James Morrow • USA
DIE KRIEGER UND DIE FRAU


»Was hast du im Krieg gemacht, Mami?«

Der letzte lange Schatten ist schon vor Stunden vom Zifferblatt der Sonnenuhr geglitten, mit der heißen ägyptischen Nacht verschmelzend. Meine Kinder sollten längst schlafen. Statt dessen springen sie auf ihren Strohlagern herum und schinden Zeit.

»Es ist spät«, antworte ich. »Schon neun.«

»Bitte«, betteln die Zwillinge mich im Chor an.

»Ihr habt morgen Schule.«

»Du hast uns die ganze Woche keine Geschichte erzählt«, beharrt Damon, der Quengler.

»Der Krieg ist eine so tolle Geschichte«, erklärt Daphne, die Schmeichlerin.

»Kaptahs Mutter erzählt ihm jeden Abend eine Geschichte«, quengelt Damon.

»Erzähl uns vom Krieg«, schmeichelt Daphne, »und wir putzen morgen die ganze Kate von oben bis unten.«

Ich erkenne, ich werde einlenken – nicht weil es mir Spaß macht, meine Kinder zu verwöhnen (obgleich ich es tue), oder weil die Geschichte selbst weniger Zeit in Anspruch nehmen wird als weitere Verhandlungen (obgleich das so ist), sondern weil ich tatsächlich möchte, daß die Zwillinge diese besondere Geschichte hören. Sie hat eine Pointe. Natürlich habe ich sie schon früher erzählt, ein dutzendmal vielleicht, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, daß sie sie verstehen.

Ich schnappe mir die Eieruhr und stelle sie umgedreht auf den Nachttisch, die winzigen Sandkörner fließen in die untere Kammer wie Saatkörner aus den Händen eines Bauern. »Seid in drei Minuten bettfertig«, warne ich meine Kinder, »oder keine Geschichte.«

Sie huschen davon, putzen sich eiligst die Zähne und schlüpfen in ihre Leinennachthemden. Leise gleite ich durch die Kate, lösche die Lampen und ziehe den Vorhang vor den Mond, bis nur noch eine einzelne Kerze das Zimmer der Zwillinge erleuchtet wie das Lagerfeuer einer kleinen, rührenden Armee, einer Armee von Mäusen oder Skarabäen.

»Ihr wollt also wissen, was ich im Krieg gemacht habe«, intoniere ich im Singsang, während meine Kinder in ihre Betten klettern.

»O ja«, sagt Damon und zieht seine wollige Bettdecke hoch.

»Und ob«, sagt Daphne und schüttelt ihr Gänsefederkissen auf.

»Es war einmal vor vielen Jahren«, beginne ich, »da lebte ich als Prinzessin und zugleich Gefangene in der großen Stadt Troja.« Selbst in diesem schwachen Licht verblüfft mich, wie schön Damon ist und wie hübsch Daphne. »Jeden Abend saß ich in meinem Boudoir und blickte in meinen polierten Bronzespiegel …«


Helena von Troja, Prinzessin und Gefangene, sitzt in ihrem Boudoir, blickt in ihren polierten Bronzespiegel und sucht ihr Weltklassegesicht nach Symptomen von Alterung ab – nach Falten, Doppelkinn, Tränensäcken, Krähenfüßen und den zinnenartigen Leichen von Haaren. Ihr ist zum Heulen, und nicht nur, weil man ihr diese letzten zehn Jahre in Ilium[6] langsam ansieht. Sie ist dieses ganze schmutzige Arrangement leid, sie ist es leid, in dieser überhitzten Akropolis eingesperrt zu sein wie ein Kakadu im Käfig. Getuschel geht durch die Zitadelle. Die Diener tratschen, sogar ihre eigenen Mägde. Die Hure von Hissarlik[7] nennen sie sie. Die Schlampe aus Sparta. Das lakedaimonische[8] Flittchen.

Dann ist da noch Paris. Sicher, sie liebt ihn schrecklich, sicher, sie haben großartigen Sex miteinander, aber können sie nicht mal reden?

Seufzend schüttelt Helena mit ihren langen, schlanken, exquisit manikürten Fingern ihre Frisur aus. Ein silbernes Haar liegt inmitten der entfalteten Pracht wie eine räuberische Schlange. Langsam windet Helena sich die anstößige Faser um den Zeigefinger und ruckt kurz daran. »Autsch«, schreit sie auf, mehr aus Verzweiflung, denn vor Schmerz. Manchmal ist Helena danach, sich die ganzen schönen Locken auszureißen bis zum letzten Büschel, nicht bloß diese ergrauenden Fäden. Wenn ich noch einen sinnlosen Tag in Hissarlik verbringen muß, sagt sie sich, werde ich verrückt.

Jeden Morgen führt sie mit Paris dasselbe deprimierende Ritual durch. Sie geleitet ihn zum Skalischen Tor, reicht ihm Speer und Henkelmann und schickt ihn mit einem raschen lauen Kuß zur Arbeit. Paris’ Arbeit ist es, Menschen zu töten. Bei Sonnenuntergang kehrt er heim, bekleckert mit Blut und nach Bestattungsfeuern stinkend, der Speer eingehüllt in Stücke trocknender Eingeweide. Da draußen tobt ein Krieg: Paris erzählt ihr nie mehr. »Gegen wen kämpfen wir?« fragt sie jeden Abend, wenn sie zusammen im Bett liegen. »Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen kleinen Kopf«, antwortet er und zieht ein Schafsdarmkondom über den Schwengel, die Marke mit dem behelmten, Helmbusch tragenden Soldaten auf der Schachtel.

Bis zu diesem Jahr wollte Paris, daß sie jeden Morgen über Trojas hohe Mauern spazierte, den Truppen ermutigend zuwinkte und ihnen Kußhände zuwarf, während sie in die Schlacht marschierten. »Dein Gesicht inspiriert sie«, beharrte er stets. »Ein luftiger Kuß von dir ist soviel wert wie tausend leidenschaftliche Nächte mit einer Nymphe.« Doch in den letzten Monaten haben sich Paris’ Prioritäten geändert. Sobald sie sich verabschiedet haben, soll sie, Helena, in die Zitadelle zurückkehren, ohne mit jemandem zu sprechen, und ohne einen kurzen Kaffeeklatsch mit einer von Paris’ neunundvierzig Schwägerinnen abzuhalten. Sie soll den ganzen Tag mit Teppichweben, Flachskämmen und Schönsein zubringen. Das ist kein Leben.

