Astrid JulianKanada
IRENES LIED


Es ist kein Geheimnis, daß Ich nicht gut sehe. Mein Auge kann zwar Gebirgszüge durchdringen, ich kann den grenzenlos leeren Raum überschauen und manchmal sogar in die Herzen der Menschen sehen – die Brennweite Meiner Augen aber kann ich nicht verändern. Sie steht fest. Ich muß also immer im richtigen Abstand zu Meinem Objekt positioniert sein: nicht zu nahe, aber auch nicht zu weit von ihm entfernt.

Vancouver ist – wenn Ich das einmal so sagen darf – eine Meiner gelungensten Schöpfungen. Das gilt vor allem im Sommer: Es ist Abend. Die rote Sonnenscheibe versinkt hinter den schwarzen Rändern des Ozeans und zieht eine flammende Spur über die sanft plätschernden Wasser der English Bay. Ich stehe neben den Twin Sisters, den Talengen der Burnaby Mountains genau gegenüber. Bei den Einheimischen heiße Ich Mount Seymour.

Ich muß unbedingt auf diesen Parkplatz, auf dem eben, vor dem Eingang zum Konzertsaal, Irene Janowitz, die Dirigentin, ihrer neunundsechzigjährigen Großmutter aus dem alten MG ihres Vaters hilft. Sie schließt die Tür.

Irene Janowitz hat Angst vor dem Konzert, das ihr bevorsteht. Vor ihrem Konzert in Vancouver, der Stadt, in der sie geboren ist. Nicht daß sie irgendwelche ›Enthüllungen‹ befürchtete – sie bestreitet im Gegenteil ganz entschieden, daß irgendeine der Legenden, die sich um ihr Werk ranken, wahr sein könnte. Ich habe den Verdacht, sie glaubt nicht einmal an Meine Engel. Warum sollte sie also Angst haben, die Engel könnten dahinterkommen, daß sie ihnen die Seelen unschuldiger Kinder geraubt hat, die sie zu sich geholt hatten? Nein – Irene Janowitz fürchtet, daß ihre Mutter, Mari Janowitz, wieder einmal eine Entschuldigung finden wird, um einer Aufführung eines Werks ihrer Tochter fernbleiben zu können.

Irene Janowitz hat ihre Kompositionen in Tokio dirigiert, in Berlin, Sao Paulo und Washington, aber noch nie in Vancouver. Heute abend ist es endlich soweit: sie hat das Konzert nur deshalb in ihrer Heimatstadt angesetzt, damit ihre Mutter es besuchen kann.

Irene trägt ein elegantes Kleid aus schwerem schwarzem Samt, so schwer, daß ich am liebsten ein Pseudopodium ausstrecken und es befühlen möchte. Das Kleid ist schulterfrei geschnitten – eine etwas frivole Garderobe für eine Dirigentin. Aber es paßt zu ihren Sommersprossen. Ihr Haar ist rot wie der Atem eines feuerspeienden Drachen, Irene hat es noch nie gemocht. Aber sie ist viel zu stolz, um es sich färben zu lassen.

Anna Weber, Irenes Großmutter, hält sich am Arm der Dirigentin fest, die beiden gehen langsam, aber unbeirrt über die Straße. Es gab eine Zeit, da schämte sich Irene wegen ihrer Großmutter; schämte sich ebenso sehr, wie sie sich wegen ihrer roten Haare schämte. Sie denkt nicht gerne daran zurück, daß sie sich einmal wegen ihrer Großmutter geschämt hatte.

Als Kind hatte Irene für ihre Großmutter kein Verständnis aufgebracht. Die unbekümmerte Sorglosigkeit, mit der die alte Frau ihr Leben lebte, wie es ihr paßte, war Irene damals als vorsätzliche Rücksichtslosigkeit erschienen. Anna Weber hatte sie alle – ihre Tochter, die Architektin; ihren Schwiegersohn, Professor für englische Literatur an der University of British Columbia; ihre verwöhnte Enkelin – in Verruf gebracht, weil sie nie aufgehört hatte, als Putzfrau zu arbeiten. Die Leute, bei denen sie putzte, wären Freunde, hatte sie behauptet; sich um sie zu kümmern, wäre ihr Freude und Pflicht zugleich. Selbst die nebensächlichsten, belanglosesten Verrichtungen – ob sie nun Petunien pflanzte oder hinter den Fensterscheiben ihres Gewächshauses ihrer Enkelin zusah, die auf der Schwimmbadterrasse Geige spielte – ganz gleich, was Anna Weber tat: Irene hatte es immer, hatte alles als einen Akt rücksichtsloser Einmischung empfunden.

Anna bleibt stehen und horcht auf das Plätschern des Brunnens am Hintereingang des Konzertsaals. Irene hütet sich, die alte Frau zu hetzen. Zu einem wohl verdienten Lebensabend gehört auch die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen, einen Brunnen zu bewundern. Anna tätschelt den Arm ihrer Enkelin: »Keine Sorge, Irene«, sagt die alte Frau, die – auch wenn die Dirigentin kein Wort darüber verloren hat – sehr gut versteht: »Mari, deine Mutter, ist sehr stolz auf dich. Du machst ihr nur manchmal etwas angst. Trotzdem: Sie kommt heute abend. Sie hat es versprochen.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagt Irene Janowitz. »Damals, in Wien, hat sie es auch versprochen.«

Erschrocken sehe Ich, wie zwei alte Leutchen auf die Komponistin zugehen. Im ersten Moment glaube Ich, Meine Engel sind Mir gefolgt, sind unterwegs auf nicht genehmigter Visitation. Aber nein: die beiden sind Meine irdischen Kinder.

Die alte Frau trägt einen Strauß weißer Rosen mit grüngeränderten Blütenblättern. »Für Sie, Maestra Janowitz. Ich freue mich auf die schöne Musik, die wir heute abend von Ihnen hören werden.«

Irene lächelt und riecht an den Blumen. ›Barbi’s Summer Field‹ – sie kennt die Sorte. »Darf ich Ihnen meine Großmutter vorstellen, Mrs. Weber? Sie ist die Züchterin dieser Rose. Sie hat sie nach meiner Tante benannt, die im Krieg ums Leben kam.«

»Ich weiß.« Die Frau lächelt scheu und gibt Anna Weber die Hand. Dann stupst sie ihren Gatten. Der Alte stammelt etwas und wird rot.

Janowitz will es ihnen leicht machen: »Wünschen Sie, daß ich eine Passage zum Andenken an ihr Kind hinzufüge?«

»Unsere Tochter.« Wieder stupst die Frau ihren Ehemann. »Rudi! Zeig ihr doch das Bild.« Sie nimmt ihm das Foto aus der Hand und gibt es Irene. »Sie heißt Pauline. Pauline Seefeld. Sie war ein gutes Kind. Hat nie Probleme gegeben mit ihr. Mein Mann war bei der Wehrmacht, hat gekämpft, um Königsberg vor den Russen zu retten. Pauline und ich sind noch bis Breslau gekommen, bevor uns der Feuersturm der Alliierten eingeholt hat. Ich hatte sie in einem Park bei einem alten Mann gelassen, den ich auf der Flucht aus unserem Dorf kennengelernt habe, und bin losgegangen, um etwas zu essen zu organisieren. Der Park war voller Wagen und Handkarren: Tausende von Frauen, die Provianttaschen und Bündel mit Bettzeug zurechtlegten, und noch mehr Kinder, die nach Brot schrien. Ich hab die Bomber gehört und bin so schnell ich konnte zurückgerannt. Aber als ich ankam, war der Park …« Der alten Frau standen Tränen in den Augen. »Schwarz. Alles schwarz. Und still, ganz still.« Sie legt das Bild weg. »Jetzt sind wir allein, Rudi und ich. Es ist nicht einfach, alt und allein zu sein.«

»Es ist nicht deshalb …«, sagt der alte Mann. »Pauline war so intelligent. Und immer hat sie gelacht. Wir hätten ihr eine gute Ausbildung verschaffen können. Sogar ein Universitätsstudium. Sie hätt’ es verdient, zu leben. Armes kleines Ding. Sie hatte nie eine Chance.«

Irene Janowitz schüttelt den Kopf. Warum sind die Menschen so abergläubisch? »Selbstverständlich werde ich ein oder zwei kleine Passagen für Pauline einfügen«, verspricht sie der Frau. »Aber Sie dürfen diese Geschichten nicht glauben. Wie sollte auch ein Musikstück die Toten wieder zum Leben erwecken können?«

Irene Janowitz ist immer gerne bereit, ihr Requiem um die eine oder andere Passage zum Andenken an weitere Kriegsopfer zu ergänzen. Auch wenn die Musiker weltweit murren, weil sie das Requiem vor jeder Aufführung neu einstudieren müssen – das Publikum beschwert sich nie. Menschen, die mit harter Mühe ein oder zwei Noten lesen können, ackern sich durch Partituren, in denen es von Eselsohren wimmelt, und suchen nach den eingemerkten Stellen, den Passagen, die ihren Angehörigen gewidmet sind.

»Genau das hab ich meiner Frau auch gesagt«, meldet sich Mr. Seefeld. »Aber …«

»Sehen Sie, Maestra …«, Mrs. Seefeld schneidet ihm das Wort ab, »unsere Nachbarn sind aus Köln, und sie haben einen Sohn und drei Enkelkinder. Doch manchmal kann ich mich noch an sie erinnern, da hatten sie keine Enkel, und ihr Sohn war kurz nach dem Krieg an Typhus gestorben. Diese Erinnerungen sind alt – sie stammen aus einer Zeit, als ich noch nicht von ihrer Musik gehört hatte. Aber ich schwöre Ihnen, sie sind wahr.«

Der Mann starrt auf den Boden.

»Erwarten Sie bitte nichts Unmögliches.« Janowitz lächelt und schüttelt ihnen die Hand. »Danke für die Blumen«, ruft sie dem alten Paar nach, das zu seinem Auto geht. Dann öffnet sie ihrer Großmutter die Tür zur Bühne.

»Du solltest dich nicht mit Verrückten wie den beiden da abgeben, Irene«, sagt ihre Großmutter, nachdem die Tür zugefallen ist.

»Ach, Omi. Du redest schon wie Mom. Sie sind einsam und vermissen ihre Tochter. Der Kummer stellt merkwürdige Dinge mit den Menschen an – auch noch nach fünfzig Jahren.«

»Du solltest deiner Mama zuhören. Solltest dir ruhig einmal das eine oder andere anhören, das sie zu erzählen hat.«

Irene Janowitz zuckt die Achseln und geht durch den Flur zu ihrer Garderobe. Sie will noch ein letztes Mal die Partitur studieren, bevor die Aufführung beginnt. Sie läßt der alten Frau nicht anmerken, wie sehr sie die Begegnung mit dem Paar verstört hat. Auf früheren Mitschnitten ihres Kriegsrequiems sind Partien zu hören, die ihr vollkommen fremd sind – sie kann sich nicht daran erinnern, sie jemals geschrieben zu haben. Aber das, nimmt sie an, ist wohl nicht verwunderlich bei einem Werk, das ständig um neue Passagen ergänzt und erweitert wird. Was sie viel mehr beunruhigt, ist die Tatsache, daß sie sich an ein drei Seiten langes Solo für Waldhorn erinnern kann. Drei Seiten, die allem Anschein nach nicht vorhanden sind – obwohl sie schwören könnte, dieses Solo schon dutzende Male dirigiert zu haben. Sie könnte auch jederzeit die Namensliste der Solisten niederschreiben, sie hat sie alle noch im Kopf. Sollte sie das tatsächlich alles nur geträumt haben? So plastisch, in allen Einzelheiten? Einmal hat sie deswegen sogar, bevor ihr Agent sie davon abhalten konnte, den Leiter eines Aufnahmestudios angerufen und sich wegen der fehlenden Passagen beschwert. Ich sollte wirklich etwas sorgfältiger mit meinen Arbeiten umgehen, redet sie sich ins Gewissen. Und ist doch beinahe versucht, die Tatsache, daß diese Passagen fehlen, mit jenem Gerücht in Verbindung zu bringen, demzufolge Kinder wieder ins Leben zurückgekehrt sein sollen …

Die Großmutter küßt Irene und geht dann die Treppen hinauf in ihre Loge. Sie begrüßt den Vater der Dirigentin – der Sitz für Mari, die Mutter von Irene, ist noch nicht besetzt. Weil Ich gespannt bin auf die Musik der Janowitz, plaziere Ich eines Meiner transparenten Pseudopodien auf diesem Stuhl.

Das Pseudopodium ist blind. Bedauerlicherweise. Könnte es sehen, bräuchte Mich Meine Kurzsichtigkeit nicht weiter zu kümmern. Aber immerhin kann es hören, kann riechen, spüren und empfinden, was um es herum vorgeht. Mir allerdings bleibt nichts anderes, als von Mount Seymour aus durch die Wände des Konzertsaals zu spähen: die Klarinettisten, sehe ich (wenn auch etwas verschwommen und unscharf), setzen soeben ihre Instrumente zusammen.

»Sie kommt wohl nicht … Oder was denkst du?« fragt Anna Weber den Vater von Irene, Helmut Janowitz.

