Garry Kilworth • England
IM LAND DER TÄTOWIERTEN MÄNNER


Der Herausgeber meiner Bücher mit Kriegsfotografien hatte den Brief an meine Adresse in Kalifornien weitergeleitet. Wir sollten uns, schlug der Briefschreiber vor, in seiner New Yorker Wohnung treffen, weil er zur Zeit nicht reisen könne. Ich entnahm dem Brief, daß er einige seltsame Erfahrungen machte, und daß ich seine ›Veränderungen‹ für die Nachwelt dokumentieren sollte. Vorausgesetzt, es steckte ein Körnchen Wahrheit darin, durfte ich auf eine gute Story hoffen. Er wäre nicht der erste Vietnamveteran, der ausflippte. Zuerst spielte ich sogar mit dem Gedanken, den Brief zu ignorieren, aber wenn Asien sonst nichts für einen tut, es weckt auf jeden Fall dauerhaft die Neugierde. Am folgenden Mittwoch flog ich zur Ostküste.

Ich stieg im Roosevelt ab, das mit seinem europäischen Charme einem ausgewanderten Engländer in der ansonsten einschüchternden New Yorker Architektur ein kleines Stück Heimatgefühl vermitteln kann. Ich fühle mich in New York immer verloren, wenn ich zwischen den Riesenbauten herumwandere, die einander an den Spitzen zu berühren scheinen, um den Himmel auszusperren. Zwischen den Wolkenkratzern dieser Stadt fühle ich mich kleiner, als wenn ich über die Entfernungen zwischen den Sternen nachdenke. Es hilft nicht zu wissen, daß es auf den Dächern einiger dieser schwindelnd hohen Gebäude Wiesen und Obstgärten gibt: das weckt nur den Eindruck, die Häuser seien womöglich über Nacht gewachsen, hätten die Krume mit sich hochgedrückt und uns verletzliche Sterbliche in den tiefen Abgründen zwischen sich zurückgelassen.

Die Einrichtung des Roosevelt wirkt europäisch: zierliche Messinglampen mit Tiffany-Schirmen, mit Marmorplatten belegte Kommoden. Ich fühle mich besser, wenn ich solche Möbel in der Nähe weiß. Nicht ganz so unsicher.

»Ich werde mich wirklich darum kümmern, Sir«, sagte der Mann, der meine schmutzige Wäsche zum Waschen mitnahm. Er hielt in der Tür inne und wartete, bis ich die Geheimsprache verstanden und ihm die zwei Dollar gegeben hatte, die die Sicherheit meiner schmutzigen Hemden garantierten.

Als die Tür zu war, nahm ich die New York Times zur Hand, die auf meinem Bett lag. Die Titelgeschichte handelte von einem Vergewaltiger, der im Central Park getötet worden war. Anscheinend ein Fall von Selbstjustiz. Die Mitglieder der Straßenbande hatten zwar mitbekommen, daß ihr Anführer starb, aber sie waren nicht sicher, was sie gesehen hatten. Die Frau, die angegriffen worden war, behauptete ebenfalls, sie hätte den Mörder nicht gesehen, war aber aus verständlichen Gründen nicht unglücklich über sein Eingreifen. All dies wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn der Vergewaltiger mit einem Gewehr oder mit einer Handfeuerwaffe erschossen worden wäre. Aber er war erwürgt worden. Der Gerichtsmediziner erklärte, aus den Quetschungen am Hals des Toten könne man schließen, daß der Mörder eine Nylonschnur oder eine Drahtschlinge benutzt habe.

Unter diesem Artikel war ein kleinerer Beitrag abgedruckt, in dem es um den Kommentar des neu gewählten Präsidenten zu der Frage ging, ob man Militärberater in ein gewisses asiatisches Land schicken solle, um ihm im Krieg gegen einen Aggressor beizustehen.

Nur in der westlichen Welt konnte die Geschichte über einen Fall von Selbstjustiz wichtiger sein als die Möglichkeit, daß Amerika abermals in einen Krieg in Asien verwickelt wurde.


Die erste Tätowierung tauchte eines Morgens im Spätsommer auf. Er war am Abend zuvor ausgegangen und hatte in einer seiner Stammkneipen gefeiert. Er hatte in den letzten Jahren ziemlich viel ›gefeiert‹. Der erste und wichtigste Grund war seine wohlbehaltene Rückkehr aus Vietnam gewesen. Dann Phils Tod, dann seine Scheidung … und dann jede gute oder schlechte Nachricht, ob groß, ob klein. Er war gut im Feiern.

Das Symbol, denn es handelte sich eher um ein Symbol als um ein Bild oder ein Wort, befand sich nicht an einer Stelle, die man normalerweise mit Tätowierungen schmückte. Jedenfalls war die Stelle für einen Amerikaner recht ungewöhnlich. Das Zeichen war knapp unterhalb seiner linken Achselhöhle, und soweit man es sagen konnte, ähnelte es einem Schriftzeichen aus dem Sanskrit oder vielleicht dem Chinesischen. Japanisch? Nein, es war japanischen Zeichen nicht einmal entfernt ähnlich. Es war einfach ein Symbol, ein Kringel, der in einer dünnen, gezackten Linie auslief, die sich zurückbog und als kleines Labyrinth in einem Knäuel endete. Als er das Zeichen im Spiegel untersuchte, staunte er über die feinen Details und die Kunstfertigkeit. Die Tätowierung war wie ein Miniaturuniversum: wie die kleine Welt einer aus der Nähe betrachteten Blume oder eines Blattes. Die Innenansicht eines mikroskopischen Organismus.