Können die Götter helfen? Helena ist skeptisch, doch es lohnt den Versuch. Morgen, beschließt sie, wird sie zum Tempel Apollos gehen und ihn bitten, ihre Langeweile zu beleben, und sie wird ihre Bitte vielleicht durch ein Angebot untermauern – einen Widder, einen Bullen, was auch immer – wenngleich ihr so ein Angebot eher wie ein Kuhhandel vorkommt, und Helena hat genug davon. Ihr Mann – Pseudoehemann, Nichtehemann – hat einen Kuhhandel abgeschlossen. Sie denkt immer an den Zankapfel und was Aphrodite vielleicht damit gemacht hat, nachdem sie Paris bestochen hatte. Hat sie ihn in ihre Fruchtschale fallen lassen … ihn auf den Kamin gelegt … ihn auf ihre Krone gespießt? Warum hat sie das verdammte Ding ernst genommen? Warum hat überhaupt jemand von denen es ernst genommen? Hallo, ich bin die schönste Göttin im Universum – seht, es steht so hier auf meinem Apfel.

Verdammt – noch ein graues Haar, ein weiteres Unkraut im Garten ihrer weiblichen Schönheit. Sie greift nach dem Übeltäter – und verharrt. Warum das Getue? Diese Haare sind wie Hydras Köpfe, zahllos, krebsartig, und außerdem ist es höchste Zeit, daß Paris erkennt, da sitzt ein Verstand unter dieser Frisur.

Woraufhin Paris hereinkommt, schwitzend und schnaubend. Der Helm schief; der Speer blutbesudelt; seine Beinschienen klebrig von Menschenfleisch.

»Harter Tag, Liebster?«

»Frag nicht.« Ihr Nichtehemann löst seinen Brustpanzer. »Schenk uns Wein ein. Du hast ins Speculum[9] geschaut, nicht wahr? Gut.«

Helena legt den Spiegel ab, entkorkt die Flasche und füllt zwei diamantbesetzte Pokale mit Chateau Samothrake.

»Ich habe heute von einigen Techniken gehört, die du vielleicht ausprobieren solltest«, sagt Paris. »Möglichkeiten für eine Frau, ihre Schönheit zu erhalten.«

»Du meinst – du redest auf dem Schlachtfeld?«

»Während der flauen Phasen.«

»Ich wünschte, du würdest mit mir reden.«

»Wachs«, sagt Paris und hebt den Pokal an seine Lippen. »Wachs ist das Richtige.« Seine schweren Wangen legen sich in Wellen, während er trinkt. Ihre Affäre, das gesteht Helena, verschafft ihr immer noch Nervenkitzel. In den letzten zehn Jahren hat ihr Liebhaber etwas über die flüchtige Schönheit eines Adonis Hinausgehende und ebenso Anziehende entwickelt, eine gebieterische, ungezierte Sexualität, einem alternden Matinee-Idol nicht unähnlich. »Nimm etwas geschmolzenes Wachs und arbeite es in die Linien auf deiner Stirn ein – und presto sind sie weg.«

»Mir gefallen meine Linien«, beharrt Helena mit raschem, aber hörbarem Schnauben.

»Man sagt, mit Ochsenblut gemischt, ist der dunkle Schlick aus dem Fluß Minyeios farbecht. Du kannst deine silbernen Haare wieder goldbraun färben. Ein griechisches Rezept.« Paris nippt an seinem Wein. »Und was die überschüssigen Unzen an deinen Schenkeln angeht, nun, Liebes, wir beide wissen, es gibt nichts Besseres als Training.«

»Wer sagt das wem«, höhnt Helena. »Deine Haut ist keine Pfirsichhaut. Dein Kopf ist kein üppig wuchernder Garten mehr. Und was deinen Bauch betrifft, jede Wette, daß Paris von Troja durch den Regen gehen kann, ohne daß seine Schuhschnallen naß werden.«

Der Prinz trinkt sein Glas leer und seufzt. »Wo ist das Mädchen, das ich geheiratet habe? Du hast immer so viel Wert auf dein Aussehen gelegt.«

»Das Mädchen, das du geheiratet hast«, antwortet Helena pointiert, »ist nicht deine Frau.«

»Nun ja, natürlich nicht. Technisch gesehen, gehörst du noch ihm.«

»Ich will eine Hochzeit.« Helena trinkt gierig einen Schluck Samothrake und stellt den Pokal auf den Spiegel. »Du könntest zu meinem Mann gehen«, schlägt sie vor. »Du könntest dich dem hochherzigen Menelaos vorstellen und versuchen, die Sache auszudiskutieren.« Auf der unebenen Spiegelfläche reflektiert, wächst der Pokal sonderbar, verzerrt, wie durch die Augen eines Betrunkenen gesehen. »He, hör zu, ich bin sicher, er hat inzwischen eine andere gefunden – schließlich ist er eine gute Partie. Also, vielleicht hast du ihm sogar einen Gefallen getan. Vielleicht ist er nicht mal wütend.«

»Er ist wütend«, beharrt Paris. »Der Mann ist zornig.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es.«

Ungeachtet ihres königlichen Standes konsumiert Helena den restlichen Wein mit der groben Sorglosigkeit eines Galeerensklaven. »Ich will ein Baby«, sagt sie.

»Was?«

»Du weißt schon: ein Baby. Baby: ein extrem junger Mensch. Mein Ziel, lieber Paris, ist es, schwanger zu werden.«

»Vaterschaft ist etwas für Verlierer.« Paris schmeißt seinen Speer aufs Bett. Die Matratze streichend, verschwindet der eichene Schaft in den weichen Daunen. »Vorsicht mit dem vino, Liebes. Alkohol macht schrecklich fett.«

»Verstehst du nicht? Ich verliere den Verstand. Eine Schwangerschaft würde mir einen Lebensinhalt geben.«

»Jeder Idiot kann ein Kind zeugen. Eine Zitadelle verteidigen kann nur ein Held.«

»Hast du eine andere gefunden, Paris? Ist es das? Eine Jüngere, Schlankere?«

»Sei nicht albern. Durch alle Zeiten hindurch, in vergangenen Tagen und noch kommenden Epochen, wird kein Mann eine Frau so lieben wie Paris Helena liebt.«

»Ich wette, die Ebenen Iliums wimmeln nur so von Prostituierten, die den Truppen folgen. Die müssen vor Begeisterung über euch glatt in Ohnmacht fallen.«

»Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen kleinen Kopf«, sagt Paris und wickelt ein Helmbusch-Soldaten-Schafsdarmkondom aus.

Falls er das je wieder zu mir sagt, schwört Helena, als sie angetrunken ins Bett purzeln, werde ich so laut schreien, daß die Mauern Trojas einstürzen.


Das Gemetzel läuft nicht gut, und Paris ist deprimiert. Günstig geschätzt, hat er heute morgen bestenfalls fünfzehn Achaier in das Haus des Hades geschleudert: Machaon mit den starken Beinschienen, Euchenor mit den Eisenmuskeln, den axtschwingenden Deichos und ein Dutzend weitere – fünfzehn edle Krieger in die dunklen Tiefen geschickt, fünfzehn atemlose Körper als Futter für Hunde und Raben zurückgelassen. Lausig.

