»MR. TAMBOURINE MAN«


Und was ist mit dem früheren Troubadour? Wie hat Dylans jüngster Richtungswechsel sich auf seine eigenen spirituellen Explorationen ausgewirkt? Auf die kraftvolle, proteische Persönlichkeit des Suchers selbst? Kurz, wie hat die Veränderung Dylan verändert?

»Ich bin näher dran«, erklärte er mir kürzlich in einem Interview in den Büros von TS/3S in Peachtree Street im Geschäftsviertel von Atlanta. »Anders als Tricky Dick und der Pechvogel Lyndon kann ich kein Licht am Ende des Tunnels sehen, das uns alle erlöst, aber ich bin eindeutig näher an meinem Ziel, und von ganz oben an der Straße kommt so was wie ein Lichtschein. Unterwegs sein, das ist es, was zählt, aber jeder Halt am Weg hat auch etwas zu bedeuten. Ich hab’ nur keine Lust, zu lange an einem Punkt hängenzubleiben. Das ist Tod. Ein schlimmerer Tod als das altmodische körperliche Sterben. Ist natürlich genauso altmodisch, irgendwo hängenzubleiben, nicht wahr?«

Dylan sieht gut aus. Obwohl er schon immer ziemlich ausgemergelt war, wirkt seine Schlankheit jetzt eher wie die eines aufstrebenden, mobilen leitenden Angestellten in der Werbebranche als wie die eines äthiopischen Hungeropfers. Er hat sich den struppigen rabbinischen Bart rasiert, und seine flattrigen Satyrlocken sind ordentlich geschnitten. Als ich mit ihm sprach, trug er einen Anzug von Brooks Brothers, Schuhe von Gucci und eine Armbanduhr von Seiko. Er wollte nicht an seinem Schreibtisch sitzenbleiben, sondern schritt gelassen wie ein unruhiger Leopard zur Fütterungszeit in seinem Büro auf und ab. Er war genauso leichtfüßig und unterschwellig bedrohlich. Diese Bedrohlichkeit schien jedoch weniger eine hintergründige physische Drohung als vielmehr eine körperliche Auslegung meiner Angst zu sein, daß er jeden Moment eine Metamorphose durchmachen könnte, die ganz anders wäre als alles, was er uns bisher immer vorgeführt hat. Seine schlechten Zähne – schon immer sein unschönstes Merkmal – blieben hinter seinen geschürzten Lippen oder bei den Gelegenheiten, wo er sprach, hinter einer erhobenen Hand verborgen.

»Ich hab’ immer gesagt, daß spießige Klamotten wie die hier eine Uniform wären, ein brav bürgerliches Kennzeichen der Konventionalität. Die Mitgliedschaft im Club, wissen Sie. Konformität. Na ja, es funktioniert auch andersrum. Motorradjacken, Mad-Matter-Hüte, Jesuslatschen, sogar weltliche Käppies. Es ist alles eitel, stimmt’s? Jedes bißchen. Also, mich könnte man ebenso für einen Tycoon halten wie für einen Typhusüberträger.« Er lächelte. »Was wichtig ist, wirklich wichtig, ist, meinem Obermäc zu dienen, indem ich meine Software unter die Leute bringe. Das nützt meinem Nachbarn genauso wie Gott, und das ist alles, was ich von jetzt an bis zur Auffahrt ins Reich Gottes, zum Kommen des hebräischen Messias oder unserem selbstgemachten nuklearen Big Bang voraussichtlich tun werde – oder tun will. Aber wer weiß? Es ist ein Halt, und sogar Haltepunkte müssen einen Schlußpunkt haben.« Er lächelte wieder. »Hat aber nichts mit Kohle zu tun, das kann ich Ihnen sagen. Da bin ich drüber weg, und das hat’s mir ermöglicht … äh … Songs zu schreiben und zu programmieren, und die Programmiererei hat eine Tür wieder aufgestoßen, die zu durchschreiten ich allmählich nicht mehr geglaubt habe.«

Obwohl Dylan mir dreißig Minuten eingeräumt hatte, wurde unser Gespräch immer wieder von Botschaften seiner Sekretärin, Telefonanrufen und Eilzustellungen unterbrochen. Irgendwie schaffte er es, über diese Ablenkungen hinwegzugehen und unserer Unterhaltung, die ein völliges Kuddelmuddel hätte sein können, Kontinuität zu verleihen. Ich benutzte die Unterbrechungen dazu, mir Notizen über die Gestaltung, die Dekoration und Ausstrahlung seines Arbeitsbereichs zu machen; ein paar davon werde ich nun dem Leser gleich mitteilen.

»Was mit uns als Volk geschieht, ist, daß wir jetzt, nachdem wir uns unzählige Male von unseren eingefleischten Glaubensbekenntnissen und Konfessionen losgesagt und ein paar traurige und verzweifelte Anstrengungen unternommen haben, einen falschen Glauben und einen Pseudomessias zu übernehmen, na ja, da fangen wir nun tatsächlich an, religiöser zu werden und uns eher geistig zu orientieren. Wahrhaftig, meine ich. Das ist etwas, das tiefgehen wird, bis an die Wurzeln unserer Seelen, und diese erstaunliche spirituelle Revolution kommt im langen Schatten der Computer-Revolution auf uns zu. Niemand hat damit gerechnet, aber es passiert, und deshalb mußte ich mich da einklinken.«

(Mir kam der Gedanke, daß die Unvorhersehbarkeit der vielen Veränderungen in Dylans beruflicher Laufbahn eine Analogie in der scheinbar willkürlichen Art und Weise hat, wie er zwischen den Endungen wählt, wenn er ein Partizip Präsens ausspricht. Diese zufällige Beobachtung wird natürlich der wahren Intentionalität dieser Änderungen in seiner Laufbahn nicht gerecht.)

»Ich hab’ immer gedacht, daß es die Musik sein würde, die unser Gewissen am Ende wachrüttelt und unsere Seelen auf den Weg der Gnade führt. Dieser Glaube ist verantwortlich für Blowin’ in the Wind ganzam Anfang und Slow Train Coming und Shot of Love, als ich auf die Vierzig zuging. Die Illusionen der Jugend sterben schwer, besonders wenn man Talent hat. Aber es war dumm, so zu denken. Wenn Musik so viel Macht hätte, im Widerspruch zu Alexander Pope und Max Davis, müßte man sich doch wundern, daß Bach – ich meine, Papa Johann und die ganzen kleinen Bachs – nicht schon die ganze Welt für Jesus gewonnen hat. Daß Ravi Shankar uns nie dazu bewegt hat, Kalifornien in Hindustan umzubenennen. Daß Itzhak Perlman Israel und Syrien nicht dazu gebracht hat, sich zu küssen und wieder zu versöhnen. Daß Columbia Records nicht die vollständige Kontrolle über den Welthandelsmarkt erlangt hat.«

»Haben sie nicht?«

Dylan zielte an seinem Zeigefinger entlang und ließ den Hahn seines Daumens herabschnellen – aber eher, um sarkastische Zustimmung als den obligatorischen Groll von jemandem zu signalisieren, der dort früher unter Vertrag gestanden hatte. (Sonderbare Geste.)

Dann fing er wieder an, auf und ab zu gehen und dabei in philosophischen Erinnerungen zu schwelgen: »Ganz oft hab’ ich mich durch sie besser gefühlt, durch die Musik. Durch die Songs. Aber es hat sich als Sackgasse rausgestellt, stimmt’s nicht? Eine Sackgasse, an deren Ende eine Ziegelmauer auf mich wartet, in die ich mit dem Kopf voran hineinrennen würde, wenn ich verrückt genug wäre, dabei zu bleiben.

So bin ich drauf gekommen, daß es einen anderen Weg geben mußte. Diesen Weg. Den Weg des Computers, des Programms und der potentiellen Gläubigen an der Schnittstelle ihrer Terminals. Und schließlich eine Technik, die uns die Verbindung zum Glauben hergestellt hat. Eine Technik, die die Rudimente der Religion benutzerfreundlich gemacht hat. Ein bißchen wie bei den Japanern mit ihren leicht zugänglichen Shinto-Schreinen. So einen gibt’s da praktisch in jedem Haushalt. Das ist also der Weg, den wir mit dem Personal Computer gehen. Die Japaner auch. Fast jeder. In einer Kirche oder Synagoge können die Leute untergehen, sie können sich vom Gewicht des Rituals und der Tradition erdrückt fühlen. Aber nicht von einem Home Computer. Er ist ein Altar und ein Schrein, und man kann hingehen und sich an die Spiritualität anschließen, die in seinen Mikrochips versteckt ist, und die verbinden einen wiederum mit Gott. Jeder Hacker ein Beichtkind, jede Hausfrau ein kommunizierendes Kirchenmitglied. Wir werden mit unseren Fingern auf den Tastaturen unserer Apples oder IBMs beten. Wir werden an unsere Geräte gehen, um in uns zu gehen, und das Innere ist es – nicht dieser Anzug oder diese Schuhe –, was Gott sieht. Meine Programme – Orphilodeon ist das beste Beispiel – machen den Computer zu einem Bindeglied zwischen dem Pilger/User und unserer wahrsten Auffassung von Gott. Jeder von uns ist eine Kirche, und wir beten nur an unseren reflexhaft reagierenden Altären.«

»Ist es nicht bloß eine andere Art von Narzißmus?« fragte ich. »Und wenn jeder allein betet, wie steht’s dann mit der Glaubensgemeinschaft?«

»Sind Gebet, Meditation und Studium narzißtisch? Normalerweise nicht. Und was die Glaubensgemeinschaft betrifft, haben Sie noch nie was von einem Netzwerk gehört? Von Benutzergruppen? Von Computerclubs? Von Software-Tagungen und Computermessen? Da entsteht eine neue Kultur, eine mit starken gemeinsamen Bindungen zwischen ihren Mitgliedern, und sie haben begonnen, Anspruch auf ihr spirituelles Erbe zu erheben, indem sie sich die Macht des Mikroprozessors und die biblische Kraft erleuchteter Programme erschlossen haben.«

Ein Tambourin, das Emblem der Gesellschaft, hing an einem Haken an der Wand hinter Dylans Schreibtisch. Er nahm es herunter und schlug es gegen seine Hüfte, eine Reihe von Ausrufungszeichen hinter seiner letzten Bemerkung.

»Mr. Tambourine Man«, sagte ich. »Mein Lieblingssong von Bringing It All Back Home.«

»Tja, der ist da drauf«, sagte Dylan. Er mustert das Tambourin, als hätte er noch nie eins gesehen. »Aber auch noch andere Sachen.« Er schüttelte das Instrument kurz und fuhr fort: »Einer der Fehler am mittleren Alter ist, daß man anfängt, sich zu rechtfertigen. Wissen Sie, das ist so was wie ’ne musikalische Floppy Disk.«

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