»Was, zum … wie bin ich denn da dran gekommen?« sagte er, während er sich in seinem billig möblierten Apartment in der Hoffnung umsah, einen Hinweis auf die Erlebnisse des vergangenen Abends zu finden.

Wo war er gestern abend noch gleich gewesen? Er erinnerte sich an Stacey’s Bar, dann an den Nachtclub – in welcher Straße war der noch gleich? Aber ein Tätowierladen? Die hatte es früher mal in Chinatown gegeben, doch er hatte irgendwo gelesen, daß sie alle geschlossen worden waren.

Tätowierungen wurde man nicht so ohne weiteres wieder los. Schönheitschirurgie war ein teurer Spaß. Ein Glück nur, daß es in seinem Fall nichts Anstößiges war wie das Abbild einer Playboy-Schönheit. Ein Glück, ein Glück, ein Glück … er knallte über dem Spiegel die Faust an die Wand. Nebenan beschwerte sich jemand mit einem empörten Ruf, und er brüllte zurück: »Fahr zur Hölle!« Dann hielt er die schmerzenden Knöchel unter das kalte Wasser.

Der Verkehr Brooklyns erreichte draußen gerade seinen morgendlichen Höhepunkt. Er zog sich die Hose über die Shorts. Er hätte schon vor einer Stunde an seinem Arbeitsplatz eintreffen sollen. Nicht mehr lange, und er würde seinen Job verlieren.


Drei Tage später, nach seiner nächsten Sauftour, tauchte die zweite Tätowierung auf. Dieses Mal am Ellbogen. Er rief seine Exfrau an und redete eine Weile mit ihr, verriet ihr aber nichts. Der Klang ihrer Stimme schenkte ihm etwas Kraft.

Dann rief er seinen Sohn an und sprach mit ihm über Football und Urlaubspläne. Jamie sprühte vor Leben, sagte seinem Vater, daß er ihn vermißte und daß sie sich bald zu dritt treffen sollten, sobald er mit dem College fertig wäre. Jamie war ein Träumer, er spielte den Heiratsvermittler, weil er hoffte, seine Eltern würden wieder zueinander finden und vielleicht sogar noch einmal heiraten. Als er den Hörer auflegte, ging es ihm besser. Er schwor sich, eine Woche nicht zu trinken.


Vierundzwanzig Stunden später war das dritte Symbol da.

»Ich bin ein Schlafwandler«, sagte er zu sich selbst. »Ich bin in einer Art Trance. Irgendein Schweinehund hat’s auf mich abgesehen.« Er sah sich in der Wohnung um, als könnte jemand im Schrank oder unter dem Bett stecken. Er besah sich seine Augen im Spiegel und entdeckte Angst. Er berührte seine fahlen Wangen und sah seine Hand zittern. »Irgendein Schweinehund hat’s auf mich abgesehen.« Wenn die Tätowierungen keine farbigen Symbole, sondern Entstellungen gewesen wären, die verrieten, daß eine tödliche Krankheit sich in sein Blut eingeschlichen hatte, hätte er keine größere Angst haben können.

Er fürchtete sich, wie er sich noch nie im Leben gefürchtet hatte, nicht einmal in Vietnam. Nein, dachte er, es war die gleiche Angst. Er erkannte die Angst, wie andere Menschen den Geruch oder den Geschmack eines ungewöhnlichen Gewürzes erkennen. Es gab verschiedene Arten des Entsetzens, und dieses hier war eindeutig die Angst vor dem Tod im Dschungel.

Der Grund war, daß die Tätowierungen etwas ausgesprochen Asiatisches hatten. Sie sahen irgendwie fernöstlich aus. Plötzlich schienen ihm die Nächte noch trostloser, als sie es ohnehin schon waren. Irgendwo da draußen im Dunkel wollte ihm jemand ans Leder.

Er war wieder in Vietnam, er sah den Dschungel wie eine Mauer vor sich aufragen. Dort drinnen mußte man unter Riesenbäumen laufen und über Wurzeln steigen wie über Hügel. Er war ein unbedeutender Sterblicher an einem erbarmungslosen Ort. Sein Bewußtsein war seinem Körper weit voraus oder schleppte sich hinterdrein. Wie damals zuckte er zusammen, sobald er irgendwo einen Schatten sah, und er spülte die Angst mit Schnaps hinunter. Der Dschungel war ihm bis hierher gefolgt, bis in die Straßen von New York. Die kleinen Männer, die man niemals sah, versteckten sich in den Gassen. Er hatte Angst zu trinken und Angst, nicht zu trinken. Seine Angst hielt ihn abends lange wach. Er mußte in Bars gehen und sich etwas von dem Zeug besorgen, das seine Angst auslöschte und sie gleichzeitig verstärkte. Er saß in einer bösen Falle und wurde langsam verrückt wie damals.