Entlang der ganzen Front gibt Priamos’ Armee kampflos Boden preis. Ihre Moral ist gebrochen, ihr esprit ist erschöpft. Sie haben Helena seit einem Jahr nicht gesehen, und ihnen ist nicht mehr nach kämpfen zumute.

Mit einem tiefen äolischen Seufzer setzt sich der Prinz auf seinen Stapel konfiszierter Waffen und beginnt seine Mittagspause.

Hat er eine Wahl? Muß er sie weiter im Dunkeln halten? Ja, bei Poseidons Dreizack, ja. Helena in ihrem heutigen Aussehen zur Schau zu stellen, würde alles nur noch schlimmer machen. Vor langer Zeit einmal genügte ihr Gesicht, um tausend Schiffe vom Stapel zu lassen. Heute lockt es keinen thebanischen Fischkutter mehr aus dem Trockendock. Laß die Truppen einen Blick auf ihre Falten erhaschen, laß sie gar ihr alterndes Haar erspähen, und sie werden fliehen wie Ratten von einer sinkenden Trireme.

Er poliert sich einen Pfirsich – seit er sein berühmtes Urteil gesprochen und Aphrodite ihren Preis gegeben hat, macht Paris sich nichts mehr aus Äpfeln – da galoppieren zwei der besten Pferde Hissarliks, Aithon und Xanthos, heran und ziehen den Streitwagen seines Bruders. Paris erwartet, Hektor an den Zügeln zu sehen, doch nein: der Lenker, bemerkt er über die Maßen verblüfft, ist Helena.

»Helena? Was tust du hier?«

Einen Ochsenziemer schwingend, springt seine Geliebte herunter. »Du erzählst mir ja nichts über den Krieg«, japst sie und keucht in der Rüstung, »also ziehe ich selbst Erkundigungen ein. Ich war gerade unten am Mäander, wo deine Feinde eine Kavallerieattacke gegen das Lager von Epistrophos vorbereiten.«

»Geh zurück in die Zitadelle, Helena. Geh zurück nach Pergamos.«

»Paris, diese Armee, die du bekämpfst – das sind Griechen. Idomeneus, Diomedes, Sthenelos, Euryalos, Odysseus – ich kenne diese Männer. Sie kennen? Bei Pans Flöte, mit der Hälfte von denen bin ich ausgegangen. Du rätst nicht, wer die Kavallerieattacke führen wird.«

Paris probiert es. »Agamemnon?«

»Agamemnon!« Schweiß rinnt unter Helenas Helm hervor wie Blut aus einer Kopfwunde. »Mein eigener Schwager! Als nächstes erzählst du mir, daß Menelaos selbst gegen Troja zu Felde zieht!«

Paris hustet und sagt: »Menelaos selbst zieht gegen Troja zu Felde.«

»Er ist hier?« jammert Helena und trommelt auf ihren Brustpanzer. »Mein Ehemann ist hier?«

»Korrekt.«

»Was geht hier vor, Paris? Zu welchem Zweck haben die Männer von Argos’ Pferdeweiden den weiten Weg nach Ilium gemacht?«

Der Prinz wirft seinen Pfirsichkern gegen Helenas Brustschild. Ärgerlich sucht er nach Epitheta.[10] Eselsköpfige Helena nennt er sie im stillen. Lederhäutige Lakedaimonin, lautet seine innerliche Schmähung. Er fühlt sich geschlagen und besiegt, gefangen und gefesselt. »Also schön, Liebes, also schön …« Helena mit dem eisernen Willen, das zähe Luder, der Bronzearsch. »Sie sind deinetwegen hier, Liebes.«

»Was?«

»Deinetwegen.«

»Meinetwegen? Wovon redest du überhaupt?«

»Sie wollen dich zurückstehlen.« Während Paris spricht, scheint Helenas verblassende Schönheit um ein weiteres Grad abzunehmen. Ihr Gesicht verfinstert sich in einer unergründlichen Mischung aus Zorn, Schmerz und Verwirrung. »Sie sind dazu verpflichtet. König Tyndareos ließ deine Freier schwören, dem treu zu dienen, den du zum Manne wählst, wer immer das sei.«

»Meinetwegen?« Helena springt in den Streitwagen. »Du führst diesen ganzen, dummen, widerwärtigen Krieg um mich?«

»Nun, nicht um dich per se. Um Ehre, Ruhm, Arete.[11] Und jetzt Beeilung, zurück nach Pergamos – das ist ein Befehl.«

»Ich beeile mich, mein Lieber!« – sie hebt die Peitsche – »aber ich fahre nicht nach Pergamos. Los, Aithon!« Sie knallt mit der Peitschenschnur. »Los, Xanthos!«

»Wohin dann?«

Statt zu antworten, prescht Paris’ Geliebte davon und läßt ihn ihren Staub schlucken.


Benommen vor Zorn, zitternd vor Gewissensbissen stürmt Helena über die Ebenen von Ilium. Auf allen Seiten entfaltet sich ein befremdliches Drama, ein Spektakel zerstörter Sinne und geschundenen Fleisches: Soldaten mit ausgestochenen Augen, abgeschnittenen Zungen, abgehackten Gliedern, aufgerissenen Bäuchen; Soldaten, so sieht es aus, die ihre eigenen Gedärme gebären – und alles wegen ihr. Sie weint offen und hemmungslos, die großen, juwelenartigen Tränen rinnen ihre faltigen Wangen hinab und laufen über ihren Brustpanzer. Die Qualen des Prometheus sind ein Klacks, verglichen mit der Last ihrer Schuld, Herakles’ Säulen sind Federn, aufgewogen gegen die erdrückende Tonnage ihrer Gewissensbisse.

Ehre, Ruhm, Arete: mir fehlt da etwas, erkennt Helena, als sie das Blutbad überblickt. Der Sinn entgeht mir.

Sie erreicht die schlammige und stinkende Lisga-Marsch und zügelt die Pferde vor einem im Schmutz sitzenden Fußsoldaten, einem jungen Myrmidonen mit einem, wie sie annimmt, besonders ehrenhaften Speerloch im Brustpanzer und einem einzigartig ruhmreichen Verlust der rechten Hand.

»Kannst du mir sagen, wo ich deinen König finde?« fragt sie.

»Bei Heras Augen, du bist wahrlich nett anzusehen«, japst der Soldat, während er sich, Arete in voller Blüte, seinen blutenden Stumpf mit Leinen verbindet.

