau?«
»Ein Mensch, sozusagen. Ein Bild mit einer anderen Sorte Mensch.«
»Wie eine Elfe?« fragte Adam. Er dachte an die Märchen, die Opa Gilbert ihm über die starken kleinen Geschöpfe erzählt hatte, die auf Müllkippen wohnten und zu Raubzügen in die Städte kamen, wenn die Zeiten schwer waren.
»Nein, nicht wie eine Elfe«, sagte Jean. »Wie wir, nur anders.«
»Wie anders?«
»Nun … sie hatten die ganze Zeit Brüste. Aber keinen Perus. Sie konnten dafür Kinder bekommen. In ihren Bäuchen.«
Adam nickte und stellte sich ein Geschöpf vor, das so groß war wie das Geburtszentrum, mit Brüsten so groß wie Hügel, in dessen riesigem Magen Babies in langen Reihen eingesperrt waren. Er kuschelte sich auf Jeans Schoß zusammen und legte den Kopf gegen dessen flache Brust. »Haben sie die Babies gefressen?« wollte er wissen.
»Nein, die Babies sind in ihren Bäuchen gewachsen.«
Adam nuckelte am Daumen. »Aber wie sind sie rausgekommen?«
Jean zögerte. Spielte es wirklich eine Rolle, ob er die Wahrheit sagte oder log? »Durch eine Art Tür«, erklärte er. »Zwischen den Beinen der Frauen. Aber manchmal war die Tür nicht groß genug, und ein Mann mußte das Baby herausschneiden.« Er nibbelte Adams Arm. »Frauen haben viel geblutet«, sagte er. »Und viel geweint. Und manchmal wurden die Babies verletzt. Wenn sie in den Frauen drin waren, konnte nämlich niemand auf sie aufpassen. Deshalb haben sich die Ärzte etwas Besseres ausgedacht.«
Adam dachte eine Weile darüber nach. Die Brust seines Vaters fühlte sich an seiner Wange warm und tröstend an, aber irgendwo spürte er noch einen Anflug von Angst.
»Es gibt doch keine Frauen mehr, oder?« fragte er.
»Nein, hier bei uns nicht«, sagte Jean traurig. »Weit entfernt vielleicht, im Dschungel.«
»Kommen sie irgendwann zurück?«
»Ich glaube nicht.« Jean küßte ihn. »Wir brauchen sie nicht mehr«, sagte er.
Ein paar Jahre später, während des Biologieunterrichts, erkannte Adam seinen kindlichen Irrtum. Zuerst entdeckte er, daß es möglich war, ein Ei mit einem X-Spermium zu befruchten, um eine Gebärmutter und Eierstöcke zu erhalten. Ein paar Tage später lernte er, daß Uterus und Eierstöcke mit embryonischen Armen und Beinen und Köpfen zusammenhingen, die entfernt werden mußten.
»Weil es sonst ein Mensch würde«, sagte er zum Lehrer. »Wenn wir ihn lassen würden.«
»Nein«, sagte sein Lehrer. »Es würde eine Frau.«
Adam hatte einen Augenblick Angst. Dann wurde er neugierig. Und dann war er erleichtert.
»Meinen Sie, daß es nur Frauen geben kann, wenn wir sie machen?« Er mußte lachen. In seinen Alpträumen hatte er sich riesige Wesen vorgestellt, die sich eines Tages aus dem Dschungel erheben und Kinder ausstreuen würden, während sie über das Land marschierten. Er sah den Lehrschirm an. Das Abbild der Realität. Da war die Frau. Ein kleiner, etwas lächerlicher Haufen Zellen. Er mußte lachen, bis ihm die Tränen kamen.
Michael und Jean-Claude trennten sich, als Adam zehn Jahre alt war. Zwischen dem Streit über das Foto der Frau und ihrer Trennung waren mehrere Monate verstrichen, und inzwischen konnte Adam die Verbindung nicht mehr herstellen. Er wußte nur, daß seine Eltern sich ständig stritten. Es gab häßliche kleine Streitigkeiten, die die beiden in haßerfüllte Zerrbilder ihrer selbst verwandelten. Die Auseinandersetzungen entstanden aus dem Nichts, brachen aus, schliefen ein, wurden aber nie beigelegt. Manchmal, wenn sie wußten, daß er lauschte, stritten sie sich wortlos.
Beide wetteiferten ständig um seine Aufmerksamkeit. Um seine Billigung und seine Unterstützung. Manchmal, wenn sie sahen, wie verwirrt er war, entschuldigten sie sich auch bei ihm. Es spielt doch keine Rolle, sagten sie dann. Komm, setz dich zu wem du willst. Ich erzähle dir eine Geschichte. Willst du etwas spielen? Komm zu mir, zu mir. Dann sahen sie mit begierigen, sorgenvollen Augen zu, wie er sich umdrehte und in sein Zimmer ging. Er verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer mit seinem Lehrer. Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren, und seine Schularbeit litt.
Nach der Trennung wurde es leichter. Michael bekam das alleinige Sorgerecht zugesprochen und konnte im Haus bleiben. Jean-Claude legte gegen die Entscheidung keine Beschwerde ein, und als Gegenleistung erlaubte Michael, daß Jean ihr Kind ab und zu sehen durfte. Der Grund war, erklärte Opa Gilbert, daß Jean ein Perverser war. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen Opa Gilberts Tonfall, als er dieses Wort aussprach, fragte Adam nicht bei Jean-Claude nach, was es bedeutete. Ein Perverser, dachte Adam sich, war eben jemand, den man nicht mehr leiden konnte.
Zuerst sah er Jean-Papa noch ziemlich häufig. Am Wochenende gingen sie oft in den Park oder zum Schwimmen, oder sie setzten sich irgendwo in ein Café und erzählten sich Geschichten. Im Sommer verbrachten sie sogar eine ganze Woche zusammen. Michael wollte danach immer ganz genau wissen, was auf diesen Treffen geschehen war, was sie gesprochen und getan hatten. Laß dich nicht von ihm einwickeln, sagte er. Aber wie Opa Gilbert erklärte er nie, was er damit meinte.
Als Adam dreizehn war, brachte er seinen ersten Geliebten mit nach Hause. Er war in Adams Sozialisationsgruppe. Der Junge hieß Craig. Er hatte rotes Haar und volle, weiche Lippen, und als Adam sein Plastikbaby kopfüber ins Bad fallen ließ, rettete Craig die kreischende, glitschige Puppe und zeigte Adam, wie er sie halten mußte, um sie zu beruhigen. Er hatte sanfte und dennoch feste Hände. Seine Augen waren braun. Michael lächelte erfreut, wenn sie unter dem Tisch Händchen hielten. Er schlug vor, Craig könne über Nacht bleiben. Als er glaubte, daß sie schliefen, ging er leise ins Zimmer und deckte ihre verschlungenen Körper mit den abgestreiften Laken zu. Adam hörte sein Seufzen und fragte sich noch lange danach, was er getan hatte, eine so tiefe Befriedigung auszulösen.
Im Sommer nach seinem sechzehnten Geburtstag nahm Jean-Claude Adam ins Gebirge mit. Er hatte eine Berghütte gemietet, und die ersten paar Tage verbrachten sie mit Wandern, Angeln und Reden, um sich nach der Trennung wieder an die körperliche Nähe des anderen zu gewöhnen. Jean hatte zwei Jahre in Parà in Brasilien verbracht, und seit seiner Rückkehr vor ein paar Wochen hatten sie sich erst einmal getroffen. Natürlich hatte er angerufen, es hatte Geschenke, Geburtstagsgrüße und fröhliche kleine ›Bilder‹ aus Parà gegeben, auf denen das farbenfrohe, zarte Land zu sehen war, durch das Jean gereist war. Aber es hatte etwas gefehlt. Etwas, das nicht ausgesprochen wurde. Die ›Bilder‹ und die Mitteilungen waren zu sorgfältig formuliert, zu flach in ihren Beschreibungen der Anblicke und Klänge des Landes. Adam hatte sich eine Zeitlang mit dem erschreckenden und aufregenden Gedanken vergnügt, daß Jean ein Spion sein könnte. Oder er lag wegen einer schlimmen Krankheit im Sterben. Nun, da er sah, daß sein Vater so schlank und beweglich war wie eine Elfe, dachte er nicht mehr daran.
Am vierten Abend ihres Urlaubs erklärte Jean, daß er Besuch erwartete. Er schien nervös, und Adam fragte sich, ob er irgendeinen Grund zur Sorge hätte. Seine Beunruhigung war ihm wohl anzusehen, denn Jean erklärte ihm hastig: »Schon gut. Kein Problem. Aber wenn du nicht bleiben willst … dann geh nur …« Er zuckte die Achseln. »Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust«, sagte er. »Alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.«
Den Rest des Nachmittags hatte Jean mit den Vorbereitungen für seine Gäste zu tun. Der Geruch von frisch gebackenem Kuchen und Brot erfüllte die Hütte, aber Adam durfte die kleine Küche nicht betreten, um zu helfen. Gegen Abend räumte Jean das Zimmer um. Er schob Möbel in die Ecken und Winkel, bis in der Mitte des Raumes eine freie Fläche entstand. Später, als es dunkelte, wurde dieser Raum von einem einsamen, sanften Strahler erhellt, so daß der Rest des Raumes im Dunkeln blieb. Adam setzte sich in eine Ecke. Er mußte lange warten.
Es war schon Nacht, als der erste Gast kam. Es war ein großer Mann mit langem dunklen Haar, das er oben auf dem Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Seine Augen waren blau, aber sonst konnte Adam nicht viel sehen. Der Mann trug eine Maske. Sie war grob aus Holz geschnitzt, abgeschmirgelt und lackiert. Es gab Augenlöcher, und anstelle des Mundes klaffte ein grinsendes Loch. Der Rand des Lochs war hellrot lackiert. Auch die anderen Gäste, die nach und nach eintrafen, trugen Masken. Alle Masken sahen gleich aus.
Es waren insgesamt sechs Gäste, Männer aller Größen und Gestalt. Jean stellte sie Adam als ›Freund‹ und Adam ihnen als ›mein Sohn‹ vor. Als der letzte gekommen war, öffnete er eine Flasche Rotwein und füllte sieben Gläser.
»Wir treffen uns im Blute«, sagte er.
Die Gäste nahmen ihre Gläser, tranken und wiederholten den Spruch: »Im Blute.«
Adam sah zur Tür. Er hatte schon einmal etwas von Orgien gehört. Er hatte von Männern gehört, die Schmerzen liebten, und von anderen, die Freude daran fanden, Schmerzen zu bereiten. Er hatte von dunklen Ritualen und Perversionen des Geistes gehört, welche die Geburtszentren noch nicht ganz hatten ausrotten können. Er hörte Opa Gilbert im Kopf immer wieder das Wort ›Perverser‹ sagen. Er blickte zu Jean und wich weiter in die Dunkelheit zurück. Er stieß mit den Kniekehlen an eine Stuhlkante und setzte sich.
Die Gäste hatten ausgetrunken und zogen sich aus. Einige warfen ihre Kleider einfach hinter sich, andere falteten sie zu ordentlichen Stapeln und legten sie neben sich auf einen Stuhl oder einen Tisch. Als sie nackt waren, knieten sie sich im Kreis nebeneinander. Adam bemerkte, daß Jean inzwischen aus der Küche ein weißes Tischtuch und eine Plastikflasche mit einer roten Sauce geholt hatte. Jean faltete das Tuch auf und breitete es flach aus wie für ein Picknick. Dann nahm er die Saucenflasche und begann mit roten Tropfen eine menschliche Gestalt zu zeichnen. Kopf, Arme, Beine. Er fügte zwei Kreise hinzu (die Brüste eines werdenden Vaters?) und setzte zwischen die Beine einen weiteren, kleineren Kreis. Dort fehlte etwas. Eine Kastration. Adam schloß die Augen. Er dachte: Nein.
Er hörte leichte Geräusche, als sich die Männer bewegten, aber niemand packte ihn. Als er die Augen wieder öffnete, lagen einige Dinge auf dem Tischtuch. Ein Modell eines Nicht-Mannes aus rosafarbenem Teig. Kuchen, geformt und gestaltet wie die Zeichnung seines Vaters. Winzige Brotmänner mit schwellenden Brüsten, aber ohne Perus. Andere waren weniger leicht zu identifizieren. Aber alle, das sah Adam jetzt, waren eßbar oder spurlos zu zerstören. Selbst die Zeichnung seines Vaters würde verschwinden, sobald das Tuch gewaschen wurde.
Adam stand auf, und einer der Gäste bewegte sich ein wenig, um aufzustehen. Es war ein dicker, hellhäutiger rothaariger Mann. Seine Brust war unbehaart, aber nicht von Natur aus, und aufgrund seines Übergewichts hatte er kleine Brüste. Sein Penis war unter dem überhängenden Bauch kaum zu sehen. Adam war klar, daß der Mann ihn erwischen würde, bevor er die Tür erreichte. Sein Vater hatte gelogen.
