Im Augenblick der Geburt brach eine Flut von Eindrücken über ihn herein.
Sein Leib, noch feucht vom Sprossen, war eine schwere, kraftvolle Masse. Er dehnte sich, und seine Glieder streckten sich mit weichen, saugenden Geräuschen. Er spürte Blut durch die Kapillaren schießen, die seinen Rumpf vernetzten – Blut, das strotzte vor potentieller Energie.
Und er hatte Augen.
Ringsherum waren Leute, die sich drängten, die debattierten und es eilig hatten. Sie schienen angespannt, besorgt; doch der Gedanke verlor sich rasch. Es war so köstlich zu leben! Er reckte die jungen Glieder. Er wollte alle umarmen, seine Freunde, seine Familie; er wollte seine Leibhaftigkeit mit ihnen teilen, seine Vorfreude auf das Leben.
Inzwischen hatte sich rings um ihn ein Käfig aus gelenkigen Gliedern gebildet, der ihn vor dem Gedränge schützte. Er starrte empor, erkannte die schnell verheilende Wunde eines frischen Sprossens. Er rief – doch seine Sprechmembrane war noch naß, und die Laute, die er hervorbrachte, waren nicht zu verstehen. Er versuchte es noch einmal, spürte, wie die Membrane gehorchte. »Du bist mein Vater«, rief er.
»Ja.« Von oben näherte sich ein riesiges Gesicht. Er langte hinauf, um das strenge Antlitz zu streicheln. Das Fleisch verhärtete sich bereits. Süße Traurigkeit übermannte ihn. War sein Vater schon so alt, daß das Anwachsen bevorstand?
»Hör zu. Sieh mich an. Du heißt Bildhauer 472. Ich heiße Bildhauer 471. Du darfst deinen Namen nicht vergessen.«
Bildhauer 472. »Ich danke dir«, sagte Bildhauer 472 feierlich. »Aber …« Aber was bedeutete Bildhauer? Er forschte in seinem Gedächtnis, er war nicht ohne Erinnerung geboren. Glieder. Vater. Leute. Anwachsen. Die Sonne; die Hügel. Er fand keinen Hinweis auf Bildhauer. Panik beschlich ihn; seine Glieder schlugen hin und her. War etwas nicht in Ordnung mit ihm?
»Beruhige dich«, sagte sein Vater gleichmütig. »Das ist ein alter, überlieferter Name, der nichts weiter bedeutet.«
Bildhauer 472. Das war ein guter Name; ein edler Name. Vor ihm lag das Leben: der kurze dreitägige Morgen, der ihm Bewußtsein und Beweglichkeit schenkte, da er reden, kämpfen, lieben und Knospen treiben würde; und danach der lange, träge, bequeme Nachmittag des Anwachsens. »Ich bin so glücklich, daß ich lebe, Vater. Alles ist wunderbar. Ich …«
»Hör mir zu.«
Er hielt verwirrt inne; der Tonfall war schroff, eindringlich.
Irgend etwas war nicht in Ordnung.
»Das Leben ist jetzt – schwierig. Anders.«
Bildhauer 472 schlang die Glieder um den Rumpf. »Wegen mir?«
»Nein, mein Junge. Die Welt macht Probleme.«
»Aber die Hügel – das Anwachsen …«
»Wir mußten die Hügel verlassen.« Die Stimme von 471 verriet Scham; erneut nahm 472 das Gedränge jenseits des Käfigs wahr, den die starken Glieder seines Vaters bildeten. »Die Hügel sind beschädigt. Es gibt dort – Sonnenwesen – fremde Lebensformen, die glühen und glänzen. Wir trauen uns nicht mehr zurück. Wir mußten fliehen.«
»Aber wie soll ich dann anwachsen? Wo soll ich hin?«
»Es ist bedauerlich«, