Ian McDonaldNordirland
FROOKS


In dem Kontaktmagazin stand zwar eine Adresse, aber ich hatte trotzdem Mühe, den Club zu finden. Kein Name; da war bloß eine Tür mit abblätternder grüner Farbe, von der man hätte meinen können, sie gehöre zu dem chinesischen Fleischerladen. Ich fand die Nummer: achtundachtzig; von Tropfenschatten bedeckte goldene Ziffern in einem fächerförmigen Türfenster. Auch die goldene Farbe blätterte ab.

Darunter war das vierblättrige Yin-Yang-Zeichen gemalt. An dem Zeichen erkannte ich eher als an der Adresse oder der Hausnummer, daß ich am Ziel war.

Durch das Fenster sah ich die Treppe.

Ich ging vorbei. Ich hörte meinen Herzschlag. Ich dachte, so was passiert nur in Krimis. Mein Atem ging stoßweise. Ich hätte mich am liebsten übergeben. Ich mußte mich übergeben. Ich tat es nicht. Ich ging vorbei. Zu viele Leute. Die kennen dich doch nicht, dachte ich bei mir. Niemand kennt dich. Du bist weit weg von zu Hause, und nicht mal das wissen sie. Du bist unsichtbar. Die sehen dich nicht, die sehen nicht die grüne Tür, die wissen nicht, was dahinter liegt, am Ende der Treppe. Die gehen jeden Tag dran vorbei und sehen nichts.

Ich machte kehrt und ging zurück. Aber ich ging wieder vorbei. Hätte ich erst mal die Treppe erklommen, würde man mich kennen. Man würde wissen, wer ich bin, woher ich komme, was ich möchte, warum ich hier bin. Ich hätte mich erklärt. Aber das hat dort jeder getan, sagte ich mir. Du bist aus demselben Grund hergekommen wie sie alle, und daher bist du unsichtbar.

Mußte denn ganz London an diesem Abend ausgerechnet hier vorbeilaufen? Ich konnte nicht glauben, daß sie nichts wußten, daß sie nicht herschauten, daß sie sich nicht anstießen und miteinander flüsterten, wenn sie hinter meinem Rücken angelangt waren und durch den kalten Nieselregen weitergingen.

Ich brachte es einfach nicht über mich, bloß weil Leute, die ich nicht kannte, über mich hätten reden können. Ich blieb stehen und wandte mich um. Ich sah, wie der chinesische Metzger einen Haken mit gebratenen Enten in ein beleuchtetes Schaufenster hängte. Ich atmete aus, und es dauerte eine Weile, bis ich daran dachte, wieder einzuatmen. Ich hatte Herzklopfen. Irgend etwas schmolz tief in meinem Bauch.

Rotes, hin und her schwingendes Fleisch, das war es, was der Metzger aufgehängt hatte.

Es war wie eine plötzliche Gesichtsfeldverengung. Ich sah nur noch die grüne Tür, dann meine zur Tür ausgestreckte Hand, dann die Treppenstufen. Das Teppichmuster war das gleiche wie bei meiner Oma Joan. Seltsam, was einem alles so in den Sinn kommt. Am Ende der mit Teppich ausgelegten Treppe eine weitere Tür; eine Schwingtür, dunkelrot bemalt, so rot wie die hin und her schwingenden Enten des Metzgers. Mitten in der Tür befand sich ein Drahtglasfenster, nicht größer als ein Guckloch. Ich hoffte, niemand wäre dahinter. Ich war die Treppe so rasch hochgestiegen, daß mir gar nichts anderes übrig blieb, als die Tür aufzustoßen. Der Schwung trug mich in den Club.

Es war anders, als ich erwartet hatte. Komisch: bis dahin war mir nicht einmal klar gewesen, daß ich überhaupt irgendwelche Erwartungen hatte. Es war beengter. Der Raum war anders aufgeteilt. Es hatte den Anschein, als hätte man mehrere Räume zusammengelegt. Die Bar lag rechts hinter der Tür; die briefmarkengroße Tanzfläche befand sich in einem Alkoven hinter der Bar. Zwei Stufen führten hinauf. Der restliche verfügbare Platz war mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Die Möbel schienen teilweise aus einer alten Kirche und einer Büroauflösung zu stammen. In der künstlichen Beleuchtung wirkten sie billig. Alles wirkte billig, selbst die Wandgemälde, auf denen Sterne, Galaxien, beringte Planeten und große, im Flug begriffene Raumschiffe dargestellt waren. Die silbernen Raumschiffe hatten Bierflecken, und man hatte Zigaretten darauf ausgedrückt und sie mit Kugelschreibern bekritzelt. An einer Spiegelkugel zerbrach das Licht eines Punktstrahlers in hundert Sterne, die über die dekorierten Wände wanderten, den Boden, die Bar, die von der schwarzbemalten Decke hängenden Raumschiffmodelle. Auf der Tanzfläche wirbelten zwei Effektprojektoren vielfarbene Galaxien über- und durcheinander. Die große Musikanlage lief nicht; der CD-Player hinter der Bar spielte in der Absicht, Atmosphäre zu schaffen, alte 1990er Hintergundtanzmusik. Billig.

Es roch nach abgestandenem Rauch, nach Männern, Bier und irgend etwas, das ich bislang noch in keinem anderen billigen Club gerochen hatte. Was immer es sein mochte, ich bekam Herzklopfen davon, und der Penis schwoll mir in der Hose an.

Natürlich. Das war ihr Geruch.

Im Club waren vier Männer, die an einem der Tische saßen, vor sich Biergläser und eine Zeitung. Sie und der Barkeeper starrten mich an.

»Haben Sie geöffnet?« fragte ich.

»Wir haben geöffnet«, antwortete der Barkeeper. Er hatte einen Südwales-Akzent. Ich fühlte mich gleich besser. »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht in der Adresse geirrt haben?«

Ich holte das Magazin aus der Manteltasche und legte es auf die Bartheke. Fremde Attraktoren. Auf dem Titelblatt glatte Kurven aus Terrakottafleisch. Nichts Graphisches, bloß Haut, aber der Verkäufer im Laden hatte mich angeschaut, als ich das Magazin auf seine Theke gelegt hatte. Nach diesem Blick konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich ließ eine Bemerkung über den tragbaren Fernseher hinter der Kasse fallen, wie langweilig es doch mit diesem ganzen Überwachungskram geworden sei, dennoch spürte ich deutlich seine Feindseligkeit. Umgeben von allen möglichen menschlichen Begierden und Perversionen, die sich im Vierfarbdruck bis zur Decke stapelten, doch das konnte er nicht akzeptieren.

Auch die vier Männer am Tisch hatten mich angesehen, aber nicht so. Der Barkeeper sah mich an, aber nicht so.

»Hier sind Sie richtig«, meinte der Barkeeper und schob das Magazin wieder zu mir hin. »Sie sind ein bißchen früh dran. Hier wird’s erst nach acht allmählich voll, und vor neun kommen die nicht.«

»Dann warte ich eben«, sagte ich. Ich nahm auf einem der Barhocker Platz und hielt im Kühltresen nach mir bekannten Sorten Flaschenbier Ausschau. Ein Dutzend Wassersorten, perlend und harmlos. Alkohol vertragen sie keinen. Der ist für sie Gift. Ich bemerkte die Aspirinpackungen in meinem Gesichtsfeld.

»Haben Sie Red Stripe?«

Der Barkeeper lachte.

»Haben wir.« Als er die Flasche öffnete, setzte er hinzu: »Sie sind aber nicht von hier. Woher kommen Sie? North Wales?«

»Rhyl.«

»Rhyl.« Er schenkte mir das Bier ein. »Mit acht war ich mal für ein Wochenende in Rhyl. Die ganze Zeit hat’s geschüttet, und überall war zu.«

»Könnte passen. Und Sie: aus dem Süden, hab ich recht? Aus den Tälern?«

»Aus Pontypridd. Der Stolz der Täler, das, was die Torys davon übriggelassen haben. Das macht fünf fuffzig, bitte.«

»Wieviel?«

»Ein besonderer Club, besondere Preise. Dann sind Sie wohl geschäftlich hier?«

»Geschäftsführertagung. Ich bin in der Modebranche. Mehrmals jährlich lädt man uns ein und zeigt uns, was es Neues gibt; wie wir’s ausstellen sollen, wie wir’s vermarkten sollen, damit alle Filialen von Rhyl bis nach Romsey gleich aussehen. Hab mir gedacht, ich bleib noch ein Weilchen und seh mir die Sehenswürdigkeiten an.«

»Sie brauchen mir nichts zu erklären. In Rhyl gibt’s nicht so viele. In Pontypridd übrigens auch nicht. Irgendwie ganz nett, mitanzusehen, wie diesmal die verdammten Engländer kolonisiert werden, finden Sie nicht?«

Wir unterhielten uns noch eine Weile über Dinge, die wir gemeinsam hatten; über Wales, über Rugby natürlich und über den in greifbare Nähe gerückten Gewinn des Dritten Meistertitels – vielleicht sogar der Fünf-Nationen-Meisterschaft –, was das erste Mal in diesem Jahrhundert wäre; und wie fremd wir England fänden, wo alles, was nicht auf oder unmittelbar an der Straße liegt, ebensogut gar nicht hätte zu existieren brauchen. Wir unterhielten uns über alles mögliche, bloß nicht über den Grund, warum er mir in einem Hintertreppenclub an der Lisle Street Bier servierte. Die Unterhaltung war schleppend, denn es wurde allmählich voller, und die Kunden wollten ihre Drinks. Ich versuchte herauszufinden, ob es irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen uns gäbe. Alle möglichen Gesellschaftsschichten und Typen waren vertreten; Große, Dicke, Gutaussehende, Brillenträger, Kahlköpfige, Gutgekleidete, Anzugtypen und solche in Freizeitkleidung. Alte. Junge. Sogar ein paar Frauen. Das wunderte mich. Wie kam es, daß die Reiz- und Auslöserchemikalien bei ihnen überhaupt funktionierten?

Von denen immer noch nichts zu sehen.

Gegen halb sieben hatte sich der Club bis zur untersten Treppe der Tanzfläche gefüllt, und es waren immer noch keine da. Ein DJ ging zum Mischpult und testete den Verstärker. Der Barkeeper – er hieß Hugh – stellte die Hintergrundmusik ab. Der DJ dimmte die Beleuchtung und schaltete einen Hintergrundmix ein. Die Stimmung im Club veränderte sich so plötzlich, als hätte der DJ mit der Musik irgendeinen Schalter gedrückt. Es war ihre Musik. In diesem Moment begann die Nacht.

Alles, was ich über sie weiß, habe ich aus der Glotze oder aus irgendwelchen Zeitschriften, aber ich weiß immerhin soviel, daß es zwei Arten von Musik bei ihnen gibt. Die Bezeichnungen habe ich vergessen, aber eine ist für die passive und eine für die aktive Phase. Diese zweite Musik spielte im Moment. Liebesmusik: die Musik, welche die Männer spielen, wenn sie sich zurechtmachen und im Wettstreit um die Frauen tanzen. Nur Trommeln und Perkussionsinstrumente; Schicht auf Schicht, an- und abschwellend und sich gegenseitig durchdringend in einem fremdartigen, komplizierten Rhythmus, den man mit dem Fuß zwar schlagen, den man sich jedoch nicht merken kann. Ich hatte diese Musik schon im Radio und im Fernsehen gehört, aber da klingt sie nicht richtig. Laut muß sie sein, als wäre man mit ihnen zusammen draußen auf der Straße, während der aktiven Phase, so laut, daß man sie körperlich spürt, im Unterleib, wo man sie spüren soll. Ihre Männer können Tag und Nacht hindurch trommeln. Irgendwie gelingt es ihnen, aus ihrer Erregung übermenschliche Kraft und Ausdauer zu schöpfen. Sie haben ein bestimmtes Wort dafür, aber das ist mir ebenfalls entfallen. Übermenschlich. Ha.

Ich hatte mich darauf konzentriert, den Rhythmus mitzuzählen – ich glaube, es war ein Elfdrittel-Takt –, als mir der Geruch in die Nase stieg. Der gleiche fremde und gleichzeitig vertraute Geruch, der mir schon beim Betreten des Clubs aufgefallen war, bloß stärker diesmal. Sehr viel stärker. Ich blickte mich um. Da. Neben mir, auf die Bar gestützt, darum bemüht, Hughs Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Shi’an. Ein Alien.

Bewußt wurde mir das erst nach dem Moment des Wiedererkennens. Währenddessen dachte ich überhaupt nichts. Ich reagierte. Die Erregung wallte in mir hoch wie etwas, das ich glaubte aushusten zu müssen, um nicht daran zu ersticken. Meine Eier prickelten und strafften sich. Der Perus bäumte sich mir in seinem Behältnis aus Baumwolle und Synthetikfaser.

Ich hörte ihn sagen: »Noch was von dem Boots Brandy da, Taffy?« Die Stimme war ein rauchiger Alt; keine Männerstimme. Keine Frauenstimme. Keine menschliche Stimme. Der Akzent ließ sich nicht einordnen, doch ansonsten klang alles ganz richtig.

»Bedaure, ist uns ausgegangen, Loonturievo«, antwortete Hugh, der Barkeeper. »Aber wir haben noch Hedex Extra.«

Der Shi’an machte ein Gesicht, das mir nichts sagte, aber es mußte wohl Abscheu bedeutet haben, denn er meinte: »Scheiße.«

Ich hatte immer gedacht, sie würden nicht fluchen. Rein wie Engel, so stellte ich sie mir vor. Reinen Herzens und reinen Worts.

Hugh stellte mich vor: »Ein Bruder aus dem Land der Lieder.«

Der Shi’an sah mich an.

Ich hörte den Atem eines Wesens aus sechzig Lichtjahren Entfernung.

Ich sah seine Augen, die wie Katzenaugen waren: schwarze Ovale auf gold-grünem Grund.

Ich sah seine Haut, glatt und rötlich verbrannt, wie feinstes Terrakotta. Aber weich und warm.

Ich sah die breite Nase – der Geruchssinn ist für sie so wichtig wie für uns das Sehen, habe ich irgendwo gelesen. Die Nüstern blähten sich. Er schnupperte meinen Geruch. Den Geruch eines Menschenmannes.

Ich sah die dreifingrigen Hände, die kleinen, tief angesetzten Ohren und den Streifen weichen, dunkelroten Fells mitten auf dem Schädel, der sich entlang des Rückgrats zu einer schmalen Linie verjüngte.

Mein Penis war so hart, daß sich meine Hose bestimmt wölbte wie ein Zirkuszelt. Mein Gott; er mußte es merken. Er mußte es riechen. Ich konnte nicht sprechen. Mir gingen ein Dutzend unterschiedliche Gesprächseröffnungen durch den Kopf, aber ich brachte keine davon heraus. Ich bewegte sinnlos die Hände. Ich wurde rot. Ich grinste wie ein Idiot und verschüttete mein Red Stripe auf die Theke. Der Alien tänzelte blitzschnell zurück. Es sind schnelle Leute. Geborene Jäger. Nicht so kräftig wie wir, aber schnell. Auch das habe ich irgendwo gelesen.

Oh, mein Gott. Dabei stand auch, daß für sie ein Lächeln – ein dummes, albernes Grinsen – eine Drohung darstellt. Ein Zähnefletschen. Wenn sie lächeln, dann blinzeln sie. Ganz langsam. Ich hätte ihm ebensogut mit der Faust drohen können. Er nahm das Wasser und die minderwertigen Aspirintabletten und ging zu einem Tisch mit drei Männern, die ihn zu sich gewinkt hatten. Er bewegte sich geschmeidig. Wie die meisten wunderschönen Wesen, die ich je gesehen habe. Ich wußte immer noch nicht, ob er nun männlich oder weiblich war – die Geschlechtsunterschiede bei ihnen sind chemischer, nicht körperlicher Natur. Als ich jedoch sah, wie ihm einer der Männer den Arm um die Hüfte legte und ihn an sich zog, hätte ich ihm dafür, daß er es wagte, ein so wundervolles Wesen zu beschmutzen, am liebsten mit einem Stuhl den Schädel eingeschlagen.

»Ich hab’s vermasselt«, sagte ich zu Hugh.

»Es kommen noch mehr.«

Und sie kamen. Viele sogar. Manche trugen Menschenkleidung – Männer- wie Frauenkleidung; da beide Geschlechter bei ihnen gleich waren, konnten sie tragen, was ihnen gefiel -; andere wiederum bevorzugten ihren eigenen Stil. Manche trugen extravagante, exotische Kostüme; das waren die Männer in ihrer Tänzerkluft. Mit Stickereien verzierte Stoffröcke; kunstvolle hohe Krägen, in denen sie groß und schlank wirkten; mit Perlen, Drähten, Spiegeln und Juwelen geschmückte Kopfbedeckungen. Bevor sie ihren Fuß auf die Erde gesetzt hatten, waren diese Kostüme über zahllose Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation weitergereicht worden. Ich beobachtete, wie diese prachtvoll gekleideten Wesen sich zu den Menschen setzten und die Getränke tranken, welche die Menschen ihnen spendierten, und mit ihren Katzenaugen über die Scherze und Komplimente lachten, welche die Menschen ihnen machten. Wie konnten es diese schmutzigen, dicken, verdorbenen Affenmenschen mit ihren gierigen kleinen Hormonen, ihren zielstrebigen Penissen und hungrigen kleinen Vaginen bloß wagen, ihre Fingerabdrücke auf dieser vollkommenen Roterdehaut zu hinterlassen, sich auf der Tanzfläche an diesen hochgewachsenen, schlanken Körpern zu reiben und ihre stinkenden Finger unter diese wundervollen, uralten Kostüme zu stecken, um aufzuknöpfen, Reißverschlüsse zu öffnen und zu entkleiden?

Wie konnten sie das bloß zulassen?

Ich merkte, daß ich vor Empörung zitterte.

Hugh fing meinen Blick auf.

»Sie haben Glück«, sagte er. »Gerade gekommen.« Er schenkte ein Pint ein, schnippte eine Aspirintablette in ein Glas Perrier und blickte rasch zum Ende der Bar, zu dem Platz neben dem Zigarettenautomaten.

Er war ganz allein; saß auf einem Barhocker und ließ seinen Blick über die besetzten Tische schweifen und wieder zurück zur Bar. In der dreifingrigen Hand hielt er ein leeres Glas. Sein Blick fiel auf mich. Ich hob die Brauen, die Grußgeste der Shi’an. Die goldenen Augen hielten meine fest. Ganz langsam blinzelten sie. Ich trug meinen Hocker ans Ende der Bar und zwängte mich neben ihn.

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das sagte ich dann auch.

»Sie könnten mir erst mal einen Drink spendieren«, meinte der Shi’an.

Mit schwankender Stimme bestellte ich ein Red Stripe. »Und etwas für meinen Freund.«

»Für mich ein Light«, sagte der Alien.

»Ich dachte, Alkohol wäre Gift für Sie.«

»Er ist für uns beide Gift. Die Dosis unterscheidet sich, das ist alles. Manche von uns entwickeln eine Vorliebe dafür.«

Hugh brachte die Getränke und berechnete mir eine Summe, die ich an jedem anderen Ort, zu jeder anderen Zeit, in jeder anderen Gesellschaft als Zumutung betrachtet hätte.

»Wie wirkt er auf Sie?« fragte ich.

»Lassen Sie sich überraschen.« Der Alien blinzelte wieder langsam mit den Augen. Ich verkniff mir ein Lächeln und blinzelte zurück.

Ich redete. Den üblichen Stuß, über mich und wo ich herkam, und wie immer entschuldigte ich mich dafür und erzählte, was ich machte und warum ich mich gerade in London aufhielt und wie ich auf den Club gestoßen war und daß es so etwas bei uns in Wales nicht gäbe; bei uns gäbe es nämlich überhaupt keine Shi’an, und die ganze Zeit über hätte ich am liebsten den Mund gehalten, weil ich eigentlich nur diesen wunderschönen, schlanken, unglaublichen, attraktiven Alien anschauen wollte, der blinzelnd neben mir saß. Ihn anschauen. Und anschauen.

»He, Mister«, sagte er und unterbrach den Fluß meiner verrückten Konversation. »Möchten Sie tanzen?«

Den ganzen Abend hörte ich jetzt schon die Shi’an-Musik und versuchte zu vergessen, was sie bewirkte und wie sie funktionierte. Als ich zusammen mit dem Alien – Serracord, flüsterte er mir ins Ohr, als wir uns aneinanderrückten – auf der Tanzfläche stand, begriff ich es. Sie funktioniert nur, wenn man dazu tanzt. Dann ist es eine überwältigende Erfahrung. Es gab nur noch mich und Serracord und die Shi’an-Musik. Die projizierten Sterne und Galaxien wanderten wie Jahreszeiten über unsere Haut. Ich hätte die ganze Nacht durchtanzen können. Genau wie in dem Song aus diesem alten Musical. Ich wollte es auch. Ich wußte, daß ich es konnte. Vielleicht tat ich es sogar. Ich wußte es nicht. Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, etwas möge niemals aufhören, wie in dem Moment, als ich mich an die warme, fremdartige Haut von Serracord, dem Shi’an, drückte und tanzte. Die Zeit verflüchtigte sich. Der Raum löste sich auf.

Ich kam unvermittelt wieder zu mir. Serracord zupfte mich am Ohrläppchen. Der Club war auf einmal halb leer. Hugh, der Barkeeper, ließ die Rolladen herunter. Hatten wir so lange getanzt? Außer uns waren nur noch zwei Gruppen auf der Tanzfläche; eine Dreiergruppe aus zwei Männern in Anzügen und einem Shi’an, und eine Frau mit einem männlichen Shi’an, der ein prachtvolles zeremonielles Tanzkostüm trug.

»Was ist?« rief ich durch den Lärm der Musikanlage hindurch. Serracord hob meine Hand und tippte auf die Armbanduhr.

»Es ist spät.«

»Ach, wirklich?« Und ich dachte, mein Gott, nein, jetzt ist alles aus, jetzt stehen wieder Sack und Asche an, wie im Märchen vom Aschenbrödel.

»Nun, Mr. Erdmann«, sagte der Alien, beugte sich auf mich herunter und flüsterte mir ins Ohr, »nun, Mr. Welshman, möchten Sie mit zu mir kommen?«


Zu dieser späten Stunde herrschte eine nahezu heilige Stille. Serracord bezahlte das Taxi – eine schwule Minicab-Firma, bei der man sich auf Diskretion verlassen konnte –, und ich lauschte auf die Stille, die es hinter sich zurückließ. Ich spürte, wie die Stadt atmete und vor sich hin murmelte wie jemand, der sich im Schlaf auf die andere Seite wälzt. Ich hatte genug Bier und Musik im Blut, um mich gleich mehrfach lebendig zu fühlen.

Serracords Wohnung lag über einer jüdischen Bagel-Bäckerei in der Salmon Lane. Der Laden hatte überlebt, obwohl seine Kunden längst fortgezogen waren. Irgendwann würde auch er verschwinden. Das Angebot des Ladens war nicht nach dem Geschmack der Shi’an, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der letzten Einwanderungswelle angehörten, welche die Straßen von Limehouse in Besitz genommen hatte. Ihre weitverzweigten Schwesternschaften – Familien, die irgendwo zwischen einem Clan und einem Club angesiedelt waren – sind überwiegend Selbstversorger. Sie sind kein Volk von Käufern und Verkäufern.

Serracord war ein Freischwimmer außerhalb des Netzes der Schwesternschaft.

»Meine Wanderjahre«, erklärte der Shi’an, schaltete die Microanlage ein und wandte sich zum Kühlschrank, um Getränke zu holen. Das kalte blaue Licht ließ die fremdartigen Gesichtszüge des Wesens in einer Weise hervortreten, daß mir der Hodensack davon prickelte. Wir waren hier, um miteinander zu schlafen. Einen anderen Grund für die Einladung in die Wohnung über dem Bagel-Shop gab es nicht. Mir war schwindelig. Ich hatte Angst. Ich wollte weglaufen, doch etwas Stärkeres hielt mich auf meinem Platz am Fenster fest, von dem man auf die Salmon Lane hinunterblickte. Serracord brachte zwei Flaschen importiertes Lager mit und setzte sich mir gegenüber. Die Straßenlaternen beleuchteten jeweils eine Gesichtshälfte von uns, die andere lag im Schatten. »So ist das bei uns üblich. Wenn wir heranreifen, verlassen wir die Familie, in die wir hineingeboren wurden, und reisen umher, besuchen fremde Orte, schauen uns um, begegnen Fremden, lernen die Lust kennen, verlieben uns und hören wieder auf zu lieben, wie die Phasen kommen und gehen, und dann suchen wir uns einen neuen Ort, an dem wir uns niederlassen. Wir sind ein Volk von Jägern, ein Volk der weiten Ebene. Deshalb besiedeln wir auch andere Welten: Wanderjahre eines Volkes. Ich befinde mich zwischen den Welten.«

Ich stellte mir vor, was dies konkret bedeutete. Ich dachte an die gewaltigen Raumschiffe, die wie Christbaumschmuck waren und mit Lichtgeschwindigkeit zwischen den Sternen umhersausten; in jedem von ihnen hunderttausend nackte, rote Körper in freiem Fall, die während der jahrelangen Reise zur Erde schliefen. Ich schaltete unvermittelt von der inneren Vorstellung auf die äußere Realität um, und als ich Serracord im Schein der Straßenbeleuchtung vor mir sah, wie er unter den Planetenfotos und Raumschiffpostern, mit denen seine Wohnung geschmückt war, zu schweben schien, gab es keinen Unterschied zwischen beiden.

Ich bekam augenblicklich eine Erektion.

Serracord bemerkte es und lächelte. Ein Menschenlächeln. Ein Zähnelächeln. Ich war mir nicht sicher, ob es eine Drohung war oder ein Zugeständnis an mein Menschsein.

»Wie ist es, durch den Weltraum zu reisen?« fragte ich, um ihn von der Schwellung in meiner Hose abzulenken.

»Woher soll ich das wissen?« meinte Serracord.

Ich war geschockt. Serracord lächelte erneut. Ein Shi’an-Lächeln. Ein Augenlächeln.

»Man versetzt uns in Stasis, bevor wir den Orbit verlassen«, sagte der Alien. »Man trifft an der Abfertigung des Raumhafens ein, man wird aufs Raumschiff durchgeschleust, und das letzte, was man sieht, ist die Luke, hinter der die Heimatwelt verschwindet. Als nächstes sieht man, wie sie sich zu einer anderen Welt wieder öffnet. In der Zwischenzeit sind zehn Jahre vergangen.«

»Ich dachte, der Flug würde sechzig Jahre dauern.«

»Sechzig objektive, zehn subjektive. Relativistische Zeitdilatation. Doch selbst diese Spanne währt zu lange, als daß die Siedler wach bleiben könnten. Abgesehen von der Langeweile könnten die Schiffe nicht genug Vorräte für hunderttausend Passagiere mitnehmen. Nur die Besatzung bleibt während des Fluges wach.«

»Sechzig Jahre Schlaf«, sagte ich. Serracord mußte seine Heimatwelt im Jahre 1946 verlassen haben. Der Zweite Weltkrieg war dabei, in den Kalten Krieg überzugehen. Eine Zeit der Rationierungen, keine Bananen, und Attlee Premierminister. Austerity, großzügige Jungs, Frauen, die sich mit Bratensoße die Beine braun färbten und Strumpfnähte aufmalten; Schwarzmarkthandel, Dampfeisenbahnen, Autos mit Trittbrettern. Die Leute hielten die Atombombe noch für eine tolle Sache, als die achtundachtzig Schiffe der Fünfzehnten Interstellaren Flotte der Shi’an ihre Mach-Antriebe einschalteten und von ihrem Heimatsystem aufbrachen. Große Worte. Große, aufregende Ideen. Erotische Konzepte. »Fünfundzwanzig Jahre vor meiner Geburt. Meine Eltern waren gerade erst zur Welt gekommen. Wie alt sind Sie?«

»Für wie alt halten Sie mich?«

»Schwer zu sagen. Mir fehlt der Vergleichsmaßstab.«

Der Alien neigte den Kopf in einer Weise, die bei einem Menschen Schüchternheit bedeutet hätte. Was sie bei einem Shi’an bedeutete, weiß ich nicht.

»Ich bin als einer der letzten auf der Heimatwelt geboren worden«, sagte Serracord. »Als ich meine Schwesternschaft verließ, war ich gerade erwachsen geworden. Wir reifen früh, wissen Sie.«

»Wie früh?«

»Mit acht Jahren.«

Vier Jahre war es her, seit die Shi’an das rezessionsgeplagte Gerippe der Docklands in Besitz genommen hatten. Das wunderschöne, fremdartige, sexsprühende Wesen vor mir war zwölf Jahre alt. Der Penis pochte mir so hart in der Hose, daß es weh tat.

»Wie sieht sie aus, Ihre Heimatwelt?« Ich nahm Serracords Hand, hielt seine drei Finger in meinen vieren.

»Sie stellen viele Fragen, Mensch. Die meisten Frooks wollen bloß schnell zur Sache kommen.«

»Frooks?«

Sein amüsierter Blick war vollkommen menschlich.

»Ich dachte, das wüßten Sie, Mr. Welshman. Frooks. Menschen, die sich sexuell zu Shi’an hingezogen fühlen.«

Frooks. Singular: Frook. Ein häßlicher Name. Ein Name wie der Blick des Mannes im Sex-Shop, als ich das Magazin kaufte. Ein Name für ein Ding, für einen Zustand, nicht für eine Person. Ziemlich unpassend für einen Geschäftsführer in den Dreißigern, den Geschäftsführer einer Bekleidungsfiliale aus Rhyl, wo es keine Aliens gab unter den bunten Lichtern der Promenade oder vor dem Regen Schutz suchend in den Pubs und den Amüsierpassagen voller Spiele aus dem letzten Jahrhundert. Eindringlinge aus dem Weltraum. Als Kind war ich weitab vom Schuß. Ein Ort ohne Wunder, ohne Schönheit; ein Ort, am dem es den Geschäftsleuten nicht gestattet war, vor Anbruch der Dämmerung im Dunkeln zu sitzen und zum erstenmal das Gefühl zu haben, die Freiheit zu besitzen, das zu sein, was sie schon immer hatten sein wollen. Ein Frook. Ich war ein Frook.

Der Schock hatte nachgelassen. Ich wußte, ich würde mich an den Klang des Namens gewöhnen.

Den Schock hatte nicht die Plötzlichkeit des Begreifens ausgelöst, so als wäre der Name ein halber Ziegelstein gewesen, mit dem mich jemand beworfen hatte. Sondern die Erkenntnis, daß ich schon immer ein Frook gewesen war. Ich war schon ein Frook, noch ehe die Shi’an kamen. Wenn ich meinen sexuellen Werdegang Revue passieren ließ, dann erkannte ich den dünnen roten Faden des Frookseins darin. Ich war der ulkige Junge gewesen, der in die Pubertät gekommen und Eier, Bart und Körperbehaarung entwickelt hatte, als meine Freunde noch so unschuldig und rein wie die Englein gewesen waren. Ich war der Gehemmte beim Umkleiden gewesen, der gegen die in ihm brodelnden Hormone angekämpft hatte, die mich dazu brachten, diese wunderschönen, geschlechtslosen Wesen zu begehren, während mir meine Wünsche gleichzeitig Angst einjagten, und ich nicht wußte, wie ich damit umgehen sollte. Selbst dann noch, als ich mich daran gewöhnt hatte, Mädchen zu mögen, hatte ich immer das Gefühl gehabt, daß irgend etwas fehlte. Ihre Konturen waren zuviel, zu plump. Männer waren aber einfach bloß häßlich. Große, ungeschlachte, rauhe Wesen. Ihnen mangelte es an Schlankheit. An Zartheit. An Subtilität, Geheimnis, geschlechtsloser, androgyner Schönheit, wie sie die Zwölfjährigen besaßen, nach denen ich lechzte, während ich meinen monströsen Körper in den Umkleideräumen der Schule vor ihnen verbarg.

Und noch etwas fehlte ihnen. Ein drittes Geschlecht.

Und dann kamen die Shi’an.

Anfangs wußte ich noch nicht, daß ich für sie geschaffen war. Damals, als sie das bedeutendste Ereignis darstellten, das der Menschheit jemals widerfahren war, und wir benommen waren von ihrer strahlenden Schönheit, waren wir alle Frooks. Bei mir ließ die Begeisterung allerdings niemals nach. Ich besitze Hunderte von Stunden mit Videoaufzeichnungen über die Shi’an – größtenteils ungesehen. Ich habe Sammelalben mit Ausschnitten aus Zeitungen, farbigen Fotobeilagen und Magazinen. Als der Shi’an-Look in Mode kam, durchstöberte ich die Modejournale nach Shi’an-Models. Ich hatte eine Pinwand. Ich glaube, damit hat alles angefangen, mit den Pin-ups, die ich niemandem zeigte, nicht einmal meinen Freundinnen, die alle mager, flachbrüstig und jungenhaft waren. Und das Ende davon war – wenn nicht dieser Morgen in dieser Wohnung, und das glaube ich nicht, es ist eher ein Anfang –, daß ich zu meiner letzten Freundin sagte, ein Bürstenschnitt und rot gefärbtes Haar würden ihr gut stehen.

»Du möchtest, daß ich aussehe wie ein beschissener Sheenie«, hatte sie gemeint.

Nein. Ich wollte, sie wäre ein beschissener Sheenie gewesen. Sie hatte mir den Gefallen getan, und von da an bekam ich endlich wieder bei ihr einen Ständer, was mir schon sehr lange nicht mehr gelungen war. Das ging eine ganze Weile so. Sie hatte so ausgesehen, aber sie war es nicht gewesen. Aussehen allein reichte nicht. Wir haben uns vor einem Monat getrennt. Es war das einzig Ehrliche, was ich tun konnte. Sie konnte jemanden finden, der sie um ihrer selbst begehrte. Ich wäre frei, nach dem zu suchen, was ich wollte und was sie nicht war.

Ich hatte Phantasievorstellungen von etruskischen Terrakottaköpfen, von roten Settern und der geschlechtsverhüllenden Glattheit von scharlachrotem Lycra.

Frook. Der häßliche Name hatte mich frei gemacht. Er gab mir die Möglichkeit, mein altes Leben hinter mir zu lassen und mich im Frooksein zu verlieren. Ich brauchte nicht zu dem Laden zurückzukehren, zu der Stadt, in der es ständig regnete und alles immer geschlossen hatte, zu der Wohnung mit dem Kühlschrank voller Fertiggerichte und dem Fernseher, der um sechs anging und den ich erst wieder ausschaltete, wenn ich mitten in der Vorankündigung für die Spätabend-Talkshows aufwachte und mir klar wurde, daß ich beim Fernsehen eingeschlafen war. Das alles konnte ich hinter mir lassen. Ich konnte glücklich sein. Am liebsten hätte ich geweint. Doch das hätte Serracord verwirrt. Die Shi’an können nicht weinen, weder vor Freude noch aus Schmerz. Sie haben keine Tränen. Sie werden höchstens dunkel um die Augen.

»Frook.« Ich sprach das Wort laut aus, gab mir einen Namen. »Gibt es bei Ihnen ein entsprechendes Wort? Narha, heißt so nicht Ihre Umgangssprache? Ich glaube kaum – ich kann es mir nicht vorstellen. Die Paarungschemikalien haben bei Ihnen eine sehr heterosexuelle Gesellschaft zur Folge. Etwas anderes kennen Sie bestimmt nicht.«

»Ihr Menschen setzt Liebe immer mit Sex gleich«, sagte Serracord. »Für uns sind das zwei verschiedene Dinge. ›Liebe‹ kann man jedem entgegenbringen, dem man sich verbunden fühlt, ob Mann oder Frau, Sexpartner oder nicht. ›Sex‹ ist Begierde. Sex ist brennende Gier und Raserei. Sex ist eine Intensität, die nicht phasenabhängige, semisexuelle Menschen sich gar nicht vorstellen können.«

»Wie kommt ein Shi’an dann dazu, Geschlechtsverkehr mit einem Menschenmann haben zu wollen?« fragte ich, hob Serracords Hand ins Licht und untersuchte die Form der Fingernägel, die Finger, die Knochen. »Wie kommt es, daß Sie, Serracord – was sind Sie eigentlich, Serracord, Mann oder Frau? –, mit mir Sex haben wollen?«

Serracord entzog mir seine Finger. Der Alien erhob sich und blickte auf mich herunter.

»Ich glaube, Sie haben es immer noch nicht begriffen, Mr. Welshman.«

Im Licht der Natriumdampflampen öffnete Serracord seine Seidenbluse. Beim Anblick der flachen Brust, die dunkel wirkte im gelben Licht, und der drei parallel angeordneten Reihen von Brustwarzen schnappte ich insgeheim nach Luft. Ich streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Serracords Linke ließ mich innehalten. Mit der rechten rieb er über die mittlere linke Brustwarze und zog daran. Fest. Die Haut dehnte sich. Dann riß die Warze ab.

Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Serracord hielt mir die dunkle Beere zwischen Daumen und Zeigefinger vor die Augen.

»Die sind mit Gummikleber befestigt.«

Serracord schnippte das Ding weg und hob die Hände zu den Augen. Zweimaliges Blinzeln, ein Zucken der Finger. Blaue Pupillen auf weißem Grund. Menschenaugen blickten mich an.

»Reicht Ihnen das noch immer nicht?«

Die für Männer zugeschnittene Levis war aufgeknöpft. Er hatte sie fallengelassen, und man sah den Frauentanga aus Spitze, den er darunter trug. Ich konnte den Blick nicht abwenden von dem geschwungenen Dreieck glatter, sommersprossiger Haut zwischen den Schenkeln, als die Finger den oberen Rand abpellten und sich dann darunterzwängten.

»Serracord, um Himmels willen, bitte!«

»Synthetische Haut. Wie man sie bei Brandopfern verwendet. Das Hautmuster mache ich selbst mit Körperfarbe, mit dem gleichen Zeug, das ich für die Ganzkörperfärbung verwende. Ich kann Ihnen zeigen, wie das geht. Es ist ganz leicht; was man wissen muß, erfährt man übers Fernsehen oder aus Büchern und Zeitschriften. Alles, was man wissen muß, um einer von denen zu werden.«

Ich zitterte. Am liebsten hätte ich alles ausgewürgt, was ich im Laufe der Nacht zu mir genommen hatte. Ich wollte den Blick abwenden von diesem Wesen, das sich vor mir entblätterte, doch dieser grauenhafte Terrakotta/Setter/Scharlach/Lycra-Fetisch ließ mich einfach nicht los.

»Ich dachte, Sie wüßten, was für eine Art Club das ist.«

»Sie alle?« brachte ich trotz meines Zitterns und meiner Übelkeit hervor.

»Die meisten. Ein paar sind echt. Sehr wenige. Wie Sie schon sagten, warum sollten sie uns begehren? Ich dachte, Sie wüßten das. Ich dachte, Sie wollten das Spiel durchziehen. Es tut mir leid – ich wollte Sie nicht verletzen, aber ich konnte nicht so weitermachen. Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber ich mag Sie. Sie haben was Besseres verdient. Sie sind ein netter Kerl. Ich wollte wirklich mit Ihnen ins Bett gehen. Ich möchte es noch immer.«

»Aber Ihre Nase, Ihre Ohren, Ihre Finger«, meinte ich flehentlich. Ich klammerte mich an die Hoffnung, doch der unablässige Regen spülte sie von den Straßen von Rhyl.

»Dafür gibt es kosmetische Chirurgen. Allerdings kostet das einiges. Alles läßt sich verändern, bloß die Augen nicht. Aber man kann sich Kontaktlinsen machen lassen. Sind allerdings verflucht teuer. Und da unten machen sie nichts.« Eine Hand wanderte zu dem runzligen Beutel aus sommersprossiger synthetischer Haut.

»Aber warum? Warum tut man sich so etwas an?«

»Manche wollen mit ihnen zusammen sein. Manche wollen mehr. Manche von uns wollen sein wie sie. Alle wollen wir sie haben, begehren wir sie, jeder auf seine Art.«

»Aber wir können sie nicht bekommen«, sagte ich und blickte dem Menschen, der sich Serracord nannte, in die Augen.

»Können wir jemals bekommen, was wir uns wirklich wünschen, oder sein, was wir sein wollen?«

Ich dachte an mein Hotelzimmer, an die im Dunkeln wartenden Koffer und an das unbenutzte Bett und das Licht, das durchs vorhanglose Fenster fallen würde.

»Was sind … was waren Sie?«

»Ist das wichtig?«

»Wohl kaum.«

»Möchten Sie noch ein Bier? Es gibt keinen Grund, jetzt zu gehen.«

»Jetzt begreife ich das mit dem Bier.« Und zahllose andere verräterische Details, die ich nicht beachtet hatte, weil ich sie nicht hatte wahrhaben wollen.

»Manche Dinge kann man nicht so einfach aufgeben.« Serracord lächelte, das Menschenlächeln, das Zähnelächeln. »Wir können auch bloß reden; mehr brauchen wir nicht zu tun. Für mich war es ein prima Abend. Tut mir leid, daß ich Sie enttäuscht habe.«

»Worüber reden?«

»Wer wir sind, was wir wollen, was wir sein möchten.«

Ich zuckte die Achseln. Serracord faßte das als Zustimmung auf und wandte sich zur Küche, um neue Flaschen zu holen. Ich hielt den Alien auf. Ich hob seine rechte Hand hoch, betrachtete die längst verheilte Narbe, dort, wo der kleine Finger chirurgisch entfernt worden war.

»Das ist wirklich gut gemacht«, sagte ich. Ich hob die Hand an die Lippen und küßte die Narbe.



Originaltitel: ›FROOKS‹ • Copyright © 1995 by Ian McDonald • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, Oktober 1995 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Stöbe • Illustriert von Jobst H. Teltschik


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