»Ich will dir etwas zeigen«, sagte Jean.
Er griff in den Hohlraum zwischen seinen überkreuzten Beinen und warf etwas auf den Tisch. Es landete genau auf dem roten Kreis zwischen den Beinen der Figur. Ein kleines Hologrammgerät. Es dauerte einen Moment, bis es sich im Licht aktivierte und zum Leben erwachte. Eine weiße Säule brach aus dem Zentrum hervor, blieb kurz stehen, entfaltete sich dann wie eine Blüte, bildete eine Kuppel – und dort war sie. Eine Frau.
Sie stand in einem Fluß und lachte, während das Wasser um ihre Knie toste. Sie war nackt und hatte rote Spuren auf der gebräunten Haut. Ihre Augen und ihr Haar waren schwarz. Ein Mann rannte auf sie zu und legte die Arme um ihre Hüften. Sie gab ein seltsames, hohes Quietschen von sich und wich ihm aus. Der Mann lachte, schöpfte Wasser und spritzte die Frau naß. Sie spritzte zurück. Als der Mann des Spiels müde war, nahm er die Frau an der Hand, und die beiden liefen ins tiefere Wasser, um zu schwimmen. Kurz bevor das Bild verblaßte, sah Adam noch, wie die beiden sich küßten.
Der Mann war sein Vater.
»Ich habe eine Frau berührt«, sagte Jean.
Er begann, in einem gleichmäßigen Rhythmus ruckend seinen Körper vor und zurück zu bewegen. Die Gebärmutter, in der er gewachsen war, hatte nicht laufen können. Er hatte die Vibrationen ihres Lachens nicht spüren können. Die anderen Männer ahmten die Bewegungen nach. Sie hielten sich an den Händen. Erregung waberte durch den Raum. Adam spürte, wie sich sein eigener Bauch vor Erregung spannte. Der Rothaarige erinnerte ihn an Craig.
Jean lächelte. »Mach doch mit«, sagte er.
Adam lag nackt auf dem Tuch. Der Rotwein glühte in ihm. Nach den Anweisungen seines Vaters hoben die Gäste das Tuch und wiegten ihn hin und her. Adam faßte nach ihren Händen. Die Bewegung machte ihm angst. Er fühlte sich, als wäre ein Teil in ihm, ein verborgener, schrecklicher Teil in ihm, plötzlich ans Licht gebrochen. Er schrie. Dann lachte er.
Als sein Lachen sich in Tränen verwandelte, setzten sie ihn wieder auf dem sicheren Holzboden ab. Jemand hatte das Licht abgedreht. Er spürte, wie sich schwere Brüste auf seinen Brustkorb preßten. Er hörte eine Stimme flüstern: »Frau.« Etwas berührte ihn. Keine Hand. Etwas, das ihn umschlang. Feucht. Warm. Jemand küßte ihn. Durch den Weinatem erkannte Adam den Geschmack seines Vaters.
»Ich habe eine Frau berührt«, sagte Jean leise in seiner Muttersprache. »Ich habe das Kind aus ihrem Schoß gehalten. Der Name der Frau ist Klichi. Ich bin der Vater des Kindes.«
Die Gäste gingen noch vor dem Morgengrauen. Die Gegenstände, die sie mitgebracht hatten, wurden zerstört oder gegessen. Adam sollte ihre Gesichter nicht sehen.
Als er nach Hause zurückkehrte, erzählte er Michael vom Angeln und Wandern. Er erzählte ihm, daß Jean wieder nach Parà wollte und Adam dorthin eingeladen hätte. Er erzählte Michael, daß er die Einladung ausschlagen wollte.
Im folgenden und in vielen Jahren darauf kehrte Adam allein ins Gebirge zurück. Er wanderte am See entlang und lauschte den Bäumen, die Geschichten von der Frau erzählten, die eines Tages aus dem Dschungel geschritten kommen und Babies verstreuen würde, während sie zurück ins Land der Männer marschierte. Und in der Abgeschiedenheit einer gemieteten Hütte baute er sich eine Hängematte und lag sieben Tage lang jeden Abend im Kokon aus weißem Stoff und wiegte sich in den Schlaf. In der Erinnerung an die Frau.
Originaltitel: ›THE BIRTH OF SONS‹ • Copyright © 1991 by Sharon M. Hall • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, Dezember 1991 • Mit freundlicher Genehmigung der Autorin • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Langowski • Illustriert von Jobst H. Teltschik