»Verdammt, was ist hier los?« rief er, als er im Neonregen vor einer Bar auf dem Gehweg stand. »Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist.« Aber die Passanten, soweit sie ihn überhaupt beachteten, waren nicht bereit, mit Verrückten, Veteranen oder Betrunkenen über philosophische Fragen zu diskutieren. Und schon gar nicht mit einem Mann, auf den alle drei Attribute zu passen schienen.


Ich verließ das Roosevelt und fuhr mit einem Taxi zum Central Park. Dort wanderte ich herum, blickte hin und wieder auf die in der Times abgedruckte Karte und versuchte, die Stelle zu finden an der der Mord geschehen war. Als ich dachte, ich hätte sie gefunden, machte ich ein paar Fotos. Ich weiß nicht genau warum, und es war sowieso nichts zu sehen. Ich verknipse bei neuen Filmen gern aufs Geratewohl ein paar Aufnahmen, einfach so, um in Gang zu kommen. In Vietnam hatte ich beim Aufwachen auch immer gleich als erstes zur Kamera gegriffen und ein Foto vom anderen Ende meines Körpers gemacht: Zehen, Füße, Knie. Einfach so, um in Gang zu kommen.

Ich glaube, ich war damals ein ziemlich verrückter Bursche. Ich war mit siebzehn von zu Hause ausgerissen und mit einer Pentax im Rucksack durch Europa gestrolcht. Ich wollte nach Asien. Ich war damals schon entschlossen, Kriegsfotograf zu werden. Den Anfang wollte ich 1967 mit dem arabisch-israelischen Krieg machen. Ich brauchte eine Woche, um hinzukommen. Der Krieg dauerte nur sechs Tage. Ich überwand meine Enttäuschung und fuhr weiter nach Süden bis Aden, wo es Terroranschläge gegen die Briten gab, die sich aus der Kolonie zurückziehen wollten. Die Behörden wollten mich nicht reinlassen. Sie wollten mich zu meinen Eltern nach Hause schicken. Ich zog weiter nach Osten in Richtung Vietnam, blieb aber in Indien hängen und vergaß die Zeit in einer Opiumwolke und in den Klängen einer Sitar meine Objektivität. Schließlich kam ich rechtzeitig zur Schlacht von Khe Sanh in Vietnam an.

Meine ersten Fotos waren schlecht, und niemand wollte sie haben. (Erst später, nach dem ersten Buch, waren sie gefragt.) Aber ich war viel zu besessen, um aufzuhören. Ich fotografierte weiter, wurde besser und lernte etwas von amerikanischen Kollegen. Als Mi Lai Schlagzeilen machte, war ich gut genug, und man wollte meine Fotos kaufen.

Etwa zu dieser Zeit sah ich den tätowierten Mann. Ich war mit einem Spähtrupp im Land unterwegs. Ein nervöser Scharfschütze feuerte mit seiner M-16 auf einen Schatten. »Ich habe da eine Bewegung gesehen«, sagte er. »Ich habe gesehen, wie der Farn gewackelt hat.« Wir überprüften die Gegend und fanden eine blutige Fährte, die zu einer Höhle neben einem Wasserfall führte. Die Patrouille hatte nur zwei Splittergranaten mit. Die Männer warfen nacheinander beide Granaten, aber es wollte immer noch niemand in die Höhle eindringen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Die Höhle sah aus wie ein Felsmaul, das nur darauf wartete, grüne Jungs zu verschlucken. Das Brüllen des Wasserfalls war unserer Moral auch nicht zuträglich. Ich war froh, daß ich nur zum Fotografieren mitgekommen war.

Sie forderten Verstärkung an, und etwas später warf ein Huey einen Flammenwerfer ab, mit dem sie das Innere der Höhle ausräucherten. Dann ging ein einzelner Mann mit einem 45er rein. Er kam rückwärts wieder heraus und zerrte eine nackte Männerleiche hinter sich her. Die Haut des Toten war zum größten Teil weggebrannt. Nur sein linker Arm und ein Teil seiner Brust war unbeschädigt. Er mußte mit dem Gesicht nach unten auf seinem Arm gelegen haben, als die Flammen sein Versteck ausleckten. Die unversehrten Hautstücke waren mit Tätowierungen bedeckt, die beim Betrachten einen seltsamen Eindruck hervorriefen: ähnlich dem Gefühl, das man bekommt, wenn man aus der Nähe schwarzweiße Zickzacklinien betrachtet.


Die nächsten Tätowierungen waren stärker verschlungen und feiner, und er begann sich zu fragen, ob sie eine Art Botschaft wären. Er starrte sie im Spiegel an, bis ihm schwindlig wurde. Er versuchte, Strukturen zu erkennen, die an eine Sprache erinnerten. Er versuchte sogar, sich zu bewegen. Er wanderte vor dem Spiegel herum, um zu beobachten, ob die Nachricht deutlicher würde, wenn die Muskeln seines straffen, schlanken Körpers sich spannten und seine Glieder und seinen Torso bewegten. Aber es führte zu nichts.

Er hatte schlaflose Nächte verbracht – nicht in Bars, sondern in Chinatown – und praktisch jeden gefragt, der aussah, als könnte er Tätowierungen machen. Schließlich fuhr ihn ein Taxifahrer zu einem Dreckloch von Keller, wo es angeblich ein illegales Tätowierstudio gab. Als die Tür geöffnet wurde, wußte er, daß er an der richtigen Stelle war.

»Wollen Sie noch eine?« fragte der Mann.

Er erklärte dem Künstler, daß er keine Erinnerungen an seine vorhergehenden Besuche habe. Er sei jedesmal betrunken gewesen und habe nicht gewußt, was er tat.

Der Künstler schüttelte mit undurchdringlichem Gesicht den Kopf.

»Doch, Sie wußten es«, sagte er mit dem Akzent eines Einwanderers.

Plötzlich kam ihm der erschreckende Gedanke, daß der Tätowierer womöglich kein Chinese, sondern Vietnamese sei. Hatten sie ihn quer über den Ozean verfolgt? Wollten sie ihm hier, in seiner Heimat, ans Leder?

Er schüttelte den Kopf, um die Paranoia abzustreifen.

»Hören Sie, guter Mann, ich will keine Tätowierungen mehr. Ich will keine mehr, ist das klar? Egal, ob ich betrunken oder nüchtern herkomme, schicken Sie mich wieder weg. Machen Sie mir keine Tätowierungen mehr. Okay?«

»Nicht okay.« Wieder ein Kopfschütteln. »Sie nicht wollen herkommen. Sie wollen woanders hingehen. Ich mache gute Tätowierungen. Sie kommen her, ich mache gute Tätowierung …«

Er drohte dem Mann, der Polizei von diesem illegalen Geschäft zu erzählen, aber der Tätowierer lächelte nur sein aufreizendes asiatisches Lächeln.

»Sie gehen nicht zur Polizei.«

Noch am gleichen Abend zog er sich eine weitere Tätowierung zu. Als er sie am nächsten Morgen entdeckte, ging er wieder hin, um den Künstler windelweich zu prügeln, sah sich aber einem nicht minder wütenden Tätowierer gegenüber.

»Sie Fliegen im Kopf. Sie verrückt. Warum kommen am Abend zu mir und sagen: ›Mach mir Tätowierung‹ und kommen am Tag wütend wieder her? Ich mache, was Sie sagen. Wenn Sie keine Tätowierung wollen, Sie nicht herkommen dürfen, Sie verrückter Irrer.«

Aus dem Unterholz des Kellers schienen Freunde und Verwandte des Tätowierers aufzutauchen, die sich im Schatten hinter dem Mann mit verschränkten Armen aufbauten. Der Veteran wußte, daß sie binnen weniger Sekunden womöglich sogar mit Messern über ihn herfallen würden, wenn er Ärger machte.

»Ihr Ärsche habt mich hypnotisiert oder so was«, sagte er. »Warum, in Gottes Namen, komme ich immer wieder her? Ich verstehe das nicht. Was, zum Teufel, ist hier los?«

Der Tätowierer zuckte die Achseln.

»Woher haben Sie überhaupt die Motive? Solche Motive habe ich im Leben noch nicht gesehen.«

Der Künstler kramte in einer Schublade herum und zog einen Stapel Blätter hervor. Auf jedem Blatt war die Zeichnung eines Symbols, das den Tätowierungen ähnelte. Er starrte die Blätter verständnislos an, bis ihm der Asiate erklärte: »Sie zeichnen. Sie zeichnen sie. Immer wenn Sie herkommen, nehmen Papier und zeichnen Bild.«

»Das glaube ich nicht«, sagte er betroffen.

»Ist mir doch egal«, lautete die Antwort.

Er ging nach Hause und starrte die Wand an. Nach und nach erinnerte er sich an den Vorfall. Er zerrte ihn aus dem Winkel seines Bewußtseins, wo er ihn zusammen mit all den anderen Alpträumen des Dschungels hatte begraben wollen, nach vorn. Der Vietcong, den er in der Höhle verbrannt hatte. Die Leiche hatte Tätowierungen auf dem Arm gehabt, die denen auf seinem eigenen Körper ähnelten. Kleine Kringel und Umrisse, die aussahen, als wären sie von den Ornamenten einer Säule in einem Schlangentempel kopiert. Phil war auf dieser Patrouille dabei gewesen. Sie hatten unter vier Augen darüber geredet. Phil hatte vermutet, daß es sich um religiöse Symbole handelte – Symbole, die so alt waren wie Vietnam selbst.

»Es hieß früher ›Das Land der tätowierten Männer‹«, hatte Phil erklärt.

»Was hieß so?«

»Dieses Land hier. Vietnam. Vor dreitausend Jahren war hier das Königreich von Van Tank, oder das Land der tätowierten Männer …«

Phil war sein Lieutenant gewesen. Phil war sein bester Freund. Sie waren zusammen auf dem College gewesen, und er hatte eine Berufung abgelehnt, damit sie zusammen bleiben konnten. Sie hatten ihr Jahr in der Hölle zusammen überlebt, und sie waren zusammen heimgekommen. Phil hatte ihn in seinem Apartment wohnen lassen, während er sich nach einer eigenen Wohnung umgesehen hatte. Nur drei Wochen nach ihrer Rückkehr war Phil ermordet worden. In der U-Bahn von einem oder mehreren Unbekannten erstochen. Sie hatten seine Uhr und seine Ringe und drei Dollar aus seiner Brieftasche gestohlen. Ein ganzes Jahr in Vietnam, wo einem ständig die Brocken um die Ohren flogen und wo amerikanische Soldaten starben wie die Fliegen, und Phil hatte es geschafft, er hatte überlebt. Er hatte es überlebt, bis ihn in der U-Bahn ein Schweinehund aufgeschlitzt hatte, dem der Krieg in Asien nicht reichte und der in New York noch einen anfangen mußte.