»Ich muß Menelaos finden.«

»Versuch es am Hafen«, sagt er und gestikuliert mit seinem Stumpf. Die Bandage tropft wie ein undichter Wasserhahn. »Sein Schiff ist die Arkadia.«

Helena dankt dem Soldaten und lenkt ihre Pferde auf die weinrote See zu.

»Bist du zufälligerweise Helenas Mutter?« ruft er, während sie davonrast. »Was für ein Gesicht du hast!«

Zwanzig Minuten später hält Helena, taumelnd vor Durst und nach Pferdeschweiß riechend, in Sichtweite der anbrandenden Wellen. Unten im Hafen liegen tausend Schiffe mit starkem Rumpf vor Anker, ihre Masten recken sich in den Himmel wie ein Wald entblätterter Bäume. Den Strand entlang errichten Helenas Landsleute einen kräftigen Holzwall, offenbar aus Angst, daß die Trojaner nicht zögern würden, ihre Flotte zu verbrennen, sollte die Verteidigungslinie je bis hier zurückgedrängt werden. Die salzige Luft vibriert von achaiischen Äxten – das Schlagen und Knirschen beim Fällen der Akazien, das Flechten der Palisaden, das Schärfen der Palisadenpfosten und das Formen der Brustwehren bildet eine Kakophonie, die das Flattern der Segel und das Rauschen der Brandung übertönt.

Helena beginnt am Kai und entdeckt bald die Arkadia, eine stämmige Pentekontor[12], aus deren Seiten ein halbes Hundert Ruder herausstechen wie Igelstacheln. Helena hat soeben die Laufplanke überquert, als sie ihrem Ehemann begegnet, älter zwar, von Falten gezeichnet, doch zweifellos er. Mit Helmbusch, geschmückt wie ein Pfau, steht Menelaos auf dem Vordeck, spricht mit einer stämmigen Baubrigade und belehrt sie über die richtige Plazierung der Aufspießpfosten. Ein gutaussehender Mann, sagt sie sich, ähnlich dem Krieger auf der Kondomschachtel. Sie versteht, warum sie ihn Sthenelos, Euryalos und den anderen Schönlingen vorgezogen hat.

Sobald die Arbeiter fortfahren, ihren stacheligen Hain zu pflanzen, schlendert Helena zu Menelaos und tippt ihm von hinten auf die Schulter.

»Hallo«, sagt sie.

Er war immer ein blasser Typ, aber nun verliert sein Gesicht auch noch das letzte Tröpfchen Blut.

»Helena«, sagte er und japst und blinzelt wie ein Mann, den man soeben mit einem Eimer Schmutzwasser übergossen hat. »Bist du das?«

»Richtig.«

»Du bist … äh … gealtert.«

»Du auch, mein Schatz.«

Er nimmt seinen Federbuschhelm ab, stampft mit dem Fuß auf das Vordeck und sagt zornig: »Du bist mir weggelaufen.«

»Ja, ganz recht.«

»Schlampe.«

»Vielleicht.« Helena richtet ihre Beinschienen. »Ich könnte vorgeben, von der gelächterliebenden Aphrodite verhext worden zu sein, aber das wäre eine gemeine Lüge. Tatsache ist, Paris hat mich um den Verstand gebracht. Ich bin verrückt nach ihm. Tut mir leid.« Sie läßt ihre ausgetrocknete Zunge über die ausgedörrten Lippen gleiten. »Hast du irgend etwas zu trinken?«

Menelaos senkt einen hohlen Flaschenkürbis in seine Privatzisterne und bietet ihr einen halben Liter Frischwasser an. »Was führt dich also her?« fragt er.

Helena nimmt die Schöpfkelle an. Sie stellt ihre Stiefel weit auseinander, um das Rollen der auflaufenden Tide auszubalancieren und trinkt gierig einen Schluck. Endlich sagt sie: »Ich möchte aufgeben.«

»Was?«

»Ich will mit dir heimgehen.«

»Du meinst … du denkst, unsere Ehe verdient eine zweite Chance?«

»Nein, ich denke, all die Infanteristen da draußen verdienen zu leben. Wenn dieser Krieg wirklich geführt wird, mich zurückzuholen, betrachte die Aufgabe als erledigt.«

Helena wirft die Kelle beiseite und streckt die Hände aus, Handflächen nach oben, als prüfe sie, ob Regen fällt. »Ich gehöre dir, Männe. Feßle meine Hände, kette meine Füße zusammen, wirf mich in die Brigg.«

Entgegen aller Wahrscheinlichkeit, allen logos trotzend, verliert Menelaos’ Gesicht noch mehr Farbe. »Ich glaube nicht, daß das eine sehr gute Idee ist«, sagt er.

»Hm? Was meinst du?«

»Diese Belagerung, Helena – da steckt mehr dahinter, als du denkst …«

»Schubs mich nicht rum, Herr aller Lakedaimonen, Arschloch. Es ist Zeit, aufzuhören.«

Der König Spartas starrt ihr direkt auf die Brust, eine Angewohnheit, die sie immer als ärgerlich empfunden hat. »Hast ein bißchen Gewicht zugelegt, was, Liebling?«

»Wechsel nicht das Thema.« Sie stürzt auf Menelaos’ Schwertscheide zu, als wolle sie ihn fertigmachen, statt dessen zieht sie seine Waffe heraus. »Es ist mir bitterernst: wenn Helena von Troja nicht gestattet wird, selbstbestimmt zu leben«, sie deutet in einer Pantomime Selbstmord an, »dann wird sie sich umbringen.«

»Weißt du was«, sagt ihr Mann und nimmt ihr seine Waffe weg. »Gleich morgen früh gehe ich zu meinem Bruder und bitte ihn, einen Waffenstillstand mit deinem Schwiegervater auszuhandeln.«

»Er ist nicht mein Schwiegervater. Es gab keine Hochzeit.«

»Einerlei. Der Punkt ist, dein Angebot hat was für sich, aber es muß diskutiert werden. Wir werden uns von Angesicht zu Angesicht treffen, Trojaner und Achaier und die Sache besprechen. Für den Augenblick kehrst du am besten zu deinem Liebhaber zurück.«

»Ich warne dich – ich dulde kein Blut mehr an meinen Händen, keines außer meinem eigenen.«

»Natürlich, Liebes. Geh jetzt bitte zurück in die Zitadelle.«

Wenigstens hat er zugehört, überlegt Helena, als sie das wettergegerbte Deck der Arkadia überquert. Zumindest hat er nicht gesagt, ich soll mir darüber nicht meinen hübschen kleinen Kopf zerbrechen.


»Jetzt kommt der langweilige Teil«, sagt der quengelige Damon.

»Die Szene mit dem ganzen Gerede«, fügt die naseweise Daphne hinzu.

»Kannst du die ein bißchen abkürzen?« fragt mein Sohn.

»Schsch«, mache ich und glätte Damons Bettdecke. »Keine Unterbrechungen«, beharre ich. Ich stopfe Daphne ihre Maishülsenpuppe unter den Arm. »Wenn ihr selbst Kinder habt, könnt ihr die Geschichte erzählen, wie ihr wollt. Bis dahin, hört gut zu. Ihr lernt vielleicht etwas dabei.«


An den brodelnden, stürzenden Wassern des Flusses Simoeis, unter der orangeglühenden Verkörperung der Mondgöttin Artemis sitzen im Purpurzelt des Oberkommandos von Ilium zehn Aristokraten um einen großen Eichentisch versammelt, allesamt berstend vor Meinungen darüber, wie mit dieser Helena-Situation, diesem Friedensproblem, dieser trojanischen Geiselkrise am besten zu verfahren sei. Weiß wie ein Kranich flattert das Waffenstillstandsbanner über den Köpfen der beiden Könige, Priamos aus der hohen Stadt, Agamemnon von den langen Schiffen. Jede Seite hat ihre Besten und/oder Klügsten gesandt. Für die Trojaner: der geistreiche Panthoos, der mächtige Paris, der unbesiegbare Hektor und Hiketaon, der Sproß des Ares. Für die achaiische Sache: Ajax, der Berserker, Nestor, der Mentor, Menelaos, der Gehörnte, und der listige, lächelnde Odysseus. Von allen Geladenen schmollt nur der zänkische Achilles in seinem Zelt und hat sich geweigert zu erscheinen.

Panthoos erhebt sich, reibt sich den schaumweißen Bart und legt sein Zepter auf den Tisch. »Königliche Kapitäne, begabte Seher«, beginnt der alte Trojaner, »ich denke, Ihr werdet beipflichten, wenn ich sage, daß wir seit Beginn der Belagerung keiner so großen Herausforderung gegenüberstanden. Täuscht Euch nicht: Helena will uns unseren Krieg wegnehmen, und zwar hier und jetzt.«

Rufe des Entsetzens wehen durch das Zelt wie Winde aus der Unterwelt.

»Wir können jetzt nicht aufhören«, stöhnt Hektor, heftig zusammenzuckend.

»Wir kommen gerade erst auf Touren«, jammert Hiketaon, kräftig grimmassierend.

Agamemnon steigt von seinem Thron herab und trägt das Zepter wie einen Speer. »Ich habe eine Frage an Prinz Paris«, sagt er. »Was sagt die Bereitschaft deiner Geliebten, nach Argos zurückzukehren, über den gegenwärtigen Stand Eurer Beziehung aus?«

Paris streicht sich über die kräftigen Wangen und sagt: »Wie Ihr vielleicht vermutet, großer König, basieren meine Gefühle für Helena auf Belohnung.«

»Ihr wollt sie also nicht gewaltsam in Pergamos behalten?«

»Wenn sie mich nicht will, will ich sie auch nicht.«

An welchem Punkt Ajax mit dem tappigen Verstand seine Hand hebt. »Äh … entschuldigt. Ich bin ein bißchen verwirrt. Wenn wir Helena nur bitten müssen, mitzukommen, warum müssen wir dann den Krieg fortsetzen?«

Ein Schirokko des Erstaunens erhebt sich unter den Helden.

»Warum?« keucht Panthoos. »Warum? Weil dies Troja ist, darum. Weil wir hier die westliche Zivilisation beginnen, deshalb. Je länger wir diese Affäre am Köcheln halten, je länger wir eine so unklare Unternehmung aufrechterhalten können, desto wertvoller und bedeutender wird sie.«

Ajax mit den behäbig arbeitenden Synapsen sagt: »Hä?«

Nestor muß sich nur räuspern, und alle Augen sind auf ihn gerichtet. »Was unser Gegner sagt – darf ich es interpretieren, weiser Panthoos?« Er wendet sich seinem trojanischen Gegenstück zu, verneigt sich ehrfürchtig, erhält ein zustimmendes Nicken und spricht zu Ajax. »Panthoos meint, falls dieser besondere Kriegsgrund – eine Frau ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben – als vernünftig dargestellt werden kann, kann jeder Vorwand für einen Krieg als vernünftig dargestellt werden.« Der Mentor schwenkt seinen fiebrigen Blick von Ajax auf die gesamte Versammlung. »Indem wir uns dieser seltenen und wertvollen Gelegenheit gewachsen zeigen, ebnen wir den Weg für Religionskriege, Schicksalskriege – für Kriege aus jedem fragwürdigen Grund, der Euch einfällt.« Noch einmal fällt sein Blick zufällig auf Ajax. »Verstanden, Herr Kollege? Dies ist der Krieg zur Einführung des Krieges an sich. Dies ist der Krieg, um die Welt sicher zu machen für den Krieg.«

Ajax runzelt so heftig die Stirn, daß sein Visier herunterklappt. »Ich weiß nur, wir sind wegen Helena gekommen, wir haben sie. Auftrag erfüllt.« Sich Agamemnon zuwendend, hebt der Berserker das Visier von seinen Augen. »Also, wenn es Euch nichts ausmacht, Majestät, würde ich gern heimgehen, bevor ich umgebracht werde.«

»Oh, Ajax, Ajax, Ajax«, stöhnt Hektar, zieht einen Pfeil aus seinem Köcher und kratzt sich damit den Rücken. »Wo ist Euer Sinn für Ästhetik? Könnt Ihr den Krieg nicht um seiner selbst willen würdigen? Die Ebenen Iliums sind aufgewühlt vom Ruhm, Mann. Man kann die Arete mit dem Messer schneiden. Nie hat es so heroische Verstümmelungen gegeben, so ehrwürdige Zerstückelungen, solch …«

»Ich kapier’s«, sagt der Berserker. »Ich kapier’s einfach nicht.«

Woraufhin Menelaos seinen Weinpokal mit widerhallendem Knall auf den Tisch stellt. »Wir haben uns nicht in Priamos’ Zelt versammelt, damit Ajax Politik lernt«, sagt er ungeduldig. »Wir haben uns versammelt, um bestmöglich über meine Frau zu entscheiden.«

»Wie wahr, wie wahr«, sagt Hektar.

»Also, was sollen wir tun, meine Herren?« fragt Menelaos. »Sie einsperren?«

»Gute Idee«, sagt Hiketaon.

»Nun ja«, sagt Agamemnon und sackt auf seinen Thron zurück. »Außer daß meine Truppen nach dem Ende des Krieges verlangen werden, sie zu sehen. Könnten die sich nicht wundern, warum so viele Leiden und Opfer für eine heruntergekommene Göttin erbracht wurden?« Er wendet sich an Paris und sagt: »Prinz, das hättet Ihr nicht zulassen sollen.«

»Was zulassen?« fragt Paris.

»Ich hörte, sie hat Falten«, sagt Agamemnon.

»Ich hörte, sie ist fett geworden«, sagt Nestor.

»Was habt Ihr ihr zu essen gegeben?« fragt Menelaos. »Bonbons?«

»Sie ist ein Mensch«, protestiert Paris, »keine Marmorstatue. Ihr könnt kaum mir die Schuld geben …«

Bei welchem Stand der Dinge König Priamos sein Zepter erhebt, und es in die Erde rammt, als wolle er Gaia selbst verwunden.

»Edle Herren, ich sage das nicht gern, aber die Bedrohung ist unmittelbarer, als Ihr vielleicht annehmt. In den Anfangsjahren der Belagerung wirkte der Anblick der schönen Helena, wie sie über Schutzwälle ging, Wunder auf die Kampfmoral meiner Armee. Jetzt, da sie nicht mehr tauglich ist für öffentliche Auftritte, nun …«

»Ja?« sagt Agamemnon und wappnet sich vor dem Schlimmsten.

»Nun, ich weiß einfach nicht, wie lange Troja seinen Krieg noch aufrechterhalten kann. Wenn die Lage sich nicht bessert, müssen wir vielleicht bis nächsten Winter kapitulieren.«

Ausrufe des Entsetzens wehen über den Tisch, rütteln am Zelteingang und kräuseln die Umhänge der Aristokraten. Doch nun spricht der kluge, umsichtige Odysseus zum erstenmal zum Rat, und der Wind der Uneinigkeit legt sich. »Unser Kurs ist offensichtlich«, sagt er. »Unsere Bestimmung ist klar«, versichert er. »Wir müssen Helena – die alte Helena, die makellose Helena – wieder auf die Mauern stellen.«

»Die alte Helena?« sagt Hiketaon. »Die makellose Helena? Ist das nicht reines Phantasiegerede, einfallsreicher Odysseus? Besingt Ihr nicht einen Mythos?«

Der Herr über ganz Ithaka durchschreitet, seinen seidigen Bart streichend, der Länge nach Priamos’ Zelt. »Es erfordert einige Weisheit von Pallas Athene, einige Technologie von Hephaistos, doch ich denke, das Projekt ist möglich.«

»Entschuldigt«, sagt Paris. »Welches Projekt ist möglich?«

»Eure kleine Dirne aufzupolieren«, sagt Odysseus. »Die liebe, süße Hure strahlen zu lassen wie neu.«


Helena wandert vor und zurück, hin und her durch ihr Boudoir und tritt einen gezackten Pfad der Angst in ihren Teppich. Eine Stunde vergeht. Dann zwei. Was reden die so lange?

Was am meisten an ihr nagt, der Gedanke, der ihr das Innere zerfrißt, ist die Möglichkeit, daß sie den Einsatz erhöhen muß, sollte der Rat ihr Kapitulationsangebot ablehnen. Und wie könnte ihr diese Tat gelingen? Durch welche Mittel könnte sie eine einfache Passage auf Charons[13] Fähre buchen? Wahrscheinlich durch etwas aus dem Arsenal ihres Liebhabers – ein Schwert, Speer, Dolch oder einen totschleudernden Bogen. O bitte, mein Herr Apollo, betet sie zum Hauptbeschützer der Stadt, laß es nicht dazu kommen.

Bei Sonnenuntergang betritt Paris den Raum, der Schritt bleiern, die Wangen hängend, der Mund zur Grimasse verzerrt. Zum erstenmal bemerkt Helena Tränen in den Augen Ihres Geliebten.

»Es ist zu Ende«, stöhnt er und nimmt seinen Federbuschhelm ab. »Der Frieden ist da. Im Morgengrauen mußt du zu den langen Schiffen gehen. Menelaos wird dich zurückbringen nach Sparta, wo du wieder als Mutter seiner Kinder, Freundin seiner Konkubinen und Agentin in seinem Bett leben wirst.«


Erleichterung entströmt Helena tief und orgiastisch, doch das Vergnügen ist von kurzer Dauer. Sie liebt diesen Mann, mitsamt seinen Fehlern und Erschlaffungen. »Du wirst mir fehlen, liebster Paris«, sagt sie ihm. »Wie du mich kühn, gewaltsam entführt hast, bleibt der Höhepunkt meines Lebens.«

»Ich habe dem Abkommen nur zugestimmt, weil Menelaos glaubt, daß du dich sonst umbringen könntest. Du bist eine erstaunliche Frau, Helena. Manchmal glaube ich, dich kaum zu kennen.«

»Schsch, mein Liebling«, sagt sie und legt ihm sanft ihre Hand auf den Mund. »Keine Worte mehr.« Langsam entkleiden sie einander, methodisch die Pforten zum Glück öffnend, die Gürtel und Schärpen, die Schließen und Haken, und so beginnt ihre letzte epische gemeinsame Nacht.

»Entschuldige, daß ich so kritisch war«, sagt Paris.

»Ich nehme deine Entschuldigung an«, sagt Helena.

»Du bist so schön«, erzählt er ihr. »So unmöglich schön …«

»Ahhh …«


Als die Morgendämmerung rosige Finger über den trojanischen Himmel streckt, steuert Eniopeus, Hektors treuer Fahrer, Sohn des pferdeliebenden Thebaios, den robusten Streitwagen am Ufer des Mäander entlang und bringt Helena zur Festung der Achaier. Sie erreichen die Arkadia, als gerade die Sonne aufgeht, so wird ihre Ankunft im Hafen zur flammenden Parade, einer Schau aus Funken und Gold, als führen sie auf den brennenden Rädern Hyperions.[14]

Helena geht am Dock entlang, vorbei an Scharen kreischender Möwen, die in der frühen Morgenbrise dahintreiben. Menelaos kommt ihr entgegen und begrüßt sie, begleitet von einem Mann, gegen den Helena stets eine leichte Abneigung gehegt hat – der breitbrüstige, schwarzbärtige Teukros, illegitimer Sohn von Telamon.

»Die Flut ist da«, sagt ihr Mann. »Du mußt sofort mit Teukros an Bord gehen. Du wirst in ihm einen anregenden Reisebegleiter finden. Er kennt hundert Fabeln, und er spielt Harfe.«

»Kannst du mich nicht heimbringen?«

Menelaos drückt die Hand seiner Frau, führt sie an seine Lippen und küßt sie sacht. »Ich muß das Beladen meiner Schiffe überwachen«, erklärt er, »die Verteilung meiner Bataillone – Arbeit für eine ganze Woche, vermute ich.«

»Sicher kannst du das Agamemnon überlassen.«

»Gib mir sieben Tage, Helena. In sieben Tagen bin ich zu Hause, und wir können anfangen, die Scherben unserer Ehe zu kitten.«

»Wir versäumen die Flut«, sagt Teukros und verschränkt nervös die Finger.

Vertraue ich meinem Mann? fragt sich Helena, während sie die Laufplanke zur Arkadia hinaufgeht. Hat er wirklich vor, die Belagerung zu beenden?

Während der langsamen Fahrt aus dem Hafen hat Helena ein ungutes Gefühl. Vage Ängste, nagende Zweifel und seltsame Vorahnungen schwirren ihr durch den Kopf wie Harpyien.[15] Sie fleht ihren geliebten Apollo an, mit ihr zu reden, sie zu beruhigen, ihr zu versichern, daß alles gut sei, doch die einzigen Geräusche, die an ihr Ohr dringen, sind das Knarren der Ruder und die windige, wässerige Stimme des Hellespont.

Als die Arkadia die offene See erreicht, ist Helena entschlossen, über Bord zu springen und zurückzuschwimmen.


»Und dann hat Teukros versucht, dich umzubringen«, sagt Daphne.

»Er ist mit seinem Schwert auf dich losgegangen«, fügt Damon hinzu.

Dies ist für die Zwillinge der Lieblingsteil, der Moment voller Grauen und geronnenem Blut. Mit blitzenden Augen, die Stimme melodramatisch erhoben, erzähle ich ihnen, wie Teukros mich, seine janusgesichtige Klinge schwingend, über die Arkadia zu jagen begann, bevor ich meinen Fluchtplan ausführen konnte. Ich erzähle ihnen, wie ich die Oberhand gewann und den Bastard zu Fall brachte, als er mich gerade überrennen wollte.

»Du hast ihn mit seinem eigenen Schwert erstochen, nicht wahr, Mami?« fragt Damon.

»Ich hatte keine Wahl. Das versteht ihr doch, oder?«

»Und dann spritzten seine Gedärme raus, hm?« fragt Daphne.

»Agamemnon hatte Teukros beauftragt, mich zu töten«, erkläre ich. »Ich ruinierte ihnen alles.«

»Sie spritzten auf das ganze Deck, richtig?« fragt Damon.

»Ja, Liebling, das taten sie allerdings. Ich bin mir ziemlich sicher, Paris war in das Komplott nicht eingeweiht, Menelaos auch nicht. Eure Mutter verliebt sich in Narren, aber nicht in wahnsinnige Mörder.«

»Welche Farbe hatten sie?« fragt Damon.

»Farbe?«

»Seine Gedärme?«

»Rot, meistens, mit bläulichen und schwarzen Klecksen.«

»Toll.«


Ich erzähle den Zwillingen von meinem langen, anstrengenden Schwimmen durch die Meerenge.

Ich erzähle ihnen, wie ich Iliums kriegszerstörte Felder überquerte, Pfeilen auswich und Patrouillen entging.

Ich erzähle, wie ich am Skalischen Tor wartete, bis ein Bauer mit einer Karrenladung Futter für die belagerte Stadt kam … wie ich, zwischen Weizengarben verborgen, in die Stadt gelangte … wie ich nach Pergamos ging, mich im Apollotempel versteckte und atemlos auf die Morgendämmerung wartete.


Der Morgen dämmert herauf und bindet die östlichen Wolken in karmesinrote Schärpen. Helena verläßt die Zitadelle, schleicht auf Zehenspitzen zur Mauer und erklettert die hundert Granitstufen zu den Zinnen. Sie ist sich ihres nächsten Schrittes nicht sicher. Sie hat eine vage Hoffnung, die Männer der Infanterie ansprechen zu können, wenn sie sich am Tor versammeln. Ihre Argumente konnten die Generäle nicht beeindrucken, aber vielleicht kann sie das Herz eines gewöhnlichen Soldaten rühren.

Und genau an diesem unklaren Punkt ihres Schicksals begegnet Helena sich selbst.

Sie blinzelt – einmal, zweimal. Sie schluckt eine Sphäre Luft. Ja, sie ist es, sie selbst marschiert die Brüstungen entlang. Sie selbst? Nein, nicht genau: eine idealisierte Abbildung ihrer selbst, die Helena von vor zehn Jahren, grazil und lieblich.

Während die Truppen in Richtung Ebene durch das Portal marschieren, ruft die sonderbare Verkörperung zu ihnen hinunter:

»Vorwärts Männer!« ruft sie und hebt einen cremeweißen Arm. »Kämpft für mich!« Ihre Bewegungen sind gemächlich und ruckartig, als wäre das sonnenverbackene Troja auf wundersame Weise in ein frostiges Klima verpflanzt worden. »Ich bin es wert!«

Die Soldaten drehen sich um, sehen hinauf. »Wir kämpfen für dich, Helena!« ruft ein Bogenschütze zur Brüstung empor.

»Wir lieben Euch!« ruft ein Schwertkämpfer.

Die Verkörperung winkt unbeholfen. Knarrend wirft sie ihnen eine Kußhand zu. »Vorwärts Männer! Kämpft für mich! Ich bin es wert!«

»Ihr seid schön, Helena!« schreit ein Speerwerfer.

Helena schreitet auf ihre Doppelgängerin zu, packt sie bei der linken Schulter und dreht sie zu sich her.

»Vorwärts, Männer!« sagt die zu Helena. »Kämpft für mich! Ich bin es wert!«

»Ihr seid schön«, fährt der Speerwerfer fort, »und Eure Mutter auch!«

Die Augen sind, wie Helena ohne Überraschung entdeckt, aus Glas. Die Glieder sind aus Holz gearbeitet, der Kopf ist aus Marmor, die Zähne sind aus Elfenbein, die Lippen aus Wachs, die Locken aus dem Flies eines dunkel werdenden Widders. Helena weiß nicht genau, welche Mächte dieser Kreatur Kraft geben, welcher Zauber die Zunge bewegt, doch sie vermutet, daß das Genie der Athene hier am Werk ist, die Zauberkraft der kuhäugigen Hera. Hack die Kreatur auf, so spürt sie, und heraus fallen tausend Räder und Kolben aus Hephaistos’ feuriger Werkstatt.

Helena verliert keine Zeit. Sie umarmt die Kreatur und hebt sie hoch. Schwer, aber nicht so schwer, um ihre Entschlossenheit zu dämpfen.

»Vorwärts, Männer!« schreit die Kreatur, als Helena sie sich über die Schulter wirft. »Kämpft für mich! Ich bin es wert.«

Und so geschieht es, daß an einem heißen, schweißtreibenden kleinasiatischen Morgen, die schöne Helena das Rad der Geschichte verdreht, und sich fröhlich selbst aus der erhabenen Steinstadt Troja entführt.


Paris zieht einen Giftpfeil aus seinem Köcher, um eine Prise Schierling in die Brust eines achaiischen Kapitäns zu schießen, als der Streitwagen seines Bruders vorbeirumpelt.

Paris legt den Pfeil auf die Kerbe. Er blickt flüchtig zum Wagen.

Er zielt.

Blickt nochmal hin.

Schießt. Daneben.

Helena.

Helena? Helena, bei Apollos Leier, seine Helena – nein, zwei Helenas, die echte und die falsche Seite an Seite, die echte lenkt den Wagen ins Kampfgetümmel, ihr hölzerner Zwilling starrt verträumt in die Luft. Paris weiß nicht genau, der Anblick welcher der beiden Frauen ihn mehr erstaunt.

»Soldaten von Troja!« schreit die fleischliche Helena. »Heroen von Argos! Schaut, wie Eure Führer Euch hintergehen! Ihr kämpft für ein Trugbild, einen Schwindel, ein Ding aus Zahnrädern und Glas!«

Stille umschließt das Schlachtfeld. Die Männer sind verblüfft, nicht so sehr wegen der tobenden Wagenlenkerin, als durch das Gesicht ihrer Begleiterin, so rein und perfekt trotz des Lederriemens, der ihr die Kiefern fest verschließt. Das ist ein Gesicht, um tausend Schwerter in die Scheiden zurückzustecken, ein Gesicht, um tausend Speere zu senken, ein Gesicht, um tausend Pfeile aus den Kerben zu nehmen.

Und genau das passiert jetzt. Tausend Schwerter: gleiten in die Scheiden zurück. Tausend Speere: werden gesenkt. Tausend Pfeile: werden aus den Kerben genommen.

Die Soldaten drängen sich um den Streitwagen, betatschen die Ersatz-Helena. Sie berühren die hölzernen Arme, liebkosen die Marmorstirn, streicheln die Elfenbeinzähne, tätscheln die Wachslippen, drücken das wollige Haar und reiben die Glasaugen.

»Seht Ihr, was ich meine?« schreit die echte Helena. »Eure Könige beschwindeln Euch …«

Paris kann nicht anders: Er ist stolz auf sie, bei Hermes’ Flügeln. Er bläht sich auf vor Bewunderung. Diese Frau hat Nerven, diese Frau hat Arete, diese Frau hat Chutzpah.[16]

Diese Frau, erkennt Paris, als eine fette warme Träne der Nostalgie über seine Wange rinnt, wird den Krieg beenden.


»Ende«, sage ich.

»Und was passierte dann?« fragt Damon.

»Nichts. Finis. Schlaf jetzt.«

»Du kannst uns nicht zum Narren halten«, sagt Daphne. »Alle möglichen Dinge sind hinterher passiert. Du bist auf die Insel Lesbos gegangen, um dort zu leben.«

»Nicht sofort«, bemerke ich. »Ich bin sieben Jahre durch die Welt gewandert und hatte viele schöne und fabelhafte Abenteuer. Gute Nacht.«

»Und dann bist du nach Lesbos gegangen«, beharrt Daphne.

»Und dann kamen wir auf die Welt«, bestätigt Damon.

»Stimmt«, sage ich. Die Zwillinge sind immer daran interessiert, wie sie auf die Welt kamen. Sie werden nicht müde, davon zu hören.

»Die Frauen von Lesbos importieren jährlich über tausend Liter gefrorenen Samen«, erklärt Damon Daphne.

»Aus Thrake«, erklärt Daphne Damon.

»Im Tausch für Oliven.«

»Ein blühender Handel.«

»Richtig, Schatz«, sage ich. »Schlafenszeit.«

»Und so wurdest du schwanger«, sagt Daphne.

»Und bekamst uns«, sagt Damon.

»Und brachtest uns nach Ägypten.« Daphne zerrt an meinem Ärmel, als betätige sie einen Klingelzug. »Ich kam zuerst heraus, nicht wahr?« sagt sie. »Ich bin die Älteste.«

»Ja, Liebes.«

»Bin ich deshalb klüger als Damon?«

»Ihr seid beide gleich klug. Ich blase jetzt die Kerze aus.«

Daphne drückt ihre Maishülsenpuppe an sich und sagt: »Hast du wirklich den Krieg beendet?«

»Das Abkommen wurde am Tag, nachdem ich aus Troja geflohen war, unterzeichnet. Natürlich hat der Frieden die Toten nicht wieder zum Leben erweckt, doch zumindest wurde Troja nie geplündert und niedergebrannt. Und jetzt schlaft – beide.«

Damon sagt: »Nicht, bevor wir …«

»Was?«

»Du weißt schon.«

»Also gut«, sage ich. »Ein Blick. Ein rasches Hingucken, und dann ab mit euch in Morpheus’ Arme.«

Ich schlendere hinüber zum Schrank, ziehe den Leinenvorhang beiseite und zeige meinen getreuen Zwilling, der aufrecht zwischen Daphnes Kleidern und Damons Roben steht. Sie lächelt im Halbdunkel. Diese Frau ist eine unermüdliche Lächlerin.

»Hallo, Tante Helena!« sagt Damon, als ich das Bronzegelenk bewege, das aus dem Nacken meiner Schwester herausragt.

Sie winkt meinen Kindern zu und sagt: »Vorwärts, Männer! Kämpft für mich!«

»Darauf kannst du wetten, Tante Helena!« sagt Daphne.

»Ich bin es wert!« sagt meine Schwester.

»Aber sicher!« sagt Damon.

»Vorwärts Männer! Kämpft für mich! Ich bin es wert!«

Ich schalte sie ab und ziehe den Vorhang zu. Dann decke ich die Zwillinge zu und gebe jedem einen dicken Schmatz auf die Wange. »Ich liebe dich, Daphne. Ich liebe dich, Damon.«

Ich greife nach der Kerze, um sie zu löschen – verharre. Ich sollte es gleich erledigen, ehe ich es vergesse. Ich kehre zum Schrank zurück, schiebe den Vorhang beiseite, ziehe das Taschenmesser aus meiner Robe und klappe die Klinge heraus. Und dann, während die ägyptische Nacht feucht und drückend wird, kerbe ich sorgfältig eine weitere Falte auf der Stirn meiner Schwester ein, direkt unter ihrem graumelierten Pony.

Schließlich ist es wichtig, gleich auszusehen.



Originaltitel: ›ARMS AND THE WOMAN‹ • Copyright © 1991 by TSR Publications, Inc. • Erstmals erschienen in ›Amazing Stories‹, Juli 1991 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Uwe Luserke, Literarische Agentur, Stuttgart • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München • Aus dem Amerikanischen übersetzt von Margret Krätzig • Illustriert von Werner Ruhner


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