»Angeblich mußte sie zu einer Besprechung nach Cheyenne. Trifft sich mit dem Repräsentanten der Baufirma, die dort ein neues Einkaufszentrum baut.«

»Du weißt genausogut wie ich, daß Mari in ihrem Garten auf einem Steinbrocken hockt und auf den Ozean starrt – in diesem trostlosen Urwald, von dem sie behauptet, es handle sich dabei um einen Japanischen Garten.«

Als Mount Seymour besitze Ich ein Blickfeld, das auch das Haus der Janowitz umfaßt: Ich sehe eine Frau in den Fünfzigern, helles Haar, die auf das schwarze Wasser hinausblickt, auf das die untergehende Sonne rote Streifen zeichnet. Die Angst, von der sie beherrscht wird, ist so groß, daß sogar Ich sie am eigenen Leibe spüren kann.

»Warte mol. Der erzähl’ ich wos, wenn wir wem heimkummen[1]«, sagt die alte Frau. »Arme Irene. Sie will ihrer Mutter doch nur eine Freude machen – und jedesmal erleidet sie damit Schiffbruch.« Helmut Janowitz versucht, die alte Frau etwas versöhnlicher zu stimmen. »Mari hat Angst davor, mit ansehen zu müssen, daß irgend jemand Irene etwas antut. Sie wird einfach diese typisch deutsche Marotte nicht los: deutsch sein – das ist etwas, das man nicht in die Welt hinausposaunt. Laut Mari ist es etwas, über das man nicht spricht. Wie seine religiöse Überzeugung. Oder wie eine Geisteskrankheit. Hast du gewußt, daß sie sich bei unserer ersten Verabredung als Jugoslawin ausgegeben hat?«

»Aber warum denn bloß? Niemand schlägt sie mehr deswegen. Die Zeit ist vorbei.«

»Schläge sind bald vergessen. Ansichten und Einstellungen halten sich erheblich länger. Und außerdem – so meint Mari wenigstens – werden diese Schläge von den meisten auch heute noch gutgeheißen.« Helmut blättert sein Programmheft auf.

Anna ist jetzt beinahe versucht, ihm den wahren Grund zu nennen, warum Mari, die Mutter der Dirigentin, nicht kommt: Mari glaubt diese Geschichten. Mari glaubt tatsächlich, daß ihre Tochter, die Dirigentin, die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Und weil das Kriegsrequiem ursprünglich für Barbara, die andere Tochter der alten Frau, geschrieben wurde, hat Mari entsetzliche Angst davor, daß dieses Requiem Barbara wieder zurückbringt.

Anna hat ihr zwar zu verstehen gegeben, daß sie diese Geschichten für dummen Aberglauben hält. Andererseits aber muß sie ihrem Schwiegersohn durchaus recht geben: das, was Mari in den ersten zehn Jahre ihres Lebens erfahren mußte, hat schlimme Schäden verursacht. Trotzdem: den wahren Grund kann sie Helmut nicht nennen, wenn sie nicht will, daß er all die Lügen erfährt, die sie und Mari aneinander binden.

Anna ist gerührt, daß das Schicksal der seit langem verschollenen Barbara ihre Enkelin zur Komposition eines Requiems angeregt hat. Nur: Barbara ist nicht tot. Nicht für Anna. Vermißt – das ja; aber nicht tot.

Und deswegen hat Anna Irene auch gebeten, alle Passagen zu streichen, die ausschließlich dem Andenken an Barbara gewidmet sind. Sie hat die betreffenden Seiten der Partitur gerahmt und über dem Pflanztisch in ihrem Gewächshaus am Marine Drive aufgehängt. Manchmal scheint es der alten Frau, als zeichnete sich in den schwarzen Linien und Notenköpfen das Gesicht eines kleinen Mädchens ab.

Irene Janowitz, die hinter der Bühne auf ihren Auftritt wartet, empfindet ihrer Mutter gegenüber weit weniger Nachsicht. Barbara, Maris Schwester, war immer die Lieblingstochter von Anna Weber gewesen. Auch Irene hatte immer und immer wieder gehört, was für ein braves Kind die kleine Barbara doch war. Eigentlich nicht verwunderlich, daß Mari, ihre Mutter, eifersüchtig ist … Trotzdem wünscht sie sich nichts mehr, als daß sie sich wenigstens einmal ihre Musik anhören wollte, statt sich durch sie in Angst und Schrecken versetzen zu lassen.

Auf dem Weg zum Bühneneingang tritt die Dirigentin Janowitz auf den Saum ihres Kleids. Es fehlt nicht viel, und die komplette Partitur rutscht ihr aus der Ledermappe. Wie immer ist sie vor einer Aufführung des Requiems mit den Nerven am Ende – auch das Stimmen der Instrumente ändert nichts daran. Sie sitzt auf den Stufen, die von der Künstlergarderobe zur Bühne führen und ordnet die Notenblätter wieder ein.

Wird schon gutgehen, macht sie sich Mut. Es ist noch jedesmal gutgegangen, wenn die Musik sie einmal ergriffen hat.

Es ist still, als sie auf die Bühne tritt. Sie nickt dem Konzertmeister zu, verneigt sich tief vor dem applaudierenden Publikum und grüßt mit einem weiteren Kopfnicken zur Loge hinauf, in der ihre Großmutter, ihr Vater und Ich sitzen. Sie bedenkt den leeren Stuhl mit einem Blick, der eine Winzigkeit zu lang ausfällt.

Sie senkt den Taktstock, und Kampflärm setzt ein: Pauken, Bässe und Tuben schlagen die letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Dann setzt sich allmählich der Ton einer Flöte durch. Das Instrument intoniert ein Wiegenlied, eine lebhafte, französisch anmutende Melodie: Nanji’s Theme hat Irene sie genannt. Die Geigen fallen ein, schließlich die Bratschen, und bald schon fügt sich Deutscher Ernst zu französischem Elan.

Die alte Frau neben Mir schließt die Augen, als sie das Wiegenlied hört: für sich selbst heißt Anna Weber immer noch ›Nanji‹, das Wiegenlied hat sie immer für ihre Barbara gesungen. Die Musik ruft ihr jene Zeit ins Gedächtnis zurück, als es ihr noch möglich war, zu singen, ohne dabei traurig zu werden.


Lachend, neunzehn Jahre alt, so sieht sie sich in ihrer Erinnerung: lachend umarmt sie ihre Freundin Danitza und gibt ihr einen Gutenachtkuß. Erst als Danitza, die Tochter des serbischen Arztes, bei dem sie als Putzfrau arbeitete, mit ihrem Akkordeon vor ihrer Haustür stand, war Nanji aufgefallen, wie einsam sie gewesen war.

Anfang September 1944 war die letzte Fähre, mit der die Deutschen aus der nordjugoslawischen Provinz Vojvodina evakuiert wurden, über die Theiß gefahren. Wieder einmal hatte Nanji sich überlegt, ob es nicht vielleicht doch unklug war, zu bleiben. Aber Peter, ihr Mann, hatte studiert; er war an der Universität gewesen und wußte in solchen Dingen weit besser Bescheid als sie. Möglicherweise würden die Grenzen verändert werden, hatte er Nanji erklärt; sie bräuchten dann lediglich ihr Ungarisch etwas aufpolieren, und nichts würde ihnen geschehen. Außerdem müßte er wegen seiner leichten Behinderung (Peter hinkte: die Folge einer Kinderlähmung) sowieso nicht befürchten, daß er eingezogen würde – weder von den Tschetniks noch von den Deutschen. Und auch wegen seiner beruflichen Tätigkeit brauchten sie sich keine Sorgen zu machen. Mit seiner Stellung als zweiter Assistent des Kurators am Museum für Geschichte im Dorfbezirk St. Hubertus würde er bei den Kommunisten bestimmt nicht anecken – wie beinahe alle zehn Museumsangestellte rechnete auch er ganz sicher damit, daß er mit seinem Beruf dem neuen Regime nützlich war und deshalb weitermachen konnte.

Die Angst konnte er Nanji damit dennoch nicht nehmen. Allein die Tatsache, daß von allen Bewohnern der umliegenden Dörfer einzig und allein Danitza den Mut aufbrachte, sie zu besuchen … Danitza, die sie eben die von Alleebäumen gesäumte Straße entlanggehen sah. Die Kronen der jungen Bäume waren in Form geschnitten und saßen wie kleine runde Kugeln auf den Stämmen. Als Kind hatte sich Nanji gerne vorgestellt, daß unter der Dorfstraße riesige Pudel lebten. Wenn die Herbststürme durch Charlevil, St. Hubert und Soltur bliesen, durch die Straßen der drei Nachbardörfer, die die Ansiedlung Banatsko Veliko Selo bildeten, dann sah es aus, als wackelten die Pudel mit den Schwänzen – sie freuten sich auf das gute Fressen, das ihnen die Ernte bescheren würde.

An jenem Abend, als Danitza zum letztenmal zu Besuch kam, bewegte sich kein Blatt. Die Bäume hielten ihre Kronen still und unbewegt – wie ein Hund den Schwanz ruhighält, bevor er zubeißt.

Nanji hörte ein Geräusch, einen schnalzenden Knall, als klatschte Leder auf Leder. War es der Storch? Sie sah zum Kamin hinauf.

Meine Engel, denke Ich im ersten Moment: ohne Genehmigung auf Visitation gegangen. Doch dann, wenige Sekunden später, fällt es mir wieder ein: Nanji erinnert sich an den Krieg. Und Krieg, das bedeutet, daß Kinder sterben. Die Engel sind unterwegs, um sie zu sich zu holen.

Nanji war wieder ins Haus gegangen. Im Hinterhof hörte sie die Kuh muhen. Die Melkarbeit hat Peter übernommen, sie konnte sich also in Ruhe dem Besuch ihrer Freundin widmen. Peter hatte so oft über ihre Melkkünste gefrotzelt, hatte ihr vorgerechnet, wie lange sie das arme Tier malträtiere, daß Nanji schließlich – nach zwei Stunden Stichelei – das Mitleid überkam. Mitleid mit der Kuh, nicht mit Peter, der jetzt die Arbeit mit ihr hatte.

Sie zündete eine Lampe an, ging in die Gute Stube[2] und sah nach der schlafenden Barbara. Das Zweijährige trug ein weißes Spitzenhäubchen und verzog das rosige Milchgesichtchen zu einer mißbilligenden Schnute, als es der Lichtschein im Schlaf störte. Nanji blies die Lampe aus und sang leise ein Wiegenlied. Eben jenes Wiegenlied, dem im Augenblick im Konzertsaal in Vancouver Mein Pseudopodium hingerissen lauscht.

Nanji brauchte kein Licht, um das massive Holzbett zu finden. Das Bett, das die Vorfahren ihrer Großmutter vor beinahe zweihundert Jahren in ihrer Heimatstadt Charlevil, in der französischen Provinz Lorraine, gezimmert und mit Schnitzereien verziert hatten. Sie hatte Peter versprochen, sie würde ihm das alte Möbel – sobald sie sich ein modernes Bett für Barbara leisten konnten – für sein volkskundliches Museum überlassen.

Peter war aus dem Stall zurückgekommen, hatte sich zum Abendessen – geräucherter Schinken und Schwarzbrot – an den Tisch gesetzt, da hörte Nanji, wie jemand dröhnend gegen die hölzerne Tür hämmerte. Peter stieß den Stuhl zurück, sprang auf und zog Nanji von der Tür weg, die im selben Augenblick aufflog. Ein russischer Offizier hatte sie eingetreten. Mit gezogener Pistole stand er vor ihnen. Hinter ihm eine junge Serbin, eine Nachbarin aus der nächsten Straße.

Peter und Nanji waren verraten worden. Peter sprach ausgezeichnet serbisch. Kein Serbe – ein Russe schon gar nicht – hätte auch nur die Spur eines verräterischen Akzents feststellen können. Der Russe fuchtelte Peter mit der Pistole vor dem Gesicht herum, gab ihm so zu verstehen, daß er das Haus zu verlassen hätte.

»Kein Angst«, beruhigte Peter seine Frau, als er in seine Stiefel schlüpfte. »Wenn sie feststellen, daß ich nicht beim Militär war, lassen sie mich wieder laufen. Wirst schon sehen.«

Nanji hätte Peter nur zu gerne geglaubt, aber … Als Peter aus dem Haus ging, lief sie hinter ihm her und sah sich um: auf der Straße standen, in zwei Gruppen aufgeteilt, die deutschen Einwohner von Charlevil, Soltur und St. Hubert. Jede Gruppe wurde von einem Trupp Jugoslawen bewacht, von Partisanen, die abgerissene Hosen, britische Militärjacken und deutsche Knobelbechern trugen und mit italienischen Gewehren bewaffnet waren. In der einen Gruppe waren die Handwerker und Ladeninhaber versammelt: der alte, dicke Friseur Klinger; Anton Müller, der Bäcker; Schmidt, der Zimmermann, der Nanji den Kuhstall gebaut hatte, und andere, die sie nicht kannte. Peter wurde der anderen Gruppe zugeteilt: der Gruppe, in der schon Dr. Hoffmann, der deutsche Arzt, die deutschen Grundschullehrer und eine Reihe alter Männer standen, Großväter, die schon seit Jahren im Ruhestand waren.

Nanji lief ins Haus zurück, um Peters Mantel zu holen.

Ein schmächtiger Partisan, ein sechzehnjähriger Junge mit tief dunklem, von der Sonne verbranntem Gesicht, schnappte sich den Mantel und warf ihn sich über die Schulter. »Deutsche brauchen keine Mäntel …« Er sprach Serbisch mit ungewohntem, fremdem Akzent. Und lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht.

Die Männer wurden abgeführt. Nanji sah ihnen nach, bis sie an der nächsten Ecke in eine andere Straße einbogen. Über der Nachbarstadt Kikinda lag ein blendender Lichtglanz, heller als alles, was sie jemals gesehen hatte. Der Widerschein des russischen Granatfeuers, glaubte sie damals … Es waren Meine Engel, die die Gestorbenen heimholten.

Sie rannte ins Haus zurück, verriegelte das Gartentor und schob eine schwere Holzkommode vor die eingetretene Haustür. Das gelbe Licht der Lampe, die sie in die Gute Stube trug, dämpfte die leuchtenden Farben der Blumen und Vogelbilder, mit denen das Bett bemalt war, in dem die kleine Barbara schlief.


Mount Seymour, Kanada.

Wenn Ich die eben geschilderte Episode noch einmal Revue passieren lasse, dann wundert Mich eines: Warum, frage Ich Mich, warum erinnert sich Anna Weber nicht daran, daß sie auch nach Mari, ihrer anderen Tochter, gesehen hat?

Vielleicht erinnern Sie sich noch: Ich hatte eingangs erwähnt, daß Ich in die Herzen und Seelen von Männern und Frauen sehen kann. Daß ich allwissend bin … Genauer gesagt: allwissend sein kann, wenn es Mir gelingt, die Menschen dazu zu bringen, an das zu denken, was Ich kennen muß, wenn Ich etwas wissen soll. Vielleicht ist Mari ja mit gutem Recht eifersüchtig auf Barbara … Ich werde Mir etwas einfallen lassen müssen. Irgendeinen Trick, mit dem Ich Anna dazu veranlassen kann, sich daran zu erinnern, wie Mari als Kind war.

Die Musik dämpft Meine Neugier – heimlich lausche Ich wieder den Gedanken der alten Frau.

Selbst dann, wenn der dumpfe Widerhall weit entfernter Schüsse die friedliche Stille der leisen, ebenmäßigen Atemzüge der kleinen Barbara unterbrach, selbst dann gab Nanji die Hoffnung nicht auf. Nur ein paar Versprengte der deutschen Armee, die aus dem Hinterhalt auf die Russen schießen … Peter und die anderen Mitglieder seiner Gruppe würden die Partisanen bestimmt nicht erschießen. Nicht diese konzentrierte Ansammlung fundierten Wissens und jahrelanger Erfahrung vernichten, die der jungen, noch unerfahrenen kommunistischen Regierung Jugoslawiens nur nützlich sein konnte.

Jetzt, als die Pauken langsam von den Violinen übertönt werden und verstummen, denkt Anna Weber daran, wie die Zeit verging, wie aus Wochen Monate wurden, ohne daß sie etwas von Peter hörte. Wie sie sich ausgemalt hatte, daß Peter in Rußland dem Zauber einer wunderschönen russischen Bäuerin verfallen war, die ihn mit faszinierenden Geschichten von der Baba Jaga unterhielt, jener Großmutter, die den Zarewitsch in ihrem Haus gefangenhielt, das auf riesigen Hühnerbeinen stand.

Anna erinnert sich, wie die Jahre vergingen; wie sehr sie ihm eine zweite kleine Barbara und ein bißchen Glück gewünscht hatte.

Zwölf Jahre lang war Nanji glücklich mit diesen Wünschen, Gedanken und Vorstellungen. Bis sie dann eines Tages, 1956 in Toronto, von der Arbeit nach Hause ging (sie hatte eine Stelle als Putzfrau bei einer Bank gefunden) und in der Bloor Street Anton Müller traf, den Bäcker aus dem Viertel Charleville in Banatsko Veliko Selo, der gerade einen Drugstore betreten wollte.

Anton Müller war in der anderen Gruppe gewesen. Nicht in der Gruppe, der Peter zugeteilt worden war. Die Handwerker und Ladeninhaber hatten als einzige das Massaker der Partisanen überlebt.

Nanji brach im Eingang eines Juweliergeschäfts zusammen, vor der Ladentür, die bereits abgeschlossen war. Fiel mit dem Rücken gegen die hell erleuchtete Glastür, sackte zusammen und lag auf dem Boden: ein Häufchen Elend, das nach Peter schrie.

Passanten starrten sie an, als hätte sie eine unheimliche Krankheit. Keiner erkundigte sich, was ihr fehlte, niemand bot ihr seine Hilfe an. Nanji war froh darüber. Froh und dankbar. Ihr Traum, der jetzt geplatzt war wie eine Seifenblase – es war ein dummer Traum gewesen. Sie hätte sich niemals verständlich machen können. In einem Land, das so jung war wie Kanada, wie hätte irgend jemand in einem solchen Land verstehen können, daß sie zwölf Jahre gebraucht hatte, bis sie endlich zur Einsicht gekommen war, daß sie Peters Stimme nie wieder hören sollte – Peter, der sich darüber beschwerte, daß es so lange dauerte, bis sie die Kuh gemolken hatte.


Die Dirigentin Janowitz blättert die letzte Seite des ersten Satzes um.

Helmut Janowitz, registriere ich, erinnert sich an einen Streit zwischen seiner Tochter Irene und Mari. Anlaß war ein Zeitungsartikel, ein Interview mit der fünfzehnjährigen Irene Janowitz, der jüngsten Bewerberin, die jemals die Canadian Young Composers Competition gewonnen hatte. Irenes Mutter war wütend, weil sich ihre Tochter dem Journalisten gegenüber als Deutsche bezeichnet hatte. Und so war es auch gedruckt worden.

»Sie waren es, die uns das angetan haben: die Kanadier, die Amerikaner und die Briten. Vergiß das nie. An Orten wie Jalta oder Potsdam. Die jugoslawischen Partisanen haben nur ausgeführt, was die Briten und die Amerikaner möglich gemacht haben: sie haben die Verträge unterzeichnet. Wer hat entschieden, daß wir Deutsche sind? Wir nicht! Unsere Familie hat annähernd dreihundert Jahre in Jugoslawien gelebt. Wir sind genausogut Franzosen, wie wir auch Zigeuner und Ungarn sind.

Und im Baltikum? Und in den Teilen Deutschlands, die an Polen gegangen sind … Seit 800 haben Deutsche dort gelebt, seit mehr als tausend Jahren. Auch die, deren Vorfahren französische Hugenotten waren, haben seit dem sechzehnten Jahrhundert in Preußen gelebt … Man hat sie vertrieben. Alle.« Helmut erschrak, als er sah, wie das Gesicht seiner Frau sich veränderte: die grünen Augen wurden glasig, sie sah durch ihn hindurch, als stünde er nicht mit ihr im selben Raum.

»Humane Evakuierung! Frag deine Großmutter, wie human das war! Zwei Millionen Tote. Ein Stück Papier hat uns alle zu Deutschen gestempelt und uns alles genommen: unsere Heimat, unsere Familien … Und niemand hat sich einen Dreck drum gekümmert. Die größte Zwangsvertreibung in der Geschichte der Menschheit. Und? Haben dir die Kanadier in der Schule davon etwas erzählt?«

Helmut Janowitz konnte deutlich sehen, daß seine Tochter nicht wußte, was sie darauf antworten sollte. Üblicherweise sprach ihre Mutter nicht sehr viel, war undurchschaubar, war ihr ein Rätsel – sie hatte sie noch nie so aufgebracht erlebt. Sie wollte ihr nicht weh tun und wußte nicht, wie sie das anstellen sollte. »Was sind wir dann? Österreicher?« fragte sie.

»Österreicher! Diese Arschkriecher, die es sich in ihrem Gedächtnis so bequem eingerichtet haben! Sie lassen sich nicht gern dran erinnern, daß sie einmal in deutschen Uniformen aufmarschiert sind und meinen Vater mit vorgehaltenem Gewehr zum Militärdienst gezwungen haben.« Maris Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, die Irene Angst einjagte. »Und mittlerweile … mittlerweile haben sie es geschafft und die ganze Welt davon überzeugt, daß Beethoven Österreicher und Hitler ein Deutscher war. Und in der Wiener Innenstadt errichten sie den jugoslawischen Partisanen auch noch ein Denkmal! Nein! Wir sind keine Österreicher!«

Schließlich schaltete sich dann ihr Vater ein: »Mari! Sie ist doch noch ein Kind! Warum hörst du nicht auf damit?«

»Kapiert sie denn nicht, daß man über sie lacht? Sie ist um keinen Deut besser als irgendeiner von diesen kanadischen Reportern. Was sage ich: besser! Sie sollte sich schämen! Diese jämmerlichen Kniefälle, um ihren Herrn und Meistern zu gefallen: Seht her: Hab ich nicht brav meine Hausaufgaben gemacht? Schaut doch bloß: Ich bin wirklich nicht das Ungeheuer, für das ihr mich haltet! Natürlich – das war ich einmal. Aber ihr, liebe Kanadier, ihr habt mir die Augen geöffnet und mich vor mir selbst bewahrt. Entwürdigend ist das! Erst nehmen sie dir alles weg, und dann wollen sie dir weismachen, sie hätten es nur zu deinem eigenen Besten getan.«

»Was soll ihnen das Mädchen denn sonst sagen? Wenn sie die Volkslieder, die sie von ihrer Großmutter gelernt hat, als Themen in einer Symphonie verwendet?«

»Sie ist in Kanada geboren. Warum sagt sie also nicht, daß sie Kanadierin ist. Alles andere geht diese Schnüffler nichts an. Das kommt davon, wenn man zuläßt, daß die Alte sie Samstag für Samstag in die deutsche Schule schickt.«

Irenes Vater zuckte die Achseln, drehte sich um und sah das Mädchen an: »Von jetzt ab bist du Kanadierin. Hast du verstanden?«

Irene nickte. Sie hatte ihre Mutter nicht ärgern wollen.


Irene Janowitz hebt wieder den Taktstock. Die Geigen intonieren eine anmutig luftige russische Melodie, die zunehmend melancholischer wird, als eines nach dem anderen die tieferen Streichinstrumente einfallen.

An dem Tag, als Peter abgeführt wurde, ging Nanji früh am morgen aus der Guten Stube – vorsichtig, um die kleine Barbara nicht zu wecken. Arbeiten würde ihr das Warten auf eine Nachricht von Peter leichter machen. Sie zog ihre ältesten Schuhe, ein Paar abgetragene Hosen von Peter und einen dünnen Pullover an, ging in den Garten und flocht frische Knoblauchbünde zu langen Zöpfen, die sie dann in der Speisekammer aufhängen wollte.

Ein Junge, ein Knirps noch, stürmte durch das Gartentor. »Raus!« schrie er. Das Gewehr, das er trug, war größer als er selbst … Aber Nanji hatte die vergangene Nacht noch nicht vergessen, das Dröhnen der Schüsse hallte ihr noch in den Ohren.

»Ich muß erst das Baby holen«, sagte sie auf Serbisch.

»Nein. Nix Baby!« schrie der Junge.

Sie hätte sich nicht um ihn gekümmert, wenn ihn nicht im gleichen Augenblick ein russischer Feldwebel zur Seite geschoben hätte und in den Garten gekommen wäre. Er steckte Nanji die Pistole in den Mund. Sie hatte den Geschmack von Maschinenöl auf der Zunge, den Geschmack von Stahl. Schweißtropfen traten ihr auf die Stirn, liefen ihr in die Augen, brennend, beißend. Sie roch Schwefel, den Geruch von abgebranntem Schießpulver. Den Tod, der noch frisch war.

»Dawai!« brüllte der Russe schließlich. Sie schloß die Augen, Tränen quollen unter den Lidern hervor. Er hatte nicht vor, sie zu töten. Sie nickte und folgte ihm wortlos. Was hätte Barbara davon, wenn sie sterben würde?

Draußen, auf der schlammigen Straße, stieß Nanji zu einer Gruppe Frauen und Mädchen. Deutsche wie sie. Auf dem Bürgersteig hinter ihnen stand Danitza Milovic, Nanjis serbische Freundin. Sie zeigte auf Nanji. Ihr Vater könne ohne Putzfrau nicht arbeiten – sie stritt sich mit dem russischen Hauptmann. Der Offizier stieß Danitza mit dem Gewehrkolben in die Seite – sie lag im Straßendreck. Die Soldaten lachten. Der Feldwebel empfahl ihr, sie sollte lieber selbst lernen, wie man mit einem Besen umgeht.

Als sich Nanji hinter den anderen Frauen einreihte, sprach sie leise den kurzen Vers vor sich hin, den sie immer flüsterte, wenn sie an einem bissigen Hund vorbeigehen mußte. Sie änderte allerdings den Wortlaut – vielleicht konnte sie dadurch die Russen dazu bringen, sie noch einmal zurückgehen und Barbara holen lassen: »Russ, aldr Russ, bleck de Zäh, daß ich newe dranner kann gea …«[3]

Noch bevor die Kolonne der Frauen die wenigen Kilometer bis zur rumänischen Grenze zurücklegt hatte, löste sich die Sohle an Nanjis linkem Schuh. Sie ersetzte sie durch eine alte Zeitung, die am Straßenrand lag. Sie hielt zwei Stunden. Nanji riß einen Stück von ihrer Baumwollbluse ab und wickelte es um den Schuh – der Stoffetzen machte ihr zwar das Gehen auf dem spitzen Straßenschotter leichter, hielt aber Regen und Schnee nicht ab … Platsch, Auf Wiedersehen; Platsch, Auf Wiedersehen … Mit jedem Tritt in Schlamm und Matsch wurde sie daran erinnert, daß sie Barbara zurückließ.

Und Mari? wundere Ich Mich. Warum denkt sie nicht an Mari?

Nanji wurde in einen Güterwaggon gesteckt, in dem es kein Fenster gab, keinen Ofen. Die Toilette: ein Loch im Boden. Kein Wasser, um sich zu waschen, schon nach wenigen Tagen die erste Typhustote. Andere, die der Infekt verschonte, starben einen langsameren Tod. Sie erfroren.

Nach drei Tagen gab man Nanji einen verbeulten Blechnapf: Heißes Wasser, in das die russischen Soldaten eine Kartoffel warfen. Manchmal schwamm in ihrer täglichen Heißwasserration keine Kartoffel, sondern ein Klumpen Zucker. Auch wenn sie halb verhungert war – es würgte sie, sie erstickte fast daran, wenn sie an die kleine Barbara dachte, die in der Guten Stube aufwachte, und keiner war da, der sie fütterte.

Die Frau neben Nanji hatte drei Kinder zurückgelassen. Sie brüllte sie an: »Du hilfst der Kleinen nicht, wenn du verhungerst, Nanji. Also iß, trink und denk an den Tag, an dem sie dich wieder nach Hause lassen!«

In Vancouver, im Konzertsaal, wischen die Besen über die Becken, zischen im monotonen Rhythmus der Räder, die über endlose Schienenstränge rollen, Hunderte von Kilometern weit. Nach neunzehn Tagen war die Fahrt zu Ende, der Zug hielt in einem Güterbahnhof im Ural. Die Frauen wurden aus den Waggons geholt. Die Ukrainer, die die Leichen abtransportierten, spuckten Nanji vor die Füße, machten einen weiten Bogen um sie und fluchten: »Dreckige Nemetzki!«

Nachdem sich ihre Augen an das Tageslicht gewöhnt hatten, wußte sie auch warum: Nie im Leben hatte sie einen verdreckteren Haufen Frauen gesehen. Und erst der Gestank … Selbst im Viehstall des faulsten Bauern hatte es nicht so scheußlich gestunken.


Janowitz hat den Musettewalzer für ihr Requiem deshalb geschrieben, weil das Akkordeon das Lieblingsinstrument ihrer Mutter ist. Der Klang der Ziehharmonika verzerrt und verformt das Wiegenlied, verwandelt es in ein Klagelied.

Am selben Tag noch rückte Nanji in eines der Lager des Gulag ein. Die Wärter ließen sie ihre Kleider in eine Metalltonne werfen. Sie wurden verbrannt. Nanji badete – eine Wohltat, auch wenn das Wasser kalt war. Eine Krankenschwester filzte ihr langes schwarzes Haar, es wimmelte von Läusen.

Pizzikati: die Geiger zupfen rasende Läufe.

Nanji hatte nicht mehr geglaubt, daß sie, nachdem sie Peter und Barbara verloren hatte, noch zu irgendeiner Gefühlsregung fähig sein könnte. Doch als ihr die Krankenschwester den Kopf scherte, weinte sie. Lisa, ihre Großmutter, hatte immer gesungen, französische und deutsche Lieder gesungen, wenn sie Nanji die Haare zu festen Zöpfen flocht.

Nanji wurde abgeführt. Wurde mit den anderen Frauen, die nackt waren wie sie, in ein enges Zimmer gebracht, in dem drei Ärzte an einem Tisch saßen und bereits auf sie warteten. Einer dieser Ärzte trat vor sie hin, kniff sie in den Oberarm und zwickte sie in den Hintern. Dann schrieb er etwas auf ein Blatt Papier und reichte den Zettel an einen Sanitäter weiter. Der Sanitäter händigte ihr eine wattierte Jacke, eine Hose und Gummistiefel mit Filzeinlagen aus.

An Barbaras drittem Geburtstag ging Nanji zum erstenmal in die Kohlegruben. Zwölf Stunden stand sie Tag für Tag in eiskaltem Wasser, sortierte Kohlen und verlud sie auf Handkarren. Die Arbeiterinnen in den Kohlegruben wurden naß bis auf die Haut und waren ständig erkältet. Nanji aber hielt durch. Hätte sie sich bei den Aufsehern krank gemeldet, wäre sie in ein mit Wasser gefülltes, niedriges Loch unter der Baracke gesperrt worden. Dort hockten die Kranken während der Arbeitszeit auf einem Eisenrost, nur wenige Zentimeter über dem Wasser. Die Russen nannten es Das Krankenhaus.

Zwei Wochen lang durfte Nanji, nachdem der Arzt sie untersucht hatte, in der Küche arbeiten. Es war eine leichte Arbeit, und sie kam wieder etwas zu Kräften. Einmal – der Koch hatte ihr gerade den Rücken zugewandt – stahl sie drei Heringsköpfe und ein paar Kartoffelschalen aus dem Abfalleimer.

Nanji stand oft kurz davor aufzugeben. Jeden Tag zwang sie sich, aus dem Bett zu steigen und sich zu waschen. Die Frauen, die noch am Leben waren, hatte alle ihr bestimmtes Ritual, das ihnen half durchzuhalten. Die Ostpreußinnen rissen ihre Witzchen über die Moskauer Modefirma Stalin, die ihre elegante Arbeitskleidung schneiderte. Die Unterhosen, die diese Modeschöpfer lieferten, hätten einem dreihundert Pfund schweren Mann gepaßt. Es war nicht ihre Schuld – die wässrige Kohlsuppe war schuld: sie ließ die deutschen Frauen einfach nicht zu solch stattlichen Dimensionen heranwachsen.

Die Pommerinnen beteten während der Arbeit.

Nanji sang die Lieder, die ihre Großmutter Lisa gesungen hatte – sie mußte überleben, damit sie sie Barbara beibringen konnte. Niemand würde sie sonst mehr singen.

Im Winter wurden die Baracken mit einem kleinen Ofen geheizt. Nur in den Schlafkojen, die in der vordersten Reihe und unmittelbar neben ihm standen, war zu spüren, daß der Ofen auch Wärme abstrahlte. In der Hauptsache aber verräucherte er nur die Baracken und ganz besonders die oberen Etagen der Stockbetten. Trotzdem wollte Nanji lieber dort oben schlafen als in den zwei unteren Etagen, wo einem die Kakerlaken Wimpern und Augenbrauen wegfraßen.

Wenn sie nachts pinkeln mußte, kroch sie die oberen Pritschen entlang, bis sie an das Holzfaß an der Tür kam – begleitet von den Flüchen und Verwünschungen der Schläferinnen, über die sie hinwegkletterte.

Wenn eine von ihnen starb, und wenn Nanji sie verscharren mußte, brach sie mit einer Spitzhacke den gefrorenen Boden auf. Sie versuchte es zumindest. Aber kaum hatte sie ein paar Zentimeter Erde weggescharrt, da verließen sie die Kräfte. Mehr ging nicht – es mußte eben genügen.

Barbara war vier, als Nanji zu husten begann. Nach der Untersuchung eröffnete ihr der Arzt, daß sie nach Hause könne. Der Zug kam auch tatsächlich an. Er brachte sie allerdings nicht nach Hause, sondern zum Ernteeinsatz in eine Kolchose. Auch dort starben die Menschen. Aber trotzdem hatte es Nanji hier besser: Die Aufseherinnen, die die deutschen Frauen jeden Morgen aufs Feld brachten, waren so alt wie sie, und mittlerweile sprach sie verhältnismäßig gut Russisch. Die russischen Frauen nannten sie Nimki – ihr deutsches Schätzchen. Sie steckten ihr etwas von dem Obst und Brot zu, das sie mit Genehmigung der Genossenschaft in kleinen Proviantspeichern entlang des Wegs einlagern durften, und schärften ihr ein, mit niemandem darüber zu sprechen. Nimkis mit Lebensmitteln versorgen – darauf standen fünf Jahre Zwangsarbeit.

An manchen Tagen war es so heiß, daß allein das Atmen zur Schwerarbeit wurde. Trotzdem war die Kolchose besser für sie als das kalte und feuchte Bergwerk. Tagsüber pflanzte sie Kartoffeln, nachts schlich sie sich aufs Feld zurück und grub sie wieder aus. Sie aß sie roh. Schlang sie gierig hinunter und nahm sich kaum die Zeit, die giftigen Triebe abzubrechen, um nur ja den Bauch vollzukriegen, bevor sie möglicherweise jemand entdeckte.

Eines Morgens – es war in dem Jahr, als Barbara sechs wurde – blieb das Pfeifsignal aus, das die Insassen des Bergwerkslagers zur Arbeit weckte. Acht Tage lang blieb es aus. Die Lagerinsassinnen erhielten eine Extraration Verpflegung, wurden in ein anderes Lager verlegt, in dem Matratzen auf den Schlafpritschen lagen, und Nanji erhielt neue Kleidung. Am Ende der Lagerstraße, in einem Sektor, der mit einem hohen Zaun abgesperrt war, waren deutsche Kriegsgefangene einquartiert.

Tagsüber mußten die Insassinnen nähen, und abends führten die Kriegsgefangenen russische Theaterstücke auf – Tschechow etwa, in deutscher Übersetzung. Es gab Kostüme, es gab ein Bühnenorchester, es waren großartige Inszenierungen.

Drei Wochen lang war Nanji in diesem Lager. Das Rote Kreuz kam zu Inspektionsbesuchen, Abordnungen der UN, und die eine oder andere Insassin erhielt Päckchen und Briefe von zu Hause.

Für Nanji war nichts dabei.

Dann wurde sie wieder verlegt. Kam in ein anderes Lager, arbeitete im Straßenbau und hob Entwässerungsgräben aus. Um zwei Kubikmeter – ihr Tagessoll – zu schaffen, mußte sie in den meisten Fällen bis spät in die Nacht arbeiten.

Nach einem Jahr – ihr Husten war inzwischen eher noch schlimmer geworden – brachte man Nanji auf einen Verschiebebahnhof. Mit mehreren anderen Frauen trat sie auf dem Bahnsteig an, um eine Ansprache zu hören, in der ihnen – auf Russisch – versichert wurde, die Sowjetunion würde die deutschen Frauen nie vergessen (dicke Krokodilstränen rollten dem Redner dabei über die Wangen), die durch schwere Arbeit einen wichtigen Beitrag leisteten und der UdSSR dabei halfen, die durch den Krieg verursachten Schäden und Mängel wieder zu beheben und zu überwinden.

Und was ist mit meiner Barbara? Mit den deutschen Kindern? Nanji hätte am liebsten geschrien.

Zu ihrer Überraschung wurde sie dann tatsächlich zu einem Güterzug geführt, der sie nach Hause bringen sollte.

Doch als sich der Zug dann in Bewegung setzte und in Richtung Norden abfuhr, schrie sie vor Entsetzen. Nach Hause: das hieß für die Russen Deutschland. Nicht Jugoslawien.

Sieben Tagen dauerte die Fahrt. Nach sieben Tagen kamen sie in Frankfurt an der Oder an. Furcht und Elend packten sie, Nanji krümmte sich, als sie die Lautsprecher schnarren hörte: »Achtung, Achtung. Bahnsteig bitte räumen. Die Kriegsverbrecher aus dem Osten treffen ein.« Sie war Bäuerin gewesen, Putzfrau, hatte im Bergwerk gearbeitet und als Totengräberin, war Köchin gewesen, Diebin und Arbeiterin im Straßenbau. Jetzt war sie eine Kriegsverbrecherin aus dem Osten, und die Ostdeutschen wurden angewiesen, den Bahnsteig zu räumen, um zu verhindern, daß sie sich infizierten, wenn sie mit ihr in Kontakt kamen.


Maestra Janowitz gibt das Zeichen zum Einsatz. Die nächste Passage ist impressionistisch, atonal: ein Tongemälde des vom Bürokratismus geprägten zwanzigsten Jahrhunderts.

Trotz der Lautsprecherdurchsagen räumten nicht alle die Bahnsteige, erinnert sich Anna Weber. Sie erinnert sich an ein Meer von Fremden: Fremde, die nach Gesichtern suchten, die sie schon beinahe vergessen hatten.

Auf Nanji wartete niemand.

Einmal hörte sie Schritte hinter sich – ein Bremser, der die Waggontüren kontrollierte.

Die Dirigentin blättert die Seite um.

Ich fühle, wie sich die Erinnerungen der alten Frau an jenen Moment, als sie aus dem Zug stieg, trüben, wie die Bilder verschwimmen. Wie an ihre Stelle wieder jenes andere Bild tritt: das Meer der fremden Menschen, die nach kaum mehr erinnerten Gesichtern forschen.

Niemand wartete auf Nanji.

Einmal hörte sie Schritte hinter sich. Es war ein Engel des Herrn.

Er stand am Zugende, neben dem letzten Waggon, und das Federkleid seiner Flügel verstrahlte ein grausam helles, weißes Licht. »Ich überbringe dir eine Botschaft des Himmels.« Langsam schwebte er auf sie zu.

Mashhit war es, der Engel der verstorbenen Kinder – durch Raum und Zeit unterwegs in nicht autorisierter Visitation. Im ersten Augenblick fürchte Ich, Meine Engel hätten das Geheimnis der Musik von Irene Janowitz entdeckt. Aber dann werde ich gewahr, was Mashhit noch gesagt hat:

»Der Himmel hat dich verschont. Er hat dir dein Martyrium erspart. Aber dafür mußt du jetzt bezahlen. Du wirst einen Enkelsohn haben. Doch nie sollen seine Lippen eine Trompete berühren, nie darf er die Kenntnis der Notenschrift erwerben noch die Fähigkeit, ein Instrument zu spielen.«

Ein Enkelsohn! Welch selbstgerechte, voreingenommene Geschöpfe Meine Engel doch sind! Maestra Janowitz ist noch eine kleine Weile außer Gefahr.

Anna Weber erinnert sich: Als sie Mashhits Worte hörte, empfand sie Freude und Trauer zugleich. Ein Enkelsohn – das hieß, daß sie ihre Tochter Barbara wieder finden würde. Es hieß aber auch, daß die Lieder ihrer Großmutter Lisa für immer verstummen würden.

Und dann erinnert sich Anna Weber daran, daß ihre Trauer ein Ende fand, daß sie nur noch Freude empfand: damals, als sich herausstellte, daß der Enkelsohn, den der Engel ihr prophezeit hatte, eine Enkeltochter war. Eine Enkelin, deren beispielloses Talent noch weit mehr leisten würde, als nur zu verhindern, daß Lisas einfache Volkslieder in Vergessenheit gerieten. Und das war etwas, das sie selbst in ihren verwegensten Phantasien nicht zu träumen gewagt hätte.

Mein Pseudopodium registriert, daß im Publikum sechs weitere Menschen sitzen, die sich an eine Engelserscheinung in den Jahren nach dem Krieg erinnern.

Sie werden Mir für diese Einmischung büßen müssen, Meine Engel. Ob Ihnen wohl Meine Abwesenheit im Himmel schon aufgefallen ist?

Ich lasse ein zweites Pseudopodium vom Mount Seymour herabsteigen, schicke es aus, um herausfinden, ob sich irgendeiner von ihnen mit Mir auf der Erde aufhält. Und entdecke Mashhit. In Akron, Ohio, wo er häufig die Gestalt eines Gastes in einer Fernseh-Talkshow annimmt. Und zwar immer dann, wenn er festzustellen meint, daß der ›Nachschub‹ an Seelen, die er für seine Engelschar benötigt, zu stocken scheint.

Unter dem Namen Menge Kifkif ruft er bei diesen Auftritten die USA dazu auf, die Vertreibung der Palästinenser aus dem Heiligen Land zu unterstützen. Zum Beweis dafür, daß ein derartiges Vorhaben eine ehrbare Tradition besitzt, nennt er als Präzedenzfall die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa. Auch sie sei mit Unterstützung der Engländer und Amerikaner durchgeführt worden, human und wohlgeordnet, wie er ausführt, und ohne Verluste an Menschenleben.

Zitternd hört das eine Zuschauerin aus Akron: Die erste Frau ihres Onkels Willi ist beim Versuch, über das zugefrorene Haff zu fliehen, mit ihren Söhnen – zwei waren es, Kinder noch – erfroren. Und als sie feststellen muß, daß Mashhit es raffinierterweise so eingerichtet hat, daß während seines Auftritts in der Sendung keine Zuschaueranrufe durchgestellt werden können, geht sie in die Küche und holt den Toaster. Trägt ihn ins Wohnzimmer und zertrümmert den Bildschirm – zum Andenken an die erste Familie ihres Onkels.

Ich mache mich schleunigst davon. Mashhit soll nicht wissen, daß ich in Akron bin.


Die Dirigentin Janowitz wirkt erschöpft, als sie zu Beginn des letzten Satzes den Taktstock hebt. Heimlich wirft sie rasch noch einen Blick in Meine Loge, um festzustellen, ob ihre Mutter inzwischen gekommen ist.

Mari sitzt nach wie vor in ihrem Haus am Marine Drive, immer noch starr vor Angst vor den möglichen Folgen von Irenes Symphonie. Um sich von dieser Angst etwas abzulenken, beschließt sie, ein Wacholderbäumchen ihrer Bonsaikollektion neu aufzubinden. Dazu muß Mari erst ins Gewächshaus ihrer Mutter und Blumentopferde holen – der Wacholder muß umgetopft werden, er ist zu groß geworden.

Sie geht über die schmale Brücke, die in ihren japanischen Garten führt, klettert die bemooste Uferbank hinunter in den Bach, der ohne Wasser ist. Steine, flach wie Untertassen, wie Fischschuppen übereinandergelegt, stellen einen Bach dar, der ins Meer zu fließen scheint. Farnwedel, filigran wie Klöppelspitze, besprenkeln mit hellgrünen Farbtupfern das olivgrüne Moos, die grauen Steine, Maris bleiche Füße.

Der Bachlauf endet an einer runden Öffnung in der Gartenmauer, durch die – blickt man vom Haus her auf sie – das hinter der Mauer liegende Meer in den Garten geholt wird: das Shakkei.[4] Nicht weit von ihm die Treppe, über die man in Anna Webers Gartenareal hinuntersteigt, das einen Teich umschließt.

Anna Webers Garten: Ein planlos disharmonischer Farbenwirrwarr … Mari rümpft die Nase. Ihr Garten schafft – wie ihre Bauten – einen Raum der Ruhe, mit ihm hat sie das Chaos in einen Ort der Ordnung verwandelt. Ganz anders die Pflanzungen ihrer Mutter: Sie sind eine obszöne Verherrlichung des Chaos. Spalierbäume – Birnen, Äpfel, Pfirsiche – ziehen sich die Wände entlang, ein Konfettiwirbel aus Petunien und Kapuzinerkresse liegt wie ein grellbuntes Karnevalskostüm über Zwiebeln und Knoblauch. Aus den Tontöpfen am Teich quellen rote Geranien, ergießen sich über das Ziegelsteinpflaster. Annas Leben ist eine chaotische Ereigniscollage. Wie die Tauben in dem kleinen Verschlag hinter ihrem Gewächshaus taumelt auch Anna bewußtlos durchs Leben, berauscht von der Gischt der See und dem Licht der Sonne. So wenigstens sieht es Mari.

Maris Leben dagegen ist ein geordnetes, lineares Fortschreiten von Ereignis zu Ereignis, durchdacht und zweckmäßig strukturiert wie ihr Garten. Inmitten einer Welt des Chaos und des Lärms errichtet ihr Leben Ordnung – wie auch ein symphonisches Werk der Musik das tut. Wie die Musik eines jeden Komponisten das tut – mit Ausnahme der Musik ihrer Tochter.

Ich richte Meine Aufmerksamkeit wieder auf den Konzertsaal. Die Musik setzt ein: Melodien, die die fünfziger Jahre wieder aufleben lassen.

Die alte Frau erinnert sich, wie sie in Westdeutschland, im Lager Friedland, von einem Arzt des Roten Kreuzes untersucht wird. Befund: Behindert, neunzig Prozent. Sie wiegt nur noch achtzig Pfund. Sie hatte die Lager nur überleben können, weil sie jedes Feingefühl erstickt und abgetötet hatte. Als man sie dann im Krankenhaus, zum erstenmal nach sechs Jahren, nicht mehr wie eine Sklavin oder ein exotisches Schoßtier, sondern wieder wie einen Menschen behandelte, reagierte sie leicht verwirrt: Sie hamsterte altes Brot unter dem Kopfkissen und verrichtete ihr Geschäft auf dem blank geputzten Linoleumboden neben dem Bett.

Sie bemerkte, daß die Krankenschwestern den Kopf schüttelten, als sie ihre Fieberkurve studierten. Sie hörte sie flüstern, irgend etwas von ›Monaten‹ flüstern. »Nein!« Schreiend sprang sie aus dem Bett. »Meine Tochter!«

»Holt Schwester Patrizia! Schnell!« befahl die Oberschwester. »Gnädige Frau! Bitte! Ein Moment.«

Und dann kam Schwester Patrizia ins Zimmer. »Ist das die aus Jugoslawien?«

Die anderen Schwestern nickten.

Schwester Patrizia winkte die junge Frau heran, die hinter ihr stand: zweiundzwanzig Jahre alt, strenges Gesicht, graubraunes Kostüm. »Nanji – das ist Fräulein Roswitha Kepner«, sagte Schwester Patrizia. »Von der Christlichen Hilfsgemeinschaft. Wenn du dich jetzt bitte wieder in dein Bett legen würdest – Fräulein Kepner will dir helfen. Vielleicht findet sie heraus, was mit deiner Tochter passiert ist.«

Schwester Patrizia nahm Nanji in den Arm und brachte sie ins Bett zurück.

»Grüß Gott.« Die Frau in Grau nickte Nanji zu. »Darf ich auf dem Stuhl neben Ihrem Bett Platz nehmen?«

Nanji zuckte gleichgültig die knochendürren Schultern. Sie sammelte all ihre Erinnerungen an Barbara zusammen, verräumte und versteckte sie wie ein eng geschnürtes Bündel tief in ihrem Gedächtnis und kroch wieder ins Bett.

»Ist Ihnen schon einmal gesagt worden, was mit unseren Leuten passiert ist, die zurückgeblieben sind?«

Nanji starrte aus dem Fenster.

Jetzt war es so weit: Sie wollten ihr den Traum rauben, der sie in den russischen Lagern am Leben gehalten hatte. Sie wußte es. Die Schlinge zog sich zusammen, zog sich immer enger zusammen.

»Sagt Ihnen der Name Gakowa etwas? Rudolfsgnad, Jarek … Molindorf?«

»Das sind Städte in Jugoslawien. Molindorf ist nicht weit von meinem Heimatdorf«, sagte Nanji reserviert. Wer war diese Frau? Wie kam sie dazu, so mit ihr reden, wenn sie nur eines wollte: ihr kleines Mädchen wiederfinden? War es ihr gleich, was Nanji in Rußland durchgemacht hatte?

»Es war überall das gleiche«, sagte die junge Frau. »Mich hat man nach Gakowa gebracht. Ihre Familie ist möglicherweise nach Molindorf gekommen. Zwanzig Deutsche in einem Zimmer. Vierzig in einem Haus. Und als alle Häuser belegt waren, haben sie in der Mitte der Hauptstraße einen Stacheldrahtzaun gezogen, und die Stadt in zwei Hälften geteilt. Dann noch einen Stacheldrahtzaun rund um die ganze Stadt. Die Alten und die Kinder, die noch zu klein waren, um zu arbeiten, kamen in die eine Hälfte, die größeren und kräftigeren Kinder und die jungen Erwachsenen in die andere.

Wir durften nichts mitnehmen, als uns die Partisanen zusammentrieben. Nur die Kleider, die wir am Leib trugen. Mit sechzehn war ich aus meinen Sachen herausgewachsen. Wenn wir vom Feld nach Hause gingen, haben wir bei den Bauern Kartoffelsäcke geklaut. Es hat nicht viel genützt – wir mußten auch weiterhin den Spott der serbischen Jungen einstecken. ›Was seid ihr denn? Jungs oder Mädchen?‹ haben sie von den Lastwagen heruntergeschrien, wenn sie an den Feldern vorbeigefahren sind, auf denen wir arbeiteten. ›Jungs natürlich! Sieht man doch an unseren geschorenen Köpfen, oder?‹ schrie Ingrid, die in unserem Arbeitstrupp war. ›Gelogen!‹ schrien die Jungen zurück und deuteten sich auf die Brust. Unsere Kartoffelsäcke verhüllten nicht allzu viel. Und einige hatten nicht einmal etwas zu verhüllen.

Im Arbeitslager Gakowa bekamen wir morgens ein kleines Stück Maismehlbrot. Etwa so groß wie mein Hand – das war alles.« Sie hielt Nanji die linke Hand hin, die rot war und rauh. »Dann mußte ich entscheiden: Alles auf einmal essen und dafür zweimal am Tag hungrig sein? Oder in zwei Stücke brechen und nur noch einmal hungern? Oder in drei Stücke und dafür den ganzen Tag über ein bißchen hungrig sein?« Sie zog die rechte Hand über die linke und unterteilte sie in drei Abschnitte. »Die Kleinkinder und die Alten, die nicht mehr arbeiten konnten, bekamen nicht einmal das. In den wenigsten Lagern haben Kinder überlebt, die jünger waren als zwei Jahre.«

»Warum tun die Menschen einander so etwas an?« fragte Nanji.

Fräulein Kepner sprach weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Nach einer Zeit wurde es in manchen Fällen in den Lagern in der Stadt ein wenig besser. Die serbischen oder ungarischen Verwandten der Insassen, die in der Nähe lebten, durften ihrer Schwägerin, ihrer Nichte oder wem auch immer Lebensmittel durch den Zaun zustecken. Sprechen durften sie allerdings nicht mit ihnen. Die Außenwelt sollte nicht erfahren, was hinter dem Stacheldraht vorging.

Am schlimmsten aber« – Fräulein Kepner zitterte, wenn sie daran dachte –, »schlimmer als alles andere war, daß mir nach einem Jahr meine Schuhe zu klein wurden. Mehr als drei Jahre mußte ich barfuß gehen. Immer und überall, ob Viehweiden oder Stoppelfelder … Meine Füße waren immer wund und blutig.

Eines Tages wurden wir, die Mädchen, von den Aufsehern schon vor Tagesanbruch aus dem Bett geholt. Jede von uns bekam eine lange Stange und einen Sack mit Kalk ausgehändigt. Zwischen unserem Haus und dem Nachbarhaus war ein Grab, in dem die Leichen in neun oder zehn Schichten übereinanderlagen, unter einer zwanzig Zentimeter dünnen Schicht Erde. Leichenbestattungen fanden immer nachts statt – für gewöhnlich innerhalb der Häuser, im jeweils größten Raum, damit die örtlichen Bauern keine Angst vor den Partisanen, ihren Befreiern, bekamen. Aber mit der Zeit war der Platz knapp geworden.« Einen kurzen Augenblick lang lag ein spöttisches Lächeln auf dem Gesicht der jungen Frau. »An jenem Morgen war es dann soweit: Gasblasen waren aus dem Grab aufgestiegen, Leichengas. Und weil unser Haus am äußersten Lagerrand stand, fürchteten die Aufseher, die Anwohner könnten sehen, daß etwas aus dem Boden stieg, das sie nicht sehen durften. Ich mußte barfuß über das Grab gehen, mit meiner Stange Löcher in die Erde bohren und Kalk in jedes Loch schütten. Bei jedem Tritt schaukelte und schwankte der Boden unter mir wie eine Schüssel Wackelpeter.«

Sie blickte auf ihre großen, schrundigen Hände. »Es tut mir leid. Wenn Ihre Tochter noch zu klein war, um arbeiten zu können, dann sieht es nicht gut aus. Für uns, die älteren Kinder, war es nicht recht viel besser. Ich hatte Glück. Die Kolchose, an die ich verkauft wurde, verpachtete meine Dienste täglich an einen Bauern. Ich war sein Viehhirte und hatte siebzehn Schafe, zwei Esel und drei Ziegen zu hüten. Draußen auf dem Feld, wo mich keiner sehen konnte, trank ich die Milch.

Jeden Morgen, wenn ich mit den Tieren auf die Weide ging, kam ich an einer anderen Kolchose vorbei. Fünfzig deutsche Mädchen, alle in meinem Alter, lebten dort. Wenn es mir möglich war, blieb ich für einen kurzen Schwatz stehen. Nach zwei Jahren waren nur noch vier am Leben.«

»Es muß schrecklich gewesen sein für Sie«, sagte Nanji. Sie starrte aus dem Krankenhausfenster, in die Wolken am blauen Himmel, und erinnerte sich an den Engel auf dem Bahnhof Friedland. »Aber Barbara lebt! Meine kleine Barbara lebt – ich fühle es.«

»Vielleicht«, sagte Fräulein Kepner leise. »Ich werde Ihnen jetzt beim Ausfüllen dieser Formulare helfen. Für das Rote Kreuz. Aber bitte … Machen Sie sich keine allzu großen Hoffnungen. Nicht einmal ein Drittel von denen, die in Jugoslawien geblieben sind, waren noch am Leben, als die Jugoslawen 1948 endlich dem Druck der Weltöffentlichkeit nachgeben und die Lager auflösen mußten. Nach unserer Schätzung leben noch etwa dreißigtausend Kinder in den staatlichen Heimen. Aber nur die wenigsten haben irgendwelche Papiere.«


Nanji dachte nicht daran aufzugeben.

Als man sie nach drei Monaten entlassen wollte, blieb sie im Krankenhaus und arbeitete in der Küche.

1951 – Barbara war jetzt neun – schrieb Nanji an das Jugoslawische Repatriierungsbüro in Wien. Man antwortete ihr, daß es ohne Geburtsurkunde, ohne das in serbischer Sprache abgefaßte Originaldokument, keine Möglichkeit gab, ihr zu helfen. Als sie Barbara damals zurückließ, hatte sie Knoblauchzöpfe geflochten.

Rosi Kepner und das Rote Kreuz konnten genausowenig helfen.

Eines Tages, als Nanji den Abfall in die Gasse hinter dem Krankenhaus brachte, ging Rosi ihr nach.

»Sagen Sie mal – sind Sie verrückt?« fragte sie Nanji.

»Was meinen Sie?«

»Ich habe gehört, sie wollen über die Grenze gehen.«

Nanji zuckte die Achseln und kippte ihren Eimer aus.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?« Rosi sah sie argwöhnisch an. »Ohne Papiere läßt man Sie nicht einmal nach Österreich. Und die jugoslawische Grenze ist vermint: Landminen.«

»Es wird sich schon ein Weg finden. Ich habe ein bißchen Geld gespart. Mit einem Führer und einer kleinen Bestechungssumme …«

»… landen Sie im Knast oder in einem Strafgefangenenlager. Für den Rest Ihres Lebens!«

»Ich will nicht mehr weiterleben. Ich kann nicht … Wenn ich es nicht wenigstens versuche.«

»Die Sache liegt acht Jahre zurück. Kein Mensch wird sich mehr an sie erinnern. Wenn sie überhaupt noch lebt. Und was ist, wenn Sie sie in einem Waisenhaus in Mazedonien finden? Wie steht’s mit Ihrem Albanisch? Kennen Sie jemanden, der es Ihnen beibringt? Barbara wird kein Wort deutsch sprechen.«

»Sie wird es lernen.«

»Wollen Sie wirklich gehen?«

»Nichts kann mich abhalten.«

»Bitte … Aber tun Sie mir erst noch einen Gefallen: Kommen Sie mit mir, wenn der nächste Kinderzug aus Salzburg in Piding ankommt.«

Im Kinderlager in Piding zeigte ihr Rosi zwei Jungen, Zwillinge, die ihre Mutter bespuckten und sie ein kapitalistisches Schwein schimpften.

Aber Nanji hatte nur Augen für eine sehr schmächtige Vierzehnjährige, die ihren Vater ängstlich fragte: »Darf ich jetzt deutsch sprechen?«

Rosi gab auf. Sie drückte Nanji ein wenig Geld in die Hand und nahm sie in die Arme. »Bitte schreiben Sie die Namen so vieler Kinder wie möglich auf, und fragen Sie sie, ob sie sich an ihre Heimatstadt erinnern können.«

Nanji ging über die jugoslawische Grenze. Zwei Wochen später wurde sie aufgegriffen. Die Mindeststrafe für illegale Grenzüberschreitung betrug sechs Monate. Doch als sie dann in Kikinda, einer Nachbarstadt von Banatsko Veliko Selo, im Gefängnis saß, war sie glücklich und zufrieden. Sie hatte etwas unternommen, um Barbara zu finden – hatte nicht nur Briefe geschrieben und Formulare ausgefüllt …

Zu ihrer Überraschung wurde Nanji nach drei Tagen wieder freigelassen. Der Polizeihauptmann händigte ihr diverse Papiere aus. »Mit diesem Papieren können Sie wieder zur Grenze zurück.«

Niedergeschlagen nahm sie die Dokumente an sich.

Als sie aus der Polizeistation kam, wartete unter den Pudelbäumen auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau auf sie. Nanji wollte es erst nicht glauben: »Danitza!« schrie sie und rannte auf ihre alte Freundin zu, die Tochter des serbischen Arztes, bei dem sie als Putzfrau gearbeitet hatte. Lachend lagen sie sich in den Armen.

Danitzas Vater hatte gehört, daß eine Deutsche im Gefängnis saß. Und als einer seiner Patienten ihm eröffnete, um wen es sich dabei handelte, hatte er dafür gesorgt, daß Nanji entlassen wurde und Passierscheine erhielt.

Nicht alle Kinder aus Charlevil waren in Molindorf gestorben, informierte sie Danitza. Ein paar Überlebende hatte man in ein Kinderheim geschickt, das nur wenige Kilometer weit entfernt war. Sie bestand darauf, Nanji dorthin zu begleiten.

Die Heimleiterin war eine korpulente, stämmige Frau, deren Garderobeideal nach wie vor die Uniform war: sie trug Armeejacke und -mütze. »Das ist jetzt acht Jahre her. Kinder verändern sich. Ganz erheblich sogar. Wie wollen Sie ihre Tochter wiedererkennen?« fragte sie. Über ihre linke Schulter starrte einschüchternd ein riesiges Porträt von Josip Broz Tito auf Nanji herab. »Wir haben keinen Aktenvermerk über eine Barbara Weber aus Veliko Selo.«

»Ich werde sie erkennen.« Nanji ließ sich nicht abbringen.

Die Frau zuckte die Achseln. »Kommen Sie mit.« Draußen auf dem Schulhof schwang sie eine große Handglocke.

Mädchen im Alter von acht bis sechzehn stürzten aus den Klassenzimmern ins Freie und stellten sich in zwei Reihen einander gegenüber auf.

Die Heimleiterin schritt mit Nanji die Reihen ab. In der Mitte der zweiten Reihe blieb sie stehen. »Die hier sind im entsprechenden Alter.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Also? Welche ist die Ihre?«

Nanji ging von einem Mädchen zum anderen. Am liebsten hätte sie geheult: Nicht eines sah so aus, wie ihrer Meinung nach Barbara mittlerweile aussehen hätte müssen. Braune Augen sah sie – sie waren zu hell. Einen Mund – zu groß. Haare – viel zu lockig … »Lassen Sie mir etwas Zeit«, bat sie die Heimleiterin.

Ein Wink mit der Hand – die Mädchen traten wieder ab. »Tja, also dann«, meinte die Heimleiterin und läutete ein weiteres Mal mit ihrer Handglocke. Ein Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, kam auf Nanji zu. »Irina Cvetkov: meine Gehilfin. Sie wird Sie hinausbegleiten.«

»Wie sieht Ihre Kleine denn aus? Möglicherweise hat man sie ja in ein anderes Heim gebracht«, sagte Irina, als sie mit ihr über den Schulhof ging.

»Dunkelbraune Haare, braune Augen. Inzwischen zehn Jahre alt«, antwortete Nanji.

»Ich will es Ihnen bestimmt nicht noch schwerer machen – aber möglicherweise hat man sie adoptiert. Die dunkelhaarigen werden als erste genommen. Sie fallen weniger auf.« Irina sperrte Danitza und Nanji das Eisentor auf.

Nanji ging stumm hinaus.

»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Madam?« fragte Irina. Ihr Deutsch hatte einen serbischen Akzent.

»Aber natürlich.« Nanji war überrascht, daß Irina deutsch sprach.

»Ich habe nicht immer Irina Cvetkov geheißen. Wenn jemand Sie nach Anna Seifert aus Ruma fragt – sagen Sie ihm, daß ich hier bin.«

»Vielleicht hat das Mädchen ja recht, und man hat sie adoptiert«, sagte Danitza. Sie saßen bei ihr zu Hause.

»Ja. Ich hoffe es. Herrgott im Himmel, laß nur nicht zu, daß sie tot ist.«

»Und du glaubst wirklich, daß keine von ihnen deine Barbara war?«

Nanji schüttelte den Kopf.

Danitza legte den Arm um Nanji. »Dann nimm eine von den anderen!« flüsterte sie ihr ins Ohr.

»Was?« Nanji fuhr entrüstet zurück. »Das wäre nicht recht!«

»Überleg doch mal: Sie schulden dir ein Kind. Und wenn etwas nicht recht ist, dann das, daß die Kinder in diesem Heim verfaulen. Keines würde sich weigern, mit dir zu kommen. Selbst wenn es wüßte, daß du nicht seine Mutter bist.«

»Aber das wäre doch Kindesentführung!«

»Und ihnen die Sprache rauben, ihnen den Namen nehmen – ist das nicht auch Kindesentführung?«

»Und was ist, wenn ich eines aussuche, und die Heimleiterin kann nachweisen, daß es nicht Barbara ist?«

»Na und? Dann hast du dich eben geirrt. Und kannst außerdem dem Roten Kreuz und der Christlichen Hilfsgemeinschaft den Namen eines Kindes nennen, wenn du wieder in Österreich bist.« Danitzas Augen blitzten. »Wir werden sogar noch etwas ganz anderes tun: Ich lenke die Heimleiterin ab, und du schreibst dir Name und Heimatdorf von jedem Mädchen auf, das sich noch erinnern kann.«

»Und was ist, wenn die Heimleiterin dahinterkommt?«

»Was soll sie schon machen? Mich nach Sibirien schicken?« Sie zwinkerte Nanji zu. »Dafür hat mein Vater zu viele Freunde.«


Vom Mount Seymour aus sehe Ich, daß plötzlich Mashhit den Konzertsaal betritt. Noch ist das Konzert nicht zu Ende, noch ist Mein Pseudopodium – allen anderen verborgen – tief in die Erinnerungen der alten Anna Weber versunken … Trotzdem scheue Ich Mich, noch länger zu bleiben: Mashhits Anwesenheit bedeutet große Gefahr für die Dirigentin Irene Janowitz. Auch wenn Ich nur allzu gern wüßte, wie die Musik der Janowitz es fertigbringt, Meinen Engeln die Seelen zu rauben – ich will die Gefahr nicht noch dadurch vergrößern, daß Mashhit auf Meine Anwesenheit aufmerksam wird.

Ich ziehe Mein Pseudopodium aus dem Konzertsaal zurück. Wenn man das ewige Leben hat, dann ist man daran gewöhnt, daß es mitunter etwas dauern kann, bis man hinter all die kleinen Geheimnisse kommt. Ich werde eben ein anderes Mal wiederkommen, um zu hören, wie die Janowitz ihre Symphonie dirigiert.

Schon will Ich Mich aufmachen und in den Himmel zurückkehren, da höre Ich, daß Mari in großer Angst nach Mir ruft.

Natürlich weiß sie nicht, daß sie nach Mir ruft. Wie alle guten Kommunisten wurde auch sie dazu erzogen, nicht an Mich zu glauben. Ein Schande – wirklich eine Schande. Der Glaube ist ein Geschenk, um das man Kinder niemals betrügen darf. Glauben zu können, das ist eine Gabe, die den Menschen mit zunehmendem Alter irgendwann einmal abhanden kommt.

