John MeanyEngland
HEILIGUNG


Ein blinder alter Bettler, ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte und den sie nie wiedersehen sollte, brachte das junge Mädchen auf den Weg zur Heiligkeit.

Ihr ganzer Körper schmerzte und ihre Augen waren trocken und wund, als Ashara barfuß durch die Stadt Wusaba wanderte. Den ganzen Abend hatte sie ihren fetten alten Herrn und seine Geschäftsfreunde unterhalten. Obwohl er sie mißbraucht hatte, mochte sie ihn beinahe, denn sie wußte, wie schlecht andere Diener manchmal behandelt wurden. Aber ihre Kinderseele schmerzte immer noch von den Verletzungen.

Das in Mosaiken verlegte Pflaster fühlte sich unter den harten Sohlen ihrer bloßen Füße warm und trocken an. Sie hatte ihren Botengang erledigt und eine Datenkapsel im Haus eines Händlers abgeliefert. Es war eine unauffällige Art und Weise, illegale Daten zu übermitteln und den Überwachungsorganen des Prokurators zu entgehen. Da sie jetzt etwas freie Zeit hatte, wanderte sie über die breiten Prachtstraßen der Stadt in ein Viertel, das sie noch nie besucht hatte.

Sie schlenderte langsam zwischen den Zelten und Buden eines wimmelnden Basars herum, der eine ganze Quadratmeile groß war. Droben schwebte lautlos ein geschmückter Flieger, der mit Juwelen besetzt war und das Siegel eines Sprößlings der edelsten Kaste der Stadt trug. Ashara blieb stehen und starrte ihm nach, bis er verschwand. Dann kaufte sie an einem Stand eine kleine Frucht, für die sie ein Viertel ihres Wochenlohns bezahlen mußte. Im Gehen schnüffelte sie an der Frucht und zögerte den ersten Bissen noch ein wenig hinaus. Sie ging weiter, bis sie den Rand des Platzes erreichte, auf dem der Basar stattfand. Sie blieb unsicher stehen – so weit hatte sie sich noch nie vom Haus ihres Herrn entfernt –, dann trat sie durch einen weiten marmornen Torbogen in die Allee der Hände.

Die Prachtstraße war einen halben Kilometer breit und viele, viele Kilometer lang. Der breite Fahrweg in der Mitte sah aus wie blauer Saphir. Auf ihm zu gehen, war, als würde man über den Himmel laufen. Zu beiden Seiten der gewaltigen Straße reckten steinerne Arme ihre gestreckten Hände dem Himmel entgegen. Der Himmel war mit Fliegern besprenkelt, aber keiner befand sich in unmittelbarer Nähe. Die Allee der Hände war ein heiliger Weg, und niemand wollte ihn entweihen, indem er mit einer Maschine darüberflog.

Im Schatten eines gewaltigen steinernen Arms, die grimmige Hitze der Sonne, die bald auf sie hereinbrechen würde, schon ahnend, hockten hunderte blinder und verstümmelter Bettler und bedrängten die vornehmen Passanten, mit einer gewissen Würde zwar, aber dennoch bettelnd. Ihre wohlklingenden Stimmen füllten die Luft. Manche rezitierten epische Gedichte oder Sagen, die beim Erzählen über die Jahre gewachsen waren und nicht enden wollten. Manche trugen aus dem Kopf lange Passagen aus heiligen Schriften vor. Blinde Bettler lasen heilige Worte aus ihren in Blindenschrift geschriebenen Ausgaben der Bibel oder des Koran und predigten den geschäftigen Leuten, die kaum Zeit zum Zuhören hatten. Viele lebten trotz schmerzhafter Krankheiten seit mehr als zweihundert Jahren. Für Ashara war es unvorstellbar, wie jemand so lange Zeit sein Leiden ertragen konnte.

Selbst unter den Bettlern gab es Kastenunterschiede. Die niedrigsten waren diejenigen, die nicht aus dem Gedächtnis rezitierten, sondern die nichts weiter als Sprecher für ihre Gehirnimplantate waren. Sie hofften, das wußte sie, auf eine Arbeit, und manche mochten sie sogar finden. Allerdings wären ihre Arbeitgeber alles andere als ehrbare Bürger. Ihr Leben würde in der Welt der zwielichtigen Geschäfte weniger schmerzhaft aber deutlich kürzer sein.

Ein alter Mann erregte ihre Aufmerksamkeit. Seine helle, wohlklingende Stimme hob sich über das Gemurmel der anderen Bettler, während er über die Religionen vieler Welten und über die Gemeinsamkeiten ihrer Wege zur Erleuchtung sprach. Er war blind, bemerkte Ashara. In seinen eingefallenen Augenhöhlen war ein rosafarbener Schimmer zu sehen. Sein Bart war lang und grau und mit schwarzem Schmutz besprenkelt. Er hatte tiefe Falten im Gesicht, und auch in ihnen klebte Schmutz. Und er stank. Aber seine Stimme war rein und klar wie die eines Kindes.

Ashara hockte sich hin und hörte ihm zu. Nach einer Weile hielt er inne. Er neigte den Kopf auf die Seite und lächelte Ashara an, obwohl er sie unmöglich gesehen haben konnte.

»Hat dir meine Geschichte gefallen, Kleines?« fragte er.

»Nein«, erwiderte sie nur.

»Warum nicht? Ist die Erleuchtung nicht ein erstrebenswertes Ziel?«

Vielleicht war es als Scherz gemeint, aber Ashara dachte ernsthaft darüber nach. »Nein«, sagte sie.

»Ah, so etwas auch. Du bist doch keine Ungläubige?«

»Mein Herr erlaubt mir keinen Glauben. Und ich darf keinem Philosophen zuhören.«

»Ach, so ist das. Darf ich fragen, wie alt du bist?«

»Zwölf.« Trotzig.

»Weißt du etwas über die Heiligen, die in Klöstern leben?«

Ashara schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr ein, daß er sie nicht sehen konnte, und sie sagte nein. Sie biß in ihre Frucht und kostete beglückt den süßen Geschmack auf der Zunge, dann bedauerte sie ihre Gedankenlosigkeit. Sie zerbrach die Frucht in zwei Teile und drückte dem alten Bettler eine Hälfte energisch in die Hand.

»Danke, meine Tochter. Sag mir, siehst du das Haus am Ende des Boulevards? Es ist sehr weit entfernt, ein Gebäude wie ein grünes Juwel. Selbst du mit deinen jungen Augen mußt dich wohl anstrengen, um es zu erkennen.«

Sie strengte sich an. Vor dem hellen, klaren Himmel, viele Kilometer den pfeilgeraden Boulevard hinunter sah sie etwas, das ein grüner Fleck sein konnte, über dem ein dunkler Turm aufragte. Um den alten Mann nicht zu enttäuschen, sagte sie ihm, sie könne es sehen. Er nickte erfreut und setzte sich. Jetzt mischte sich Fruchtsaft in die anderen Flecken auf seinem Bart.

»Du weißt sicher von den Welten der Menschen. Wir besiedelten weite Teile der Galaxis. Aber unsere Schiffe würden ohne Hilfe Jahrtausende brauchen, um zwischen den Welten zu reisen. Ohne Hilfe wäre unsere Ausbreitung nicht möglich gewesen. Die Heiligen jedoch können ihre Gedanken in Windeseile fliegen lassen, so schnell, wie eine Wellenfunktion braucht, um in sich zusammenzubrechen. Die Novizen, die die Heiligkeit erreichen, haben einen Wunsch frei, und sie besitzen genug Weisheit und Disziplin, um ihren Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.«

»Heilige? Ich habe von ihnen gehört, aber ich dachte, das wären nur Geschichten.«

»Es sind schreckliche Geschichten, aber sie sind wahr. Die Heiligen suchen den Weg zur tiefsten Erleuchtung, um die Einheit mit den tiefsten Tiefen der Realität zu erlangen.«

»Wer sind sie, Meister?«

»Ich bin nicht dein Meister, Kleines.« Der alte Bettler lachte leise, und es klang fast wie ein Schluchzen. »Jeder kann versuchen, ein Heiliger zu werden. Aber für jene, die sich diesem Ziel nähern, sind die Konsequenzen des Scheiterns – nicht gerade unbedeutend.« Er legte einen Moment eine Hand aufs Gesicht, auf die Stelle, wo seine Augen hätten sein sollen.

Ashara sah seine Geste nicht. Sie blickte in die Ferne und versuchte Einzelheiten des smaragdgrünen Klosters zu erkennen, das sich in der Ferne am Ende des Boulevards verlor.

»Ich muß gehen«, sagte sie und überließ den Bettler, der verstummt war, seinen Grübeleien.


Nachdem sie stundenlang über das kalte blaue Kristall der Straße gewandert war, während die Luft immer heißer wurde, nachdem sie sich stundenlang durch das Gedränge der vornehm gekleideten Bürger einen Weg gebahnt hatte, nachdem sie an den gewaltigen Steinsäulen, die wie himmelwärts gereckte Arme geformt waren, vorbei war, erreichte sie das reich verzierte Kloster. Es bestand aus smaragdgrünem und gelbem Stein, und obwohl kleiner als die benachbarten Gebäude, kam es Ashara beeindruckend und bedeutend vor. Sie umrundete die Mauer, bis sie ein grün strahlendes Tor erreichte. Man mußte sie einfach aufnehmen, denn inzwischen wurde sie bestimmt schon im Haus ihres Herrn vermißt. Sie war nicht sicher, mit welcher Strafe sie deshalb rechnen mußte. Mindestens eine Amputation und schmerzhafte Halluzinogene.

Als sie nun also vor dem Tor wartete, war sie sehr entschlossen. Trotz ihrer ärmlichen, leichten Kleidung, ihrer nackten Füße und ihres ungekämmten Haars stand sie aufrecht und blickte mit klaren, ruhigen Augen in die Zukunft.

Die Torautomatik forderte sie auf, ihr Begehren zu nennen.

»Ich will eine Heilige werden«, sagte sie.

Ihr Name war Ashara, und sie war zwölf Jahre alt. Aber dies war der Wendepunkt ihres Lebens.

»Wer bist du? Wie alt bist du?«

»Ich bin Zenshara, und ich bin so alt wie der Kosmos.«

So nannte sie sich jetzt selbst, und sie gab die Antwort, die man von ihr verlangte, ohne Hintergedanken. Sie kam sich überheblich und dumm vor, aber es schien irgendwie passend, oder das System amüsierte sich über sie oder war neugierig geworden. Jedenfalls schwang das Tor auf, und Ashara ließ ihr altes Leben hinter sich zurück, als sie durch das Portal trat und unwiderruflich zu Zenshara wurde.


Hätte Zenshara überhaupt darüber nachgedacht, wäre ihr die Prozedur als das Gegenteil dessen vorgekommen, was man hätte erwarten müssen. Man brachte sie allein im Quartier der Novizinnen am anderen Ende des Gebäudes unter, weit entfernt von den ordentlichen Schülerinnen. Erst wenn sie bewiesen hatte, daß sie für diese Lebensart geeignet war, würde man sie in den Schlafsaal der Kinder lassen.

Sie verbrachte viele Stunden allein und löste Worträtsel und geometrische Probleme, die als Hologramme in ihr kleines Zimmer projiziert wurden. Manchmal kam ein kleiner, stiller alter Mann wortlos herein und sah Zenshara bei ihren Aufgaben zu. Nachdem er ihr bei den ersten paar Begegnungen mit einer Geste bedeutet hatte, einfach weiterzumachen, ignorierte sie ihn inzwischen, wenn er wiederkam. Oder besser, sie machte keinen Versuch mehr, mit ihm zu reden, sondern entspannte sich und absolvierte ihre Übungen schneller denn je.

Nach fünf Tagen begann man sie die alten Disziplinen zu lehren. Die Zeit der Prüfungen war noch nicht vorbei: Man mußte sehen, wie schnell sie das Denken lernen und zu einem Teil ihres Wesens machen konnte. Die Quantentheorie wurde ihr zunächst nur in den Grundzügen vermittelt, denn die höhere Mathematik sollte erst später unterrichtet werden. Sie hatte menschliche Lehrer, die jeden persönlichen Kontakt vermieden und nur über den Lehrstoff mit ihr sprechen wollten, und sie verbrachte viele Stunden im Wechselspiel mit dem Lernsystem ihres Terminals. Gelegentlich sah der alte Mann ihr schweigend zu.

Am zwanzigsten Tag war er nicht bei ihr. Ashara hatte erfolgreich eine Reihe von Problemstellungen zu Wellenfunktionen durchgearbeitet, indem sie, ihre Fingerspitze als Cursor benutzend, Hologramme in die Luft gemalt hatte.

Danach zeigte ihr das Terminal ein Beispiel für die wechselseitige Verbundenheit aller Ereignisse. Zwei Elementarteilchen wurden isoliert, und sie mußte entscheiden, auf welcher Achse sie eins der Partikel beobachten wollte. Trotz zufälliger Schwankungen wußte das andere Elementarteilchen immer und augenblicklich, daß es den entgegengesetzten Spin haben mußte. Dies war unbekannt gewesen, bevor man die Elementarteilchen hatte voneinander trennen können.

»Wie aber ist so etwas möglich?« fragte das Terminal.

Zenshara schwieg.

»Warum antwortest du nicht?« fragte die unbeteiligte Stimme.

Zenshara zuckte die Achseln. »Es muß so geschehen, weil es so geschieht. Ich kann es nicht erklären. Es ist einfach, wie es ist.«

Auch wenn der alte Mann nicht im Zimmer war, er sah mit Hilfe eines kleinen Bildschirms dennoch zu. Als Zenshara ihre Antwort gab, neigte er den Kopf und sagte zu sich, daß die Dinge kommen würden, wie sie kommen mußten. Es war nicht weise, zu früh zu viel zu erhoffen, denn für einen Lehrer gab es viele Enttäuschungen. Aber dieses Kind schien viel, sehr viel zu verheißen.


Zenshara wurde in den Schlafsaal der Mädchen verlegt. Zu ihrer Überraschung sah sie, daß im Kloster mehr Mädchen als Jungen lernten. Einige wurden zu Technikern ausgebildet, andere waren wahre Novizen, die hofften, auf dem Weg zur Heiligkeit so weit wie nur möglich voranschreiten zu können. Zensharas harter Akzent hob sie von den anderen ab. Die anderen Mädchen kamen meist aus der oberen Mittelschicht und den höchsten Kasten der Gesellschaft. Sie waren gebildet und zeigten so viel Würde, wie junge Mädchen es nur konnten. Zenshara wünschte, sie besäße auch diese Anmut und Eleganz und ihre Ausgelassenheit.

Am ersten Abend sprach kein einziges Mädchen mit ihr, und auch Zenshara brach das Schweigen nicht. Sollten sie, wenn sie wollten, den ersten Schritt tun, um mit ihr Freundschaft zu schließen. Sie war damit zufrieden, daß sie lernen durfte, denn sie fand darin eine tiefere Freude, als sie es sich je hätte träumen lassen. Es war ihr genug, allein in einem bequemen Bett zu schlafen und zu wissen, daß sie während der Nacht nicht belästigt werden würde.

Am nächsten Tag ging sie mit einer Gruppe anderer Mädchen zum Unterricht, aber sie waren alle mit ihren jeweiligen Aufgaben zu sehr beschäftigt, um einander kennenzulernen. Die Regeln des Klosters schrieben vor, daß während der Mittagspause nicht gesprochen werden durfte. Aber am Abend kam ein Mädchen und baute sich neben Zenshara auf, als diese sich auf die Schlafenszeit vorbereitete. Also sollte sie doch etwas Gesellschaft bekommen, dachte Zenshara.

»Hier, Mädchen.« Ein Paar Schuhe wurde Zenshara unter die Nase gehalten. »Mach die sofort sauber.« Am anderen Ende des Schlafsaals war Gekicher zu hören.

Zenshara griff zögernd nach den Schuhen, die ihr hingehalten wurden. Dabei schloß sich ihre Hand um die Hand des Mädchens.

»Lucinda«, sagte ein anderes Mädchen in der Nähe, »kann ich deine Dienerin ausborgen, wenn du sie nicht mehr brauchst? Bei mir ist der Boden so schmutzig.«

Sie hieß also Lucinda. Zenshara packte fester zu und zog das Mädchen zu sich. Schnell wie eine zuschlagende Katze biß sie das Mädchen in die Hand. Sie biß zu, bis ihr die Kaumuskeln wehtaten und Luandas Schreie sogar das Tosen in Zensharas Ohren übertönten. Zenshara spuckte das Blut aus und stieß das Mädchen von sich.

Sie sah sich wachsam um und erwartete einen Angriff. Das zweite Mädchen, das gesprochen hatte, rief über das Terminal an ihrem Bett schon nach den Aufsehern. Die anderen waren mit bleichen Gesichtern zurückgewichen. Niemand schien Lust zu haben, sich mit Zenshara anzulegen.