Nachdem ich im Park spazieren gegangen war, wobei ich dichte Baumgruppen mied – ich habe es mir angewöhnt, Baumgruppen zu meiden –, fuhr ich mit dem Taxi nach Brooklyn zu der Adresse, die auf seinem Brief stand. Ich stieg die Hintertreppe eines verkommenen Wohnhauses hinauf und klopfte an. Er ließ mich ein.

»Erinnern Sie sich?« sagte er.

»Ich erinnere mich an die Zeit und den Ort«, erwiderte ich. »Wenn Sie sagen, daß Sie dort waren, dann glaube ich es Ihnen.«

»Ich war als Späher eingeteilt. Ich war mit Phil unterwegs, aber Phil ist tot. Wahrscheinlich sind inzwischen alle tot außer Ihnen und mir.«

Ich starrte ihn an. Er trug Stiefel und Kampfjacke und einen Schlapphut, der sogar seinen Nacken bedeckte. Nur die Hände und das Gesicht waren zu sehen, und selbst dort bedeckten die Tätowierungen jeden Quadratzentimeter Haut. Der Fellkragen war hochgestellt und zugeknöpft. Der Schlapphut war heruntergezogen und bedeckte die Ohren. Auf seinen Wangen, auf der Nase und um Mund und Augen waren seltsame Zeichnungen zu sehen: geometrische Figuren, Spiralen. Die Linien schienen den natürlichen Konturen seiner Gesichtszüge zu folgen, aber wenn man näher hinsah, bemerkte man stellenweise scharfwinklige Abweichungen, und das Grundmuster zerfiel in Formen und Umrisse, die an Blätter, Grashalme oder Stücke von Baumrinde erinnerten. Es war, als blickte man in einen stillen Teich, der das Licht und den Schatten von darüber hängendem Blattwerk reflektierte.

»Sie erinnern mich an ein Bild, das ich mal gesehen habe«, warf ich ein, um das inzwischen etwas drückende Schweigen zu brechen. »Die Interpretation eines Malers von Queepeg aus Moby Dick. Die tätowierten Wangen …« Ich glaube, mein Versuch, ein oberflächliches Geplauder zu beginnen, ging unter wie ein Stein. Ich konnte keine Veränderung seines Augenausdrucks erkennen. Die Augen waren das einzig Stabile an ihm, denn der Rest seiner Gesichtszüge schimmerte und zerfloß, waberte und bildete sich neu.

»Ich bin da drunter kahl«, bemerkte er. Er meinte seinen Hut. »Kahl und tätowiert. Ich rasiere mir nicht den Kopf, sondern ich zupfe die Haare aus, wie es die Indianer gemacht haben. Es tut weh, aber dafür ist es irgendwann vorbei.« Er hielt inne. Dann fuhr er fort: »Ich habe Ihnen im Brief davon erzählt.«

»Sie schrieben, Sie hätten sich Tätowierungen zugezogen wie der Tote, den wir in Vietnam sahen.« Ich war nicht ganz sicher, was er mit ›zugezogen‹ überhaupt meinte.

»Yeah. Sie … haben Sie das Foto dabei?«

Ich nickte und zog den Umschlag aus meiner Tasche. Er griff begierig danach und nahm das Foto heraus. Es war das Bild, das ich vom verbrannten Vietnamesen in der Höhle aufgenommen hatte. Oder besser, eins der Bilder.

»Yeah, das ist er«, sagte er zufrieden. »He, sehen Sie mal.« Er zog den Ärmel hoch und zeigte mir seinen Arm, der völlig mit bunten Symbolen bemalt war. Die Haut verschwamm vor meinen Augen.

»Sehen Sie, ich hab’s mir richtig gemerkt. Können Sie sich das vorstellen? Ich hab’s irgendwie aus dem Kopf nachgemacht.« Er tippte sich an den Schädel. »Habe sie exakt kopiert, und ich brauchte nicht einmal drüber nachzudenken.«

Er hatte die Symbole tatsächlich genau getroffen. Sie hatten sich offenbar unauslöschlich in sein Unterbewußtsein eingebrannt. Etwas hatte ihn veranlaßt, diese Zeichen aus dem Kopf zu Papier zu bringen und von dort aus auf seinen Körper übertragen zu lassen. Man konnte sagen, daß er innerlich schon vor langer Zeit tätowiert worden war, und daß die Zeichen nur eine Weile gebraucht hatten, bis sie auf die Haut durchgeschlagen waren.

»Woher sind die anderen gekommen?« fragte ich.

»Was?«

»Nun ja, Sie haben damals nur einen Arm und ein Stück von der Brust gesehen. Wie sind Sie an die Vorlage für den Rest Ihres Körpers gekommen?«

»Es ist ein Muster«, erwiderte er, indem er vom Foto aufblickte. »Es wiederholt sich.«

»Oh.«

»Sind Sie bereit?«

»Kann losgehen«, sagte ich. Er hatte es im Brief erklärt: Ich sollte ihn vor einem Hintergrund aus Gras oder Bäumen oder Felsen in einer natürlichen Umgebung fotografieren.

Wir fuhren mit dem Taxi zum Central Park. Unterwegs sprachen wir über seine Entdeckung, ohne uns vom neugierigen Taxifahrer, der immer wieder in den Rückspiegel blickte, stören zu lassen.

»Eines Nachts wurde es mir klar«, erklärte er. »Es war schon nach Mitternacht. Der Scharfschütze damals war ein schießwütiger Cajun mit Adleraugen. Er schoß auf Nebelschwaden, auf Farne, die im Wind schwankten, auf ein fallendes Blatt, und ich hatte noch nie gesehen, daß er verfehlt hatte. Wenn der Bursche geschossen hat, konnten wir danach immer Leichen zählen. Ich fragte mich, worauf er an jenem Tag geschossen hatte. Ich weiß noch, daß wir ihn damals fragten, und er sagte: ›Ein Geruch. Ich habe den Schatten gerochen.‹ Der Bursche war von daheim daran gewöhnt, im Zwielicht in den Bayous zu jagen. Er war der beste Schütze, den ich je kennengelernt hatte. Und ich dachte, Mann, wenn dieser Cajun den Mann nicht gesehen hat, dann muß der Bursche sich in einem Baum versteckt haben. Und dann kam ich auf die Idee …«

Wir erreichten den Park und schickten das Taxi weg. Es wurde langsam Abend, und die meisten Büroangestellten waren auf dem Heimweg. Einige Leute waren im Park unterwegs, aber es gelang ihm, eine Stelle zwischen den Bäumen zu finden, wo wir ungestört waren. Ich bekam dort eine Heidenangst. Es war genau die Gegend, in der der Mord passiert war. Ich wollte es nur noch schnell hinter mich bringen und ins Roosevelt zurückkehren.

Er begann sich auszuziehen und redete weiter, während ich ihn knipste.

»Die perfekte Tarnung«, sagte er. »Die Männer im alten Vietnam – ich meine vor wirklich langer Zeit – verstanden etwas davon. Wahrnehmung. Nur darauf kommt es an. Dieser Vietcong, den wir verbrannten – er muß es in einem alten Buch gefunden oder ein Bild auf einer Höhlen- oder Tempelwand gesehen haben.«

»Vielleicht war er überhaupt kein Nordvietnamese«, warf ich ein, während meine Kamera unablässig klickte.

»Kann sein, kann sein. Wie auch immer, er kannte das Geheimnis – das Geheimnis der perfekten Tarnung. Früh in der Geschichte müssen die Herrscher der alten Königreiche – sie müssen solche Männer benutzt haben – Meuchelmörder. Und jetzt ich, und ich weiß … ich glaube, es wirkt nur, wenn der ganze Körper bedeckt ist – ist es nur ein Teil, ein Arm oder ein Bein, dann gibt es einen Effekt, aber eben nicht die vollständige Tarnung, nicht das vollkommene Verschmelzen mit dem Hintergrund, bis der tätowierte Mann mit bloßem Auge nicht mehr wahrnehmbar ist. Erinnern Sie sich an die Schlangen in Vietnam? Die konnte man auch erst sehen, wenn man beinahe schon draufgetreten war, selbst wenn man sie direkt anstarrte. Diese Tarnung hier ist sogar noch wirkungsvoller. Sie verdeckt auch Bewegungen. Die Künstler, die das erfunden haben, müssen es im Laufe von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden perfektioniert haben. Sie müssen die Geschöpfe des Waldes studiert und eine Wissenschaft von Licht und Schatten erfunden haben, vom empfindlichen Gleichgewicht zwischen Zeichen und freier Stelle … Mann, das waren Genies. Können Sie es sich vorstellen? Steinzeitleute, die Farben aus Blumen und Blättern gewannen und in den Flüssen nach farbigen Tonsorten gruben, die dieses und jenes probierten, bis eines Tages – Bingo! – der perfekte Jäger …«

Nach einer Weile war er nur noch eine körperlose Stimme, die vor mir irgendwo zwischen den Bäumen sprach. Seine Kleidung lag als unordentlicher Haufen auf dem Boden. Ich machte Fotos, sah aber nichts als Bäume. Ich bekam eine Gänsehaut, und als einmal irgendwo links von mir ein Zweig knackte, hätte ich beinahe geschrien. Auch so sprang ich noch zwei Schritte zurück. Ich war fast besinnungslos vor Angst.

»Sind Sie noch da?« Ich weiß nicht, warum ich auf einmal flüsterte.

Ich bekam keine Antwort. Ich versuchte, die länger werdenden Schatten zu beobachten und zwischen ihnen eine Bewegung zu erkennen. Die Gesetze von Licht und Dunkelheit konnte er nicht aufheben, das war klar. Ich achtete auf ein Flackern, auf den dunklen Umriß eines Mannes auf dem Laub, aber ich war nicht sicher. Dann bemerkte ich etwas aus den Augenwinkeln und fuhr wieder auf, aber es schien nur der Wind zu sein, der über das Gras wehte. Mein Herz pochte rasend schnell, mein Blut rauschte durch meine Adern, und wenn ich nicht aufpaßte, würde ich Dinge zu sehen beginnen, die mit Sicherheit nicht da waren.

Ich erinnerte mich an den Rest des Artikels über den Mörder, der den Vergewaltiger in diesem Park und vielleicht sogar an genau dieser Stelle getötet hatte. Keiner der Zeugen hatte den Täter gesehen, nicht einmal die Frau, die gerettet worden war. Alle wußten, daß jemand da war, aber die Zeugen hatten ihn eher gespürt als gesehen. Ein Gespenst, ein Phantom, nur als flüchtiger Schatten in der Abenddämmerung auszumachen.

Plötzlich fiel mir ein, daß in diesem Augenblick wahrscheinlich nur noch zwei Menschen lebten, die den Vorfall mit dem tätowierten Vietnamesen in der Höhle gesehen hatten. Stellte ich eine Gefahr für ihn dar, weil ich außer ihm selbst der zweite war, der es miterlebt hatte? Plötzlich spürte ich einen warmen Hauch auf der Wange. Ich roch den schalen Atem eines Menschen. Ich drehte mich um, rannte weg und schrie wie ein Irrer aus Leibeskräften: »Nicht, tun Sie das nicht, tun Sie das nicht, tun Sie das nicht …«

Als er, wieder angezogen, am Ausgang des Parks zu mir aufschloß, hatte ich mich wieder gefaßt.

»Das war aber dumm«, sagte er. Er lächelte dabei schief, als wäre dies die erste amüsante Begebenheit in der ganzen Geschichte.

»Ich will es mal so sagen«, antwortete ich und kam mir ziemlich dumm vor. »Ich habe immerhin eine gute Entschuldigung. Es ist mir egal, ob wissenschaftliche oder übernatürliche Gründe dahinterstecken, aber ich bin einfach nicht daran gewöhnt, daß vor meinen Augen Männer einfach verschwinden.«

Er grunzte, dann griff er in die Tasche seiner Kampfjacke und zog ein Notizbuch heraus. Er gab es mir.

»Was ist das?« fragte ich.

Er sah mich mit schwarzen, kalten Augen an.

»Das ist mein Tagebuch. Da drin finden Sie alles, was Sie brauchen, wenn Sie den Artikel schreiben.«

»Den Artikel schreiben?«

»Ja, aber warten Sie noch einen Monat, ehe Sie ihn irgendwo anbieten. Die Geschichte wird bis dahin noch größer sein.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Nein, tun Sie nicht«, erwiderte er schroff. »Noch nicht, noch nicht.«

Wir verließen den Park und gingen im Strom der Menschheit auf dem Gehweg auf. Bevor er sich verabschiedete, hielt er mich mit kräftigem Griff am Arm fest. Der New Yorker Verkehr strömte an uns vorbei, überall um uns der Lärm und das Getriebe der Stadt. Die Leute stießen uns an, weil wir ihnen den Weg versperrten.

»Hören Sie«, sagte er, »was halten Sie von der Idee des neuen Präsidenten, Militärberater nach Thailand zu schicken?«

»Was halten Sie davon?«

Er starrte nach oben, wo die Häuser im abendlich düsteren Himmel um Licht und Raum kämpften.

»Ich habe einen achtzehnjährigen Sohn, der zum College geht«, sagte er.

Zwischen den Gebäuden, inmitten der Menschen, fühlte ich mich sicherer. Ich schleuderte ihm meine Anklage entgegen.

»Dann werden Sie also den Präsidenten töten, wie Sie den Vergewaltiger töteten?«

Seine Antwort kam völlig unerwartet.

»Wir haben entschieden, daß das höchstwahrscheinlich nicht nötig ist«, sagte er. Dann verschwand er. Er eilte, die Hände tief in die Hosentaschen gesteckt, über den Gehweg davon. Ich sah dem verknitterten Hut nach, bis er im Gedränge verschwand, dann fuhr ich mit einem Taxi ins Hotel zurück.

In meinem Zimmer im Roosevelt angelangt, zog ich sein Notizbuch aus der Tasche. Es verriet mir kaum etwas, das ich nicht schon wußte.

Vor allem erfuhr ich nichts über den schockierenden Plural, den er mir als Abschiedsgruß zurückgeworfen hatte. »Wir haben entschieden …« Wer, zum Teufel, waren sie?

An diesem Abend ging ich aus und betrank mich.

Am nächsten Morgen mietete ich eine Dunkelkammer und entwickelte die Fotos, die ich im Park aufgenommen hatte. Ich starrte die Abzüge noch Stunden danach bei allen möglichen Lichtbedingungen an und fand natürlich nichts außer Bäumen, Gras und Schatten. Viele Schatten. Er war dort irgendwo, aber ich konnte ihn nicht sehen, und ich bezweifelte, daß irgend jemand sonst ihn sehen konnte. Ich nahm an, er wollte, daß ich sie zusammen mit dem Artikel veröffentlichen sollte, den ich ihm versprochen hatte. Aber wie soll man beweisen, daß man Fotos eines Unsichtbaren aufgenommen hat? Die Sache war lächerlich. Er war einfach eitel. Man konnte ihn beim Ausziehen noch sehen, da war er ein tätowierter Mann, der aus der Hose stieg, aber sobald er die Kleider abgelegt hatte, war er verschwunden.

Es ist wohl so ähnlich, als würde man einem Tiger ein rotes Halstuch umlegen und ihn in seinen natürlichen Lebensraum setzen. Das Tuch hilft, das Tier zu finden, und man kann sogar zwischen den Schatten und im Blattwerk den Umriß des Tieres erkennen. Erst wenn man nicht mehr genau weiß, nach welchem Umriß man suchen muß – aufrecht, gebückt, gekrümmt, gehockt –, kann die Tarnung ihren Zauber entfalten.

In diesem Fall handelte es sich nicht um eine natürliche Form der Tarnung wie beim Tiger oder bei der Zeichnung einer Bergschnepfe. In diesem Fall war die Tarnung das Ergebnis einer von Menschen vervollkommneten Wissenschaft oder Kunst. Die Tätowierungen des Veteranen waren gegenüber den Streifen des Tigers das, was Raketentriebwerke gegenüber den Schwingen einer Möwe waren.

Ich packte meine Sachen, weil ich so bald wie möglich nach Kalifornien zurück wollte, nach Hause. Oder sollte ich für eine Weile lieber gleich nach Großbritannien gehen? Irgendwohin, nur möglichst weit von Washington entfernt.

Ich dachte daran, die Polizei anzurufen, aber dann besann ich mich. Es war überhaupt nicht sicher, ob die Polizei mir geglaubt hätte, aber die Medien hätten mit Sicherheit davon Wind bekommen, und die waren alles andere als zimperlich. Die Presse liebte solche Geschichten: tätowierte Männer, unsichtbare Mörder, Selbstjustiz im Park, Drohungen gegen den Präsidenten. Wenn die Geschichte bekannt wurde, war damit zu rechnen, daß sie aufgeblasen wurde, bis es um Vietnamesische Agenten in New York und Hypnotisierte Veteranen als Mordmaschinen ging. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir: MANDSCHURISCHER MASSENMÖRDER GEFASST. Der Präsident hätte seinen Beweis, und Menschen mit asiatischen Gesichtszügen würden sich nicht mehr auf die Straße trauen.

Ich wollte vergessen, was ich gesehen hatte, oder besser, was ich nicht gesehen hatte. Ich wollte mein Versprechen, die Geschichte zu veröffentlichen, brechen. Die Argumente, die ich benutzte, um meine Position zu verteidigen, waren eher dünn. Ich war Fotograf. Ich dokumentierte Ereignisse. Ich griff nicht ein. Ich bezog nicht Stellung. Ich war wie ein Priester oder ein Anwalt oder ein Arzt. Ich hatte auf Vertraulichkeit meinem Kunden gegenüber zu achten.

Es war dumm gewesen, überhaupt herzukommen. Es war dumm von ihm gewesen, mich zu fragen. Ich glaube, die alte Verbindung aus Vietnam war stark, denn sonst hätte er nicht gefragt, und ich wäre nicht gekommen. Seine Vorstellungen von der Realität mußten sich in den letzten Monaten erheblich verändert haben.

Vielleicht hatte er es für nötig gehalten, ihre Gültigkeit mit der Hilfe eines Mannes, der dort gewesen war und das gleiche gesehen hatte wie er, auf die Probe zu stellen. Inzwischen zerkrümelte auch meine Vorstellung von der Realität.

Irgendwo tauchte zögernd ein neuer Gedanke auf: Die Idee, daß er vielleicht nicht der einzige war. Es war ein langer Krieg gewesen, in dem viele nie erzählte Dinge geschehen waren. Vielleicht war unser Erlebnis gar nicht so einzigartig? Wie auch immer, nichts konnte ihn davon abhalten, sein Geheimnis jemand zu verraten. »Wir haben entschieden, daß das höchstwahrscheinlich nicht nötig ist …«

Ich weiß nicht, wie viele von ihnen dort draußen unterwegs sind und still und unsichtbar durch Wälder und Felder und Hügel und Täler huschen. Vielleicht nur einer, vielleicht tausend. Vielleicht noch mehr. Vielleicht sind es viele, vielleicht haben sie die Gebiete außerhalb der Städte und Siedlungen und die Parks schon längst übernommen, vielleicht ist das offene Land eine Unterwelt geworden, die sich unserer Kontrolle entzieht. Wir können es nicht wissen. Vielleicht muß man sogar an das Äußerste denken. Vielleicht sollte man nicht mehr sagen, daß es tätowierte Männer im Land gibt, sondern, daß wir schon längst im Land der tätowierten Männer leben.


Gestern ist etwas passiert – etwas Gewaltiges, Außergewöhnliches. Ich habe mehrere Wochen lang weder in die Zeitung gesehen noch Radio gehört oder ferngesehen – nicht mehr, seit ich New York verlassen hatte. Ich weiß, daß etwas passiert ist, weil es in der Luft liegt wie das Summen von einer Million Fliegen. Die Schritte draußen klingen gehetzt. Die Leute auf den Straßen eilen schneller als sonst vorbei, als müßten sie rasch irgendwo eintreffen. Schreie wollen meine Ohren erreichen, aber ich kann sie nicht richtig hören. Ich habe nicht die Absicht, dieses Phänomen zu recherchieren.



Originaltitel: ›IN THE COUNTRY OF TATTOOED MEN‹ • Copyright © 1993 by Garry Kilworth • Erstmals erschienen in ›In the Country of Tattooed Men‹, Grafton/HarperCollinsPublishers: London, 1993 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlück, Literarische Agentur, Garbsen • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Langowski • Illustriert von Jobst H. Teltschik.

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