Mari starrt entsetzt auf die Ziegelmauer hinter dem Pflanztisch ihrer Mutter. Die drei Holzrahmen, in denen die Seiten des Requiems steckten, die für Barbara geschrieben wurden, sind verschwunden. Verzweifelt sucht sie in allen Winkeln und Ecken des Gewächshauses.

Schließlich findet Mari die Rahmen unter einem Haufen alter Zeitungen und Topfscherben: die Glasscheiben sind zerbrochen, die Pappdeckelrücken abgerissen. Mari zittert vor Angst. Die Notenblätter sind gestohlen worden.

Mari tritt vor die Tür. Der Wind peitscht ihr den Regen ins Gesicht. Sie denkt nicht mehr daran, den Wacholder umzutopfen. Geht statt dessen auf das schmiedeeiserne Tor zu, das hinausführt auf die Klippenränder an der Grundstücksgrenze.

Hinter dem Tor steht eine Holzbank, vor der Bank ist ein Rosenbeet angelegt, bepflanzt mit Rosen der Sorte Barbi’s Summer Field. Wie ein Abbild der Farbpalette der vom Sturm aufgewühlten See sind die weißen, grüngeränderten Blütenblätter: Blaßgrün ist das Meer, auf dem dort, wo die Wellen an die Klippen schlagen, schaumige Ränder treiben – weiß wie filigrane Seidenstickerei.

Mari setzt sich auf die Bank und überläßt sich der Faszination, die Mein Regen auf sie ausübt, der die Farben der Felswände, die vor ihr liegen, intensiver leuchten läßt – so versucht sie, ihrer Angst Herr zu werden. Die Wälder und Klippen der Inseln weit draußen vor der Küste verschwimmen im Sprühnebel, es sieht aus, als wären die Inseln mit Bändern aus graublauer Zackenlitze gesäumt. Ein verniedlichendes Bild, eine Vorstellung, die sie beruhigt und sie ihre Fassung wiedergewinnen läßt. Bäume, Fels, Wasser – sie sind ihr Zuflucht im chaotischen Ereigniswirbel der menschlichen Welt. Und ihre Bauten sind der Versuch der Wiederherstellung der Ordnung Meiner Welt.

Irenes Musik macht Mari angst, so entsetzliche Angst, daß sie zu zittern beginnt. Einen Augenblick lang überlegt sie, ob Irene etwa die fehlenden Seiten wieder in ihr Requiem aufgenommen hat. Und kommt dann zu dem Schluß, daß das nicht sein kann: Irene hätte die Rahmen nicht so barbarisch zerstört. Aber wer sonst stiehlt schon Notenblätter? Wieder beginnt sie zu zittern. Irene bringt mit ihrer Musik schreckliches Chaos in die Welt. Annas Verlangen nach Unordnung und Verwirrung bleibt wenigstens auf ihren Garten beschränkt. Weiß Irene überhaupt, was sie mit ihrer furchtbaren Symphonie anrichten kann? Die Toten soll man in Frieden ruhen lassen.

Mari steht auf und blickt hinunter auf das wirbelnde Wasser. Der Anblick macht sie schwindlig. Vielleicht hätte sie Irene nicht so oft mit der alten Dame alleine lassen dürfen. Aber Anna hatte es so viel bedeutet, ihr die alten Lieder beizubringen. Die Lieder, die einmal Barbara hätte singen sollen.

Mari lächelt. Sie erinnert sich an den Tag, an dem Irene sie zum erstenmal mit ihrer Musik verblüfft hatte. Mari war damals sechs Monate in Maryland gewesen, um den Bau eines neuen Einkaufszentrums zu überwachen. Irgendwann während ihrer Abwesenheit war Irene der Violine und der Tasteninstrumente überdrüssig geworden und hatte ihre Großeltern überredet, ihr ein Waldhorn zu kaufen. An dem Tag, als Mari nach Hause kam, hatte es gestürmt. Wie heute, denkt sie. Irene hockte mit ihrem Waldhorn hoch oben auf der Klippe und versuchte, das Rauschen und Brausen der Wellen in der Höhle am Fuß der Klippe, ihr Spiel auf dem Horn und das Echo ihres Spiels so aufeinander abzustimmen, daß ein Hornsolo mit Begleitung daraus wurde – ein Hornkonzert von Mozart.

Wer hätte gedacht, daß sich dieses bezaubernde Kind einmal so entwickeln sollte? Es war erschreckend, mitansehen zu müssen, wie es zunehmend dieselbe Obsession ausbildete, die auch seine Großmutter beherrschte. Auch Mari hätte genügend zu erzählen gewußt. Nur hatte sie ihre Tochter damit nicht belasten wollen. Sie hatte gewollt, daß Irene frei und unbefangen aufwuchs. Die alte Frau aber hatte sie mit ihren Geschichten aus jener schrecklichen Zeit wie mit Ketten an sich gebunden. Als Mutter des Mädchens hätte sie das verbieten müssen, wirft Mari sich vor. Und jetzt diese entsetzliche Symphonie … Sie selbst wußte zwar von keinem, der durch die Musik ihrer Tochter wieder zum Leben erweckt worden wäre. Aber eigentlich … Woher konnte sie eigentlich sicher wissen, daß diejenigen, die jetzt – also seit der Zeit des Krieges – am Leben waren, tatsächlich auch immer gelebt hatten?

Mari entschließt sich, die Betontreppen zum Wasser hinunterzusteigen.

Von Regen und Gischt ist sie bis auf die Haut durchnäßt. In ihrer Erinnerung aber ist es trocken. Trocken und staubig.


Mädchen: eines neben dem anderen, eine lange Reihe. Mari stand am Ende dieser Reihe. Ihr gegenüber eine zweite Reihe Mädchen. Eine Serbin sprach mit der Heimleiterin über die anstehenden Schulhausreparaturen.

Eine dritte Frau, dünn und abgemagert, sprach mit den älteren Mädchen, die vorne in der Reihe standen. »Also Mädchen«, sagte sie auf Serbisch, »diejenigen unter euch, die sich noch erinnern können, sagen mir jetzt mal ganz schnell, wie sie früher geheißen haben, wie ihre Eltern geheißen haben und die Stadt, aus der sie kommen.«

Wie aus der Pistole geschossen schnatterten die älteren Mädchen drauflos. Mari wäre es lieber gewesen, sie hätten den Mund gehalten. Wenn die Lagerleiterin sie hörte, würden sie alle bestraft werden.

»Psst«, ermahnte sie die Frau, die zwischen den Reihen hin- und herwechselte und etwas auf einen zerknitterten Fetzen Papier kritzelte. Ihre Hände zitterten dabei.

»Ich soll jetzt sagen, daß ich Sava Petrovich heiße«, sagte eine Vierzehnjährige. »Aber mein richtiger Name ist Anneliese Straub. Vater: Michael; Mutter: Gertrud. Aus Kikinda.«

Mari knurrte der Magen. Warum konnten sie nicht still sein, dachte sie. Es gab sowieso schon so wenig zu essen. Sie lieferten der Heimleiterin nur noch einen weiteren Vorwand, um sie wieder einmal hungern zu lassen.

»Letztes Jahr haben sie meine Schwester fortgebracht. Irina meint, sie ist in Haus 38«, sagte ein anderes Mädchen. »Sie heißt Veronika.«

»Ich bin die Doris vom Friseur Lindhof aus Katarina.«

»Wenn wir deutsch sprechen, bekommen wir abends nichts zu essen.«

Mari wurde langsam zornig. Warum erzählten sie der Dünnen das alles? Was erhofften sie sich davon? Was glaubten sie, würde sich dadurch ändern? Es wäre vernünftiger, sich abzufinden mit dem, was geschehen ist, und das Beste draus zu machen.

Die Hand der dünnen Frau war schweißnaß, ihr Gekritzel war jetzt verschmiert.

»Frau! Bitte nehmen Sie mich mit. Ich kann Deutsch!«

Dumme Gans! dachte Mari. Wie entwürdigend! Wie konnte man bloß so würdelos betteln? Aber im Grunde ihres Herzens verstand sie sehr gut. Die Frau war eine Deutsche, die ihr Kind suchte. Die Mädchen hofften, sie würde ihre Namen hinausschmuggeln und sie dem Roten Kreuz melden, damit ihre Eltern wußten, daß sie noch am Leben waren. Vorausgesetzt, die Eltern waren noch am Leben.

»Ich bin die Resi vom Bauer Klein aus Stefansfeld.«

Die Frau stolperte. Eines der Mädchen nahm sie am Ellbogen und half ihr wieder auf. Und Mari hörte, wie es der Frau dabei ins Ohr flüsterte: »Ich kann nähen und stricken.«

»Und ich kenne zwanzig Rezepte auswendig«, sagte ein anderes Mädchen.

Die Frau blickte dem Mädchen eine ganze Weile in die braunen Augen, schüttelte dann den Kopf und wandte sich ab.

»Ich kann melken. Holen Sie mich hier raus, bitte!«

Die Frau starrte auf den roten Ziegelstaub, der den Boden des Schulhofs bedeckte.

Schließlich kam sie ans Ende der Reihe, dorthin, wo Mari stand. Die Mädchen, die hier standen, hatten der Deutschen nichts zu sagen. Die Frau aber sah sie so eindringlich an, daß Mari annahm, sie müßte eine Tochter haben, die so alt war wie sie. Die Mädchen links und rechts von ihr verkrampften sich vor Nervosität – Mari konnte es regelrecht spüren. So war es immer – jedesmal wenn eine Serbin kam, um sich ein Kind zur Adoption auszusuchen. An ihre Mütter erinnerten sich die Mädchen nicht mehr. Sie wollten nur eines: zu jemandem gehören.

Dumme Luder, dachte Mari. Die Serben holten sie doch nur, weil sie jemand für die Bauernarbeit, weil sie eine Köchin oder eine Kindsmagd brauchten. Sie hatte helles Haar und blaßgrüne Augen, sie sah viel zu auffällig aus, um damit rechnen zu können, daß jemand sie adoptieren würde. Das wußte Mari. Und ebenso wußte sie, daß keine deutsche Mutter jemals nach ihr suchen würde. Im Unterschied zu den anderen Mädchen konnte sie sich an ihre Mutter erinnern.

Sie erinnerte sich an ein Dorf, das mit Stacheldraht eingezäunt war. Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die sich nachts davonstahl und morgens wieder zurückkam – in den Händen ein paar Kartoffelstückchen, eine Karotte, ein paar Erbsen. Sie erinnerte sich an ihre heimlichen Ängste, die Angst, daß ihre Mutter eine Diebin war. Und an einen Morgen erinnerte sie sich, an dem ihre Mutter nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie erinnerte sich, daß sie mit anderen zum Stadtplatz ging, erinnerte sich an die vier Frauen, die dort knieten, deren Hände auf den Rücken gebunden waren, erinnerte sich an den Partisan, der jeder dieser ausgemergelten Frauen die Pistole ins Genick setzte. Erinnerte sich an Finger, die abdrückten, an einen Schuß, den sie genau in jenem Moment hörte, als sie die Frau erkannte, die unmittelbar vor ihr kniete.

Ihre Mutter zuckte und fiel mit dem Gesicht in den Schmutz, bevor sie noch zu ihr laufen konnte. Hände hoben ihre Mutter auf einen Schubkarren. Mari hielt die Hand ihrer Mutter. Die Mutter drückte ihr die Hand und flüsterte: »Pst, pst.« Den ganzen Weg bis zum Massengrab hielt sie Maris Hand. Hände kippten den Schubkarren um, ihre Mutter flüsterte ihr zu: »Sei gut, mei Herzje!«, dann drückte der Partisan ein zweites Mal ab.

Ein anderer Partisan drückte Mari etwas Erde in die Hand und gab ihr zu verstehen, daß sie sie in das Grab werfen sollte. Für jede Gelegenheit gibt es ein angemessenes Ritual, alles hat seine Ordnung und seinen Platz.

Ihre Mutter tanzte eine letzte wahnsinnige Polka, ab die Erde auf das grünweiße Blumenmuster ihrer Kleiderschürze fiel.

Sei gut, Herzje. Wenn ihre Mutter sie doch bloß mit ihrem Namen angesprochen hätte – vielleicht hätte sie sich dann an ihn erinnert. Trotzdem: So wie es war, war es am besten. Wie auch die Schule besser war als das Lager. Sei gut. Ein brauchbarer Rat, fand Mari. Sie würde jedenfalls nicht mit der deutschen Dame sprechen. Sie wollte gut sein – sie wollte es auf keinen Fall schlecht machen.

»Liesl Heinrich«, sagte das letzte Mädchen. »Ich hatte eine Geburtsurkunde und ein Foto meines Bruders. Aber die Heimleiterin hat mir letzten Winter alles abgenommen.«

Die Frau faltete ihre Notizen zusammen und steckte sie in die Tasche.

Die Heimleiterin wies die andere Frau auf ein kaputtes Abflußrohr am Schulgebäude hin. Aber die achtete nicht darauf – sie konnte die Augen nicht von den Mädchen und ihrer Freundin lassen. Und als die hagere Freundin sich von den Mädchen abwandte, schüttelte sie den Kopf. Schüttelte den Kopf und dann die Faust.

Die Hagere blieb stehen, kam noch einmal zurück zu den Zehnjährigen in Maris Reihe.

Mari war entsetzt, als sich die Frau zu ihr beugte. »Wie heißt du?« Sie sprach serbisch.

Mari sah nach der Heimleiterin – sie hoffte, sie würde sich umdrehen und sie retten. Warum hatte diese Frau gerade sie angesprochen? Und schließlich sagte sie: »Mari Broz.« Der Hageren ihren Namen sagen – so war es gut. Sie war stolz darauf, denselben Namen zu tragen wie Marschall Tito. Sie starrte auf den roten Staub, der auf den abgestoßenen schwarzen Schuhen der Frau lag.

»Mari – ich suche ein kleines Mädchen, das mit mir kommt und bei mir leben möchte. Möchtest du dieses Mädchen sein?«

Mit dieser Frau gehen – Mari war klar, daß das nicht gut war. Aber die Hand, die ihr angeboten wurde, erinnerte sie daran, wie es war, eine Mutter zu haben. Sie wußte nicht, was sie machen sollte. Und dann versetzte ihr eines der Mädchen einen Rippenstoß und flüsterte ihr zu: »Geh schon, dumme Kuh!«

Mari nahm die Hand, die die Frau ihr reichte.

»Das ist mein Tochter«, hörte sie die Frau zur uniformierten Heimleiterin sagen. Hinter ihr stand Irina Cvetkov. Mari fürchtete, Irina würde sie zurückhalten: Irina wußte, daß Maris Mutter tot war. Aber Irina nahm Mari in den Arm und drückte sie zum Abschied fest an sich.


Meerwasser spritzt auf, eine Welle läuft durch Mein Pseudopodium. Ich höre die erwachsene Mari schreien: »Nein, Irene! Hör auf mit der Musik!« Dann höre ich nichts mehr. Nur noch das klatschende Geräusch der Wellen, die an die Felsklippen schlagen.

Mari ist verschwunden. Sie ist nicht wieder auf die Klippe zurückgeklettert. Ich taste und fühle mit Meinem Pseudopodium: Nichts. Mary ist nirgendwo. Nirgendwo in Kanada.

Vom Mount Seymour blicke Ich hinunter in den Konzertsaal. Mashhit ist nicht mehr allein. Engel schweben durch die Luft, sitzen im Schneidersitz auf den Brüstungen der Logen. Hängen kopfüber an Kronleuchtern, schlagen flatternd mit silberbeschlagenen, ledrig schwarzen Flügeln.

Mir zumindest erscheinen die Engel schwarz, rabenschwarz beinahe. Für die Menschen im Konzertsaal aber erstrahlen sie im Glanz helleuchtenden, blendenden Lichts. So blendend hell, daß sie die Augen mit den Händen schützen müssen – obwohl sie gar nicht begreifen, daß die riesige Engelschar die Quelle dieses Glanzes ist. Ich sollte mich eigentlich freuen. Freuen und dankbar sein, daß die Engel erst um meine Erlaubnis nachsuchen, ehe sie den Menschen erscheinen. So wie die Zeiten heutzutage sind …

Auf dem Podium, zu Füßen der Dirigentin Janowitz, liegt ein Bündel weicher schwarzer Samt.

Verwirrt packen die Musiker ihre Instrumente ein, blättern verstört in Notenstapeln. Einem Oboisten flattert eine Seite mit der Überschrift Barbara schläft vor die Füße und zerfällt zu einem Häufchen Staub.

Ich spüre die Verwunderung der Musiker. Sie fragen sich, was sie da eben gespielt haben. Aber weil das, was sie da eben gespielt haben, in ihrer Welt, die noch so jung ist, so neu, nie existiert hat, können sie auch keine Erinnerung daran haben. Nun gut – möglicherweise plagen den einen oder anderen etwas helleren Kopf unter ihnen von Zeit zu Zeit irritierende symphonische Träume. Vielleicht macht er sich dann ein paar flüchtige Notizen von diesen Melodien – was Mir die Gelegenheit gäbe, sie wieder zu hören.

Auch das Publikum ist verwirrt. Die Leute wundern sich, warum sie im Konzertsaal sitzen. Zum größten Teil sind es einfache Arbeiter, Menschen, denen üblicherweise nicht allzu viel an derart extravaganter Unterhaltung liegt.

Der Logenplatz, in dem Mein Pseudopodium saß, ist jetzt besetzt. Helmut Janowitz, ehedem Vater der Dirigentin, kann sich nicht erklären, wie es kommt, daß er mit einer betagten Putzfrau, deren Tochter und ihren drei Enkelkindern in einem Konzert sitzt. Noch dazu am Geburtstag seiner Frau Tammy. Er macht sich schleunigst auf den Weg zur Garderobe und läßt sich Mantel und Schirm geben.

Anna Weber versteht nicht, was sie in einem Konzertsaal zu suchen hat. Weder ihre Tochter Barbara, noch irgendeiner von Barbaras Söhnen interessiert sich für symphonische Musik. Anna hat pflichtschuldigst den Anweisungen des Engels Folge geleistet – keiner der Jungen kann auch nur eine Note lesen. Sie wohnen in Burnaby, wo Barbara als Kunstlehrerin an der High School unterrichtet. Zwei der Jungen betreiben ein Zoogeschäft und verkaufen Meeresfische, der dritte studiert Biologie an der Simon Fraser University. Jeder von ihnen hat sich eine Kollektion Rock-and-Roll-CDs zugelegt – aber nur, um damit bei Freunden Eindruck zu machen, und nicht etwa, weil sie glühende Musikliebhaber wären.

Anna Weber wundert sich, was die Musiker da gespielt haben. Aber sie traut sich nicht zu fragen. Sie weiß, ihre Familie hält sie für senil. Sie fürchtet beinahe, daß es so ist – die Vergangenheit, die so weit zurückliegt, ist ihr gegenwärtiger als die Musik, die sie vor fünf Minuten gehört hat.

Barbaras Söhne wundern sich, wie sie sich von der alten Dame zu diesem verrückten Auftritt überreden lassen konnten. Außerdem wundern sie sich, wie sie an das Geld gekommen ist, das sie für den Mohn ausgegeben hat, mit dem sie ihnen diesen Kuchen zum Nachtisch gebacken hat.

Barbara bestaunt eben den Kronleuchter, als der Engel Hadraniel rülpst, und ein Blitzstrahl wie ein Lichtbogen im Raum steht. Sie wendet sich ab von diesem Schauspiel – »Los, Kinder! Wir gehen.« – und steht auf.

Mashhit schlägt mit ledrigen Flügeln und stößt auf die Bühne herab. Die Ketten, die den Donnerkeil, den er in der Nase trägt, mit dem Donnerkeil in seinem Ohr verbinden, reißen drei Silberstreifen in seine Wange. Er wühlt die Nase in den schwarzen Samt, tritt mit seinem verkümmerten Fuß nach ihr.

Natürlich sehen die Musiker Mashhit nicht. Aber der erste Geiger der zweiten Violinen sieht sein Gewand durch die Luft schweben. Einen kurzen Augenblick nur, dann wird ihm schwindlig – er muß sich setzen.

»Es steht geschrieben«, brüllt Mashhit seinen Mitengeln zu, »Du sollst nicht dulden, daß eine Zauberin lebt.«

Die Engel sind zufrieden mit sich: Sie haben das Requiem wieder um die Passagen, die für Barbara geschrieben waren, ergänzt, haben dadurch den Zauber gegen Irene gewandt und Maris schlimmste Befürchtungen wahr werden lassen. Mari hat Jugoslawien nie verlassen, Irenes Vater nie kennengelernt. Und die Dirigentin Janowitz hat sich durch ihre eigene Musik um ihre Existenz geschrieben.


Ich taste Vancouver ab, taste die ganze Welt ab. Abgesehen von jenem kurzen Auftritt von Barbara und ihren Kindern, abgesehen von der Heirat von Irene Janowitz’ Vater mit einer Frau namens Tammy, und abgesehen von Maris Verschwinden, hat sich jede Spur der Zauberkraft der Dirigentin in Luft aufgelöst. Die Engel haben ihre kleinen Seelen wieder. Alle.

Ich schicke ein anderes Pseudopodium nach Jugoslawien: Mari Broz sitzt auf einer Holzbank auf der Ladefläche eines Planwagens. Mit ihr fahren fünfzehn weitere Landarbeiterinnen des landwirtschaftlichen Betriebs, bei dem sie als Traktoristin arbeitet. Die Frauen tragen dunkelblaue Hosen, dunkelblaue Jacken und Kopftücher. Mari hat kein Kopftuch umgebunden. Stolz stellt sie die wenigen blonden Strähnen zur Schau, die noch im weißgewordenen Haar blitzen. Sie sitzt etwas abseits von den anderen, am weitesten von der Ladeklappe entfernt.

Zwei Frauen lachen. Lachen so laut, daß Mari es nicht überhören kann. Sollen sie doch, denkt sie sich. Sollen sie ruhig darüber witzeln, weil ich immer noch darauf warte, daß meine Mutter mich wiederfindet. Sie sind nur neidisch: Meine Mutter ist eine Deutsche, und die Deutschen sind reich.

Im Grunde ihres Herzens aber hat Mari Angst vor ihren Kolleginnen. Wenn die wüßten, daß sie die Tochter einer Diebin ist – sie zittert vor Angst. Aber andererseits, so spricht sie sich Mut zu, ist das eine Sache, die niemand etwas angeht. Ich bin eine gute Arbeiterin, bin Mitglied der Partei und trage denselben Namen wie der Vater Jugoslawiens – mit den Verbrechen meiner Mutter habe ich nichts zu tun. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich bin Kommunist. Ein wahrer Kommunist: nicht so einer wie diese Scheinheiligen in Belgrad, die den Namen Serbisch Kommunistische Liga abgelegt haben und sich jetzt Sozialistische Partei Serbiens nennen: ein schäbiges Zugeständnis an den Druck der öffentlichen Meinung des Westens.

Der Lastwagen stößt und rumpelt auf der unbefestigten, ausgefahrenen Straße. Mari ist das nur recht: Der Lärm übertönt die Stimmen der anderen, sie ist fest entschlossen, sich von ihnen die angenehmste Zeit des Tages nicht verderben zu lassen. Sie braucht diese Zeit, die ihr die Möglichkeit gibt, ihrer Lieblingsvorstellung nachzuhängen: Mari sieht sich als Mutter einer Tochter. Abends, stellt sie sich vor, wenn sie nach Hause kommt, wartet ein Brief ihrer Tochter auf sie. Sie sieht ihn auf dem Plastiktischtuch liegen, im Schein der nackten Glühbirne, der einzigen Lichtquelle in der Küche.

Heute abend, redet sie sich ein, wird es keinen Streit geben mit den Jankovics, mit denen sie sich das Haus mit den zwei Schlafzimmern teilt – ein Haus, das einer ungarischen Familie gehört hatte, bevor der Zusammenbruch Jugoslawiens die Jankovics nach Norden verschlug. Heute abend, glaubt sie ganz fest, wird ihr niemand unmoralisches Verhalten vorwerfen, wenn sie sich weigert, ihr Schlafzimmer mit den halbwüchsigen Töchtern der Jankovics zu teilen.

Heute abend ist ihre Tochter ein Model in Hongkong und schickt ihr eine chinesische Modezeitschrift, mit ihrem Porträt auf dem Titelbild. Und Mari wird es selbstverständlich aufhängen, an der grob verputzten Wand hinter dem Küchentisch, den sie mit den Jankovics teilt.

Nein: Heute abend ist ihre Tochter eine Schriftstellerin aus Entre Rios in Südbrasilien, von der die ganze Welt erfährt, wie Maris Mutter starb – aber nicht, daß sie eine Diebin war. Im Roman ihrer Tochter ist Maris Mutter eine Partisanin, eine Widerstandskämpferin, die dazu beigetragen hat, daß die Deutschen besiegt werden konnten.

Oder – noch besser: Heute abend ist ihre Tochter eine weltbekannte Komponistin. Nach ihrem Konzert in Belgrad wird man sie zu ihr bringen, weil sie Mari besuchen will. Was die Frauen, die neben ihr auf der Bank sitzen, wohl dazu sagen werden … Mari lächelt.


Vancouver. Die geflügelte Schar fliegt eine Ehrenrunde zur Feier ihres Erfolgs, jubelt und stößt lautes Freudengeschrei aus. Sterbliche bemerken nichts davon. Sie hören weder den Jubel der Engel, noch sehen sie deren schwarze, ledrige Flügel, die sich im tumultuarischen Durcheinander flatternd ineinander verhaken. Aber sie nehmen ein Brausen in der Luft wahr, das wie ein Sturmwind ist. Und sie riechen die Engel, riechen einen Duft, so drückend und schwer wie Jasmin. Und auch die, die es eben noch gar nicht eilig hatten, stehen jetzt auf und gehen.

Was Meine Engel nicht wissen: In einem verlassenen Gewächshaus auf dem Grundstück eines Hauses am Marine Drive liegt – versteckt hinter einem Haufen gesprungener Tontöpfe – ein Notenblatt: ein Arrangement für Akkordeon und Orchester mit dem französischen Titel La chanson d’Irene – Irenes Lied.



Originaltitel: ›IRENE’S SONG‹ • Copyright © 1993 by Astrid Julian • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, März 1993 • Mit freundlicher Genehmigung der Autorin • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Jakob Leutner • Illustriert von Jobst Teltschik


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