Lucinda krümmte sich und zitterte vor Schreck. Zwei ihrer Freundinnen kamen, um sie zu trösten, warfen aber die ganze Zeit ängstliche Blicke auf Zenshara.

Die Aufseher, zwei Jungen, stürzten in den Raum. Dann, als sie sahen, daß das Schlimmste schon überstanden war, blieben sie stehen und sahen sich um. Der ältere und größere der beiden übernahm die Regie. Er half Lucinda auf und führte sie aus dem Raum.

Bevor sie gingen, drehte sich der jüngere der beiden noch einmal zu Zenshara um und zwinkerte ihr frech zu.

Als die Lichter gelöscht waren, blieb sie die ganze Nacht wach. Sie saß im Lotussitz auf dem Bett, entspannt und doch wachsam, falls man sie angreifen würde. Niemand kam.

Lucinda ward im Kloster nie wieder gesehen.


Einige Nächte später schlich Zenshara im Dunkeln durch die Flure des Klosters. Ihr war klar, daß sie von den Überwachungsanlagen beobachtet wurde, aber inzwischen wußte sie, wie Lehrer und Administratoren mit den Beziehungen der Novizen umgingen. Sie achteten darauf, sich so wenig wie möglich einzumischen. Das kam ihr seltsam vor, weil ein großer Teil der Ausbildung auf Selbstkontrolle und Disziplin des Geistes zielte. Dennoch war dies die Politik des Klosters.

Sie ging am Schlafsaal der Jungen vorbei zu den kleineren Einzelzimmern, wo die Aufseher schliefen. Sie klopfte an die hinterste Tür. Als sie aufglitt, stand der große Junge, der Lucinda geholfen hatte, blinzelnd im dämmrigen Schein des Nachtlichts vor ihr und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. Er setzte zum Sprechen an, doch er hielt sich zurück.

»Kann ich reinkommen?« fragte Zenshara.

»Lieber nicht«, sagte er freundlich. Er verstand sofort: Sie hatte unter den Mädchen keine Freundinnen und würde nie welche haben. Es war ihr bestimmt, einsam zu bleiben, eine Ausgestoßene unter den Mädchen. Sie war zu ihm gekommen, weil sie sich nach Gesellschaft sehnte.

»Es tut mir leid, ich brauche meinen Schlaf. Aber wenn du es bei Zhiang versuchst – das ist hier nebenan –, dann wirst du wahrscheinlich sehen, daß der kleine Racker immer noch wach ist und mit seinem Terminal spielt.« Er lächelte. Es war ein sanftes, freundliches Lächeln.

»Okay. Du bist Mark, nicht wahr?«

»Hast du in die Personalakten gesehen, Zenshara? Gut gemacht. Du bist ein Mädchen nach Zhiangs Geschmack. Aber halte ihn nicht die ganze Nacht wach.«

Er wartete, bis sie an Zhiangs Tür klopfte. Dann schloß er seine Zimmertür und legte sich hin.

Zhiang war, wie sie vermutet hatte, der kleine, freche Junge mit dem widerborstigen kurzen Haar, der Zenshara genau in dem Augenblick zugeblinzelt hatte, in dem sie annahm, daß man sie aus dem Kloster verstoßen würde.

»Mach dir wegen Mark keine Gedanken«, sagte er, als er sie in sein Zimmer ließ. Woher wußte er es? Sie hätte nicht gedacht, daß die Wände hier so hellhörig waren.

»Ich wollte nicht …«

»Oh, er wird dir bestimmt ein guter Freund sein. Aber er steht kurz vor der Heiligkeit. Er ist ein Auserwählter, und da ist es besser, etwas auf Distanz zu bleiben.«

Zenshara wußte nicht und hatte nicht einmal darüber nachgedacht, daß manche Leute im Kloster in diesem Augenblick nahe daran sein könnten, die Heiligkeit zu erreichen.

Es stellte sich heraus, daß Zhiang dreizehn war, auch wenn er kleiner war und jünger aussah als Zenshara. Sie redeten und spielten Kampfspiele am Terminal, bis fast der Morgen dämmerte. Als sie müde wurden, schliefen sie nebeneinander auf einer Matte auf dem Boden ein.


Es dauerte noch ein Jahr, bis Mark bereit war, ein Heiliger zu werden. Weder Zenshara noch Zhiang bekamen ihn in den letzten Wochen vor der Zeremonie zu Gesicht. Am Morgen des großen Tages zogen sie und alle anderen Novizen der Alphagruppe die Festgewänder an und wanderten schweigend in den großen Saal. Sie knieten hinten in der riesigen Steinhalle mit dem Kuppeldach und den schlichten, mächtigen Pfeilern nieder. Dann hockten sie sich auf die Fersen und warteten. Selbst für die, die an diese Stellung gewöhnt waren, wurde diese Haltung während der stundenlangen Zeremonie schmerzhaft.

Lehrer und Administratoren saßen auf kleinen Hockern an einer Seite des Saals. Im Mittelpunkt stand ein Podium, auf dem ein smaragdgrüner Teppich lag. Dort würde Mark niederknien und seinen Wunsch aussprechen. Aber noch war nichts von ihm zu sehen.

Zu beiden Seiten der Halle gingen Bogengänge ab, die den Saal mit Fluren verbanden. In jedem Zugang war ein Bogenschütze postiert, der auf einem Knie hockte und den großen asymmetrischen Bogen gespannt hatte. Die Bogenschützen trugen hellblaue Gewänder mit prächtigen Mustern, und die Bögen waren in Streifen mit den Grundfarben bemalt. Auf den Köpfen hatten die Bogenschützen hohe, festliche Hüte aus Schwarz und Gold, die unter dem Kinn mit schwarzen Bändern befestigt waren.

Hinter dem Podium am anderen Ende des Saals war ein riesiger Flachbildschirm, der im Augenblick nur ein neutrales Grau zeigte.

Der erste Teil der Zeremonie war eine schweigende Meditation, die von schräg klingender Musik, die gespenstisch durch den Saal wehte, begleitet wurde. Das größte Problem der knienden Novizen bestand darin, ihre schmerzenden Knie zu ignorieren. Hin und wieder stand ein Lehrer auf, um ein Gedicht oder eine mathematische Abhandlung vorzutragen. Der Lehrer, der am meisten Zeit mit Zenshara verbracht hatte, war als letzter an der Reihe. Er sprach mit einfachen Worten über die Geschichte der Klöster auf allen bewohnten Welten und über ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und der Fortführung der Expansion der Menschheit im Universum.

Die eigentliche Heiligung Marks war nicht besonders feierlich. Sehr gefaßt kam er herein und bewegte sich gemessen in prächtigen schwarzen und grünen Gewändern. Er schwebte beinahe über den Boden zum schlichten Podium. Er stieg hinauf und kniete auf der Matte nieder.

Zwei Jungen übergaben ihm feierlich einen goldenen Pokal, der auf einem Kissen stand. Sie wichen zurück, als er die Augen schloß und in Trance fiel. Sein Gesicht war ruhig und friedlich. Hinter Mark erwachte der Bildschirm zum Leben und zeigte das große Kolonistenschiff, das hoch über Wusaba im schwarzen Weltraum in einer Umlaufbahn geparkt war. Das Bild wurde vermutlich von einer Sonde des Schiffs selbst übertragen, dachte Zenshara. Das Raumschiff sah aus wie ein kompliziertes Spielzeug. Kaum vorstellbar, daß dort tausend angehende Kolonisten darauf warteten, daß das große Abenteuer ihres Lebens begann. Sie fürchteten sicher das Schlimmste – und das Schlimmste wäre, daß sie nicht in Bewegung kamen und schändlich mit Shuttles zu den Häusern zurückkehren mußten, die sie verlassen hatten.

Nicht jeder Heilige war mit einer Visualisation begabt, die ausreichte, um ein so großes Schiff zu transportieren. Die meisten benutzten ihren Wunsch, um Daten oder Materie zu übertragen.

Die Bogenschützen legten die Pfeile ein. Gott verhüte, daß sie gebraucht würden. Ein Schauder lief durch Marks Körper, als die Wirkung des aus mehreren Zutaten gemischten Tranks einsetzte. Unter dem Kloster begannen riesige Maschinen zu arbeiten, die Marks forschendem Bewußtsein gewaltige Energien zur Verfügung stellten. Langsam tastete Mark sich mit seinem Bewußtsein weiter, bis er den Nicht-Raum zwischen einer Wellenfunktion und ihrem Zusammenbruch einnahm, bis er zur Buddha-Natur der Realität wurde.

»Ich wünsche, das Schiff sei in Aleph Mu.« Marks Stimme tönte erschreckend laut durch das Schweigen.

Es gab eine Verzögerung – das Aussprechen war noch nicht der Gedanke selbst –, und dann zeigte der Bildschirm den leeren Raum über dem Planeten. Das Kolonistenschiff war fort.

Die Stärke seines Wunsches hielt über die Lichtjahre hinweg einen Kommunikationskanal offen, bis schließlich das bärtige Gesicht des Schiffskapitäns auf dem Bildschirm erschien.

»Wir sind wohlbehalten angekommen. Bald wird eine neue Nation der Menschheit geboren werden. Unser Dank und unser Gebet geht zu euch zurück.«

Dann erlosch der Bildschirm.

Obwohl es streng verboten war, faßte Zenshara Zhiangs Hand. Sie hielten und drückten ihre Hände, während sie die Nachwirkungen des Tranks beobachteten. Alle Bewohner des Klosters sahen zu, wie Mark zu sterben begann. Sein Gesicht schien zu zerfallen, sein ganzer Körper schien zu schrumpfen. Allmählich wich die Spannung aus seinen Muskeln, und sein Kopf sank nach vorn. Sein Oberkörper kippte vornüber, bis sein Kopf auf dem Podium lag. Dann kam eine letzte Entladung, und dann waren die ganze Spannung und alles Leben aus Marks zusammengesunkenem Körper gewichen.

Der Geruch von Weihrauch trieb durch die Luft, als die weiß gewandeten Sargträger kamen, um den Toten auf einer zeremoniellen Schwebebahre fortzubringen. Für Heilige gab es keine Beerdigungszeremonie, denn sie hatten ihren Wunsch bekommen. Als die Träger mit ihrer Last den Saal verließen, wollte Zenshara nicht einsehen, daß sie Mark nie wiedersehen sollte. Sie konnte jetzt doch gewiß zu seinem Zimmer laufen und würde ihn dort lächelnd vorfinden? Aber gerade sie sollte es besser als alle anderen im Saal wissen. Denn auch Zenshara war für die Heiligkeit erwählt.

Nach der Zeremonie, als ihre Beine so weit wiederbelebt waren, daß sie laufen konnten, kehrten Zenshara und Zhiang in Zhiangs Zimmer zurück. An diesem Tag würde es keinen Unterricht geben. Den Schmerz in ihren Beinen empfanden sie als eine fast unerträgliche Freude. Es war die Freude, lebendig zu sein.

Sie hielten einander fest, aber es war Zhiang, der am meisten weinte. Später liebten sie sich zum ersten Mal. Es war die tiefste Erfahrung ihres jungen Lebens. Es war ein Ja zum Leben.


Sie kniete, das Gesicht zur Wand gerichtet, auf dem harten, glänzenden Holzboden ihres Zimmers. Die Wand war leer, alle Holographien und Rachbildschirme waren ausgeschaltet. Neben ihr kniete ihr Lehrer. Er konnte ihren Gesichtsausdruck beobachten, aber sie konnte sich nicht umdrehen, um seinen Blick zu erwidern.

»Wo lebt der Wunsch?«

»Im Raum zwischen Materie und Idee«, sagte Zenshara.

»Wann lebt der Wunsch?«

»In der Zeit zwischen Möglichkeit und Tatsache.«

»Wo sind dieser Raum und diese Zeit?«

»In Wirklichkeit«, sagte Zenshara.

Der Lehrer hielt inne und stellte eine weitere Frage, die vom formellen Fragenkatalog abwich. »Wie nennst du diesen Raum und diese Zeit?«

»Ich nenne sie Hoffnung«, sagte Zenshara leise.


Als sie an diesem Abend Zhiangs Zimmer betrat, fand sie es leer vor. Alle persönlichen Dinge waren verschwunden. Sie fragte niemand nach seinem Fortgang. Sie wußte, daß niemand ihr etwas sagen würde. Sie wußte, daß sie ihren Freund nie wiedersehen würde.

Am nächsten Tag gab sie sich während des Unterrichts besondere Mühe. Am Abend sagte man ihr, daß sie am Tisch der Meister bedienen solle. Während des Essens wartete sie zusammen mit zwei Dienerinnen des Klosters dem Tisch der Meister auf. Der Name war irreführend, denn der Tisch der Meister war ein wundervoller Speisesaal, der gelegentlich von älteren Lehrern und Administratoren beiderlei Geschlechts und ihren Besuchern aus der Außenwelt benutzt wurde. Diese Berufung war einerseits eine Erinnerung an die Demut, die Zenshara noch erwerben mußte, und andererseits eine Belohnung, weil sie dort dem Gespräch von Fremden von außerhalb des Klosters lauschen durfte.

Die Gäste waren reiche Patrizier und Kaufleute, wohlhabende Männer mit erlesenen Manieren, die beseelt waren vom Wunsch, das Kloster zu unterstützen. Daß die Spenden ihren gesellschaftlichen Status verbesserten, war ein willkommenes Nebenprodukt. Zenshara lauschte, wie die Administratoren schamlos den Besuchern schmeichelten in der Hoffnung, einen Beitrag zum enormen Finanzbedarf des Klosters zu bekommen. Die Lehrer, die am Tisch saßen, schwiegen die meiste Zeit.

In den folgenden Wochen wurde Zensharas mathematische Ausbildung vervollkommnet. Nach einer besonders anstrengenden Stunde, als sie im Simulationsraum eine gewaltige Zahl von Wahrscheinlichkeitsfunktionen gleichzeitig graphisch dargestellt hatte, wollte sie gerade gehen, als ihr Lehrer sie mit einer kleinen Geste aufhielt.

»Zenshara«, sagte er. »Es gibt eine Frage, die du mir noch nie gestellt hast, solange du hier bist.«

Zenshara fragte sich, was für eine Art von Prüfung das werden sollte. »Welche Frage meinst du, mein Lehrer?«

»Du hast noch nie gefragt, warum ein Heiliger sterben muß.«

Die meisten Leute glaubten, der Tod sei ein unvermeidlicher Nebeneffekt der Drogen, die ein Heiliger nehmen mußte, wenn er sich mit den Maschinen vereinen wollte. Aber Zenshara und der Lehrer wußten es besser. Das Gift wurde absichtlich in den Trank gemischt.

»Wenn die Verbindung mit den Maschinen einmal hergestellt wurde«, sagte sie, »dann kann sie nie wieder unterbrochen werden. Und wer kann schon jederzeit seine Wünsche absolut kontrollieren? Wer könnte im Schlaf seine Träume kontrollieren?«

Der Lehrer schwieg. Ein Heiliger, der einen Alptraum hatte, konnte ihnen allen Tod und Zerstörung bringen. Zenshara hatte es verstanden. Er war über ihre Klugheit zugleich erfreut und bekümmert.


Niemand sagte etwas, aber Zenshara wußte, daß die Zeit ihrer eigenen Heiligkeit näherrückte. Der Lehrer bat sie in sein Studierzimmer, wo er mit ihr über die Arten der Wünsche sprach, die Heilige äußern konnten. Am häufigsten transportierten sie Schiffe über unvorstellbare Entfernungen, oder sie hielten die Kommunikationswege zwischen den vielen Welten so lange wie möglich offen, während die Menschen hochkomprimierte Nachrichten austauschten, die sie gesammelt hatten, bis eine Verbindung hergestellt werden konnte.

Andere hatten recht ausgefallene Wünsche, und nicht jeder Heilige wußte im voraus, wie sein Wunsch lauten würde. Es war jedenfalls gut zu wissen, ob ein Heiliger ein Kolonistenschiff befördern wollte oder nicht, denn auf diese Weise konnte man sich Kosten und Kopfschmerzen ersparen. Zenshara sagte, sie hätte keine Ahnung, welcher Wunsch der ihre sei. Sie meinte damit, daß sie dem Lehrer noch nicht sagen konnte, wie ihr Wunsch lauten würde, falls sie die Heiligkeit erlangte. Es wäre vermessen anzunehmen, daß ihr dies in jedem Fall gelingen würde.

»Welche Arten von Wünschen gibt es noch, mein Lehrer? Was sind die seltsamsten?«

»Ah, mein Kind«, sagte er, »das sind die metaphysischen Wünsche. Wünsche, die irgendeine tiefe Wirkung zeitigen. Sie sind gewöhnlich auf den Heimatplaneten des Heiligen oder gar nur auf das jeweilige Kloster beschränkt. Die erhöhte Intelligenz und Langlebigkeit der Menschen beruht auf solchen Wünschen.«

Zenshara nickte gedankenverloren.


Am Tag vor ihrer Heiligung stand Zenshara im Morgengrauen auf und verließ das Kloster.

Keins der Sicherheitssysteme versuchte sie aufzuhalten, wie es zu jeder anderen Zeit geschehen wäre. Zweifellos weckte die Anlage ihren Lehrer und einige seiner Kollegen, aber sie würden nur beobachten und nicht eingreifen und hoffen, daß sie von selbst zurückkehrte. Ihr Lehrer würde ihr Gehen natürlich mit gemischten Gefühlen beobachten. Zenshara wußte, daß er sie sehr ins Herz geschlossen hatte. Wenn sie ihre Pflicht tat, ihre Verpflichtungen erfüllte und das höchste Ziel all derer erreichte, die dem Kloster dienten, dann würde morgen der letzte Tag ihres Lebens sein.

Der Sonnenaufgang erfaßte gerade den kristallblauen Belag der Allee der Hände. Gespenstisch und blaßgrün funkelte das werdende Tageslicht auf dem Boden. Zu dieser frühen Stunde waren nur wenige Menschen unterwegs. Die kleinen dunklen Gestalten unter den hochgereckten Steinarmen waren in Lumpen gewickelte Bettler, die keinen anderen Schlafplatz finden konnten. Zenshara zählte für sich auf, welche Merkmale ihre letzte Reise auf dieser Straße von der jetzigen unterschieden. Heute steckten ihre Füße in teuren Schuhen, und sie trug statt billiger Fetzen ein prächtiges, temperaturgeregeltes Gewand. Und vor allem war sie jetzt gebildet.

Als die Sonne höher stieg, erwachte die Welt. Geschäftige Kaufleute und Diener, die mit Botengängen unterwegs waren, stellten den Hauptteil der Frühaufsteher. Viele Bettler waren noch nicht wach (Zenshara fragte sich, wie viele über Nacht gestorben waren und überhaupt nicht mehr erwachen würden), aber einige rezitierten in der kühlen Morgenstille bereits Schriften oder Gedichte. Sie hatte zwar keine Hoffnung, den alten Mann zu finden, der sie veranlaßt hatte, ins Kloster zu gehen, aber Zenshara zwang sich dennoch, jedem Bettler, an dem sie vorbeikam, ins Gesicht zu sehen. Viele hatten von Krankheiten oder Unfällen verstümmelte Gliedmaßen. Gräßlich verunstaltete Gesichter mit schlimmen Entstellungen oder wuchernden Knoten waren die schlimmsten. Frühere Wünsche hatten den Menschen die Fähigkeit gegeben, sich drei Jahrhunderte ans Leben zu klammern, auch wenn ihre Gesundheit schrecklich gelitten hatte. Hätten sie sich die Behandlungen leisten können, dann hätten die Arztmaschinen ihnen eine vollkommene Gesundheit schenken können.

Sie benutzte ihren Kreditring, um an einem schäbigen Stand eine Frucht zu kaufen. Die alte Frau, der der Stand gehörte, machte eine tiefe Ehrenbezeugung, als sie Zenshara die Frucht gab. Etwas verstört nach dieser Demutsgeste, wanderte Zenshara weiter. Noch bevor sie in die Frucht beißen konnte, sah sie einen alten Mann, der am Fuß einer Säule in graue Lumpen gewickelt lag und sich gerade schmerzhaft aus dem Schlaf löste. Wortlos gab sie ihm die Frucht und ging weiter.

Gegen Mittag erreichte sie einen Basar, der jener sein mochte, den sie vor so vielen Jahren besucht hatte. Im Gedränge bemerkte sie ein schmutziges Mädchen, das gerade einem dicken alten Kaufmann in die Hosentasche griff. Sie eilte hinüber und faßte das Mädchen am Ohr.

»So, meine Liebe«, sagte Zenshara, »was soll ich jetzt mit dir machen?«

Das Mädchen wand sich und versuchte, sich zu befreien, dann kapitulierte es. »Madame, es tut mir leid. Ich wollte es meinem Herrn geben, ehrlich.« Sie begann zu schniefen.

Zenshara glaubte ihr. Der Herr des Mädchens war sich offensichtlich nicht zu fein, die Geschicklichkeit der Dienerin zu benutzen, um sein Einkommen aufzubessern.

»Bring mich zum Haus deines Herrn«, befahl Zenshara.

Es war ein mittelgroßes Haus mit einem kleinen Obstgarten und einem Springbrunnen. Besser als das Haus, in dem Zenshara als Mädchen gelebt hatte, aber verglichen mit der teuren Schlichtheit des Klosters war es immer noch elend und schäbig. Sie kündigte sich an der Vordertür an und verlangte Einlaß.

Der Besitzer und seine Frau kamen voller Furcht zur Tür und luden Zenshara in ihr Haus ein. Die Frau scheuchte einen Schwarm Diener, um Essen für ihren Gast zu holen, aber Zenshara hielt sie zurück. Sie bat darum, zunächst das Terminal benutzen zu dürfen.

Zenshara erkundigte sich als erstes nach Zhiang. Nach Auskunft des Terminals hatte sich der Junge bei einem technischen Institut in der Stadt eingeschrieben und sich als herausragender Student erwiesen. Zensharas klösterlicher Zugangscode hätte es ihr erlaubt, noch mehr herauszufinden, aber sie ließ es dabei bewenden. Ein Nebeneffekt ihrer Anfrage war, daß das Kloster auf ihren Aufenthaltsort aufmerksam gemacht wurde. Diese Tatsache konnte dem Besitzer und seiner Frau nicht entgehen. Nervös fragten sie, ob sie noch etwas für Zenshara tun könnten.

»Zeigt mir die Quartiere eurer Diener«, sagte sie.

Sie mußte noch einmal nachdrücklich darum bitten, bevor man sie in die kalten Steinkammern führte, wo die Diener schliefen. Zenshara bat um etwas Essen und erklärte, sie werde über Nacht bleiben. Verwirrt und erschreckt versuchten die Gastgeber, Zenshara zu überzeugen, ihr eigenes oder ein Gästezimmer zu nehmen, aber sie fügten sich schließlich, als Zenshara wortkarg ablehnte.

So verbrachte Zenshara die Nacht im erbärmlichen Quartier der Diener. Sie fand kaum Schlaf in der Kälte. Die Diener sprachen nicht mit ihr und schliefen, obwohl in ihrer Gegenwart verunsichert, lange vor ihr ein.

Sie schliefen noch immer, als Zenshara kurz vor dem Morgengrauen erwachte. Sie verließ leise das Haus und kehrte in die Abgeschiedenheit des Klosters zurück, in die sie gehörte.


Dieses Mal verstand Zenshara die Zeremonie besser. Als sie den großen Saal betrat, fühlte sie sich von den Zuschauern, den Lehrern und Administratoren und Novizen distanziert und doch als Teil von ihnen. Kniend bewunderte sie die anmutigen Linien des Raums, in dem sie sterben sollte. Das Leben, hätte sie fast gesungen, ist das Geben. Sie sah zu den Bogenschützen, die in blauen Gewändern schußbereit knieten und gerade die Pfeile einlegten. Sie wurden aus Lehrern rekrutiert, die der Heiligkeit nahe, aber doch nicht fähig waren, den letzten Schritt zu tun. Ihr eigener Lehrer war unter ihnen. Im Quantenzustand des Saals heute würden die Pfeile schnell wie Gedanken von den Bögen der Schützen fliegen, die gelernt hatten, ohne Absicht zu schießen.

Wahrscheinlich glaubte niemand, daß diese Vorsichtsmaßnahme auch heute notwendig war. Wenn es einen Menschen gab, der fähig war, einen disziplinierten Gedanken zu formulieren und daran festzuhalten, dann war es Zenshara.

Hoch über dem Planeten wartete ein Schiff in der Umlaufbahn, obwohl Zenshara keinen Hinweis gegeben hatte, welche Art von Wunsch sie äußern würde. Die Zivilbehörden, die für die Organisation verantwortlich waren und die Zensharas Ruf und ihre Fähigkeiten kannten, hatten ein größeres Schiff als üblich bereitgestellt und die Kommunikationssysteme mit sendebereiten Daten vollgestopft. Zenshara hoffte, die Leute würden nicht zu enttäuscht sein, wenn ihre Vorbereitungen nichtig gemacht wurden.

Sie verneigte sich vor dem Lehrer, bevor sie den Pokal nahm, den man ihr brachte. Es war eine unnötige Geste der Demut, zumal ihr Lehrer als einer der zeremoniellen Bogenschützen nicht reagieren durfte. Dennoch war er der einzige Mensch hier, zu dem Zenshara echte Zuneigung empfand und mit dem sie sich wirklich verbunden fühlte. Die anderen liebte sie, aber es war die gleiche Liebe, die sie für die ganze Menschheit empfand.

Es war ein himmlischer Trank, eine köstliche Mischung aus verschiedenen Geschmacksrichtungen, der auf ihrer Zunge förmlich explodierte. Der Geschmack des Todes war süß. Sie badete in Wohlbehagen und spürte, wie ihr Körper sich entspannte und ihr Geist sich schärfte. Sie schien aus ihrem Körper zu gleiten und mit dem Universum zu verschmelzen, sie spürte die Energien unter sich, als sie sich darauf vorbereitete, die Maschinen des Klosters zu führen und ihre Kraft in die Trance mitzunehmen.

»Ich wünsche«, sprach sie, »Wohlstand und Gleichberechtigung für alle.«

Ein leises Keuchen entfuhr den Kehlen der Zuschauer. Viele kippten auf den Hacken leicht zurück. Ein metaphysischer Wunsch der höchsten Ordnung! Niemand konnte sich seit Menschengedenken an einen so großartigen Wunsch erinnern. Wer konnte sagen, welche Wohltaten ein solcher Wunsch ihrer Welt und vielleicht sogar den Nachbarwelten bringen mochte?

Von den Worten zum Gedanken. Zenshara hielt das Bild in ihrem Bewußtsein fest und begann, den Gedanken zu erarbeiten. Ihr Lehrer war unter den beglückten Zuschauern der einzige, der die Gefahr spürte.

Mit geschlossenen Augen und friedlich in sich ruhend ließ der Lehrer den Pfeil fliegen. In gewisser Weise war dessen Geschwindigkeit unendlich. Schnell wie eine Intuition schoß der Pfeil durch den Saal und schlug durch Zensharas Körper. Blut spritzte aus der Austrittswunde und strömte ihren Rücken hinab.

Zu spät. Das Konzept lag bereits zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in der Zeit. Wellenfunktionen brachen zusammen. Weiter, als sich irgend jemand vorstellen konnte, griff Zensharas mächtiger Gedanke zu allen von Menschen bewohnten Welten hinaus und erreichte alle Klöster in der Galaxis.

Es gab keine Flammen, keine Explosionen. Die empfindsamsten hatten gerade noch Zeit zu bemerken, daß ihr Universum in eine neue Ordnung überging. Die Molekularstrukturen der Gebäude und der Bewohner lösten sich auf. Wie Gespenster verblaßten die Klöster sanft zu freien Atomen, die sich mit den Welten mischten, auf denen die Klöster gestanden hatten. Sie wurden zu einem Teil von ihnen, befreit von unterdrückenden, hemmenden Strukturen. Zenshara und die Klöster starben zusammen in dem Augenblick, in dem ihre Liebe für alle Wesen am stärksten war.



Originaltitel: ›SANCTIFICATION‹ • Copyright © 1993 by John Meany • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, März 1993 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Langowski • Illustriert von Jürgen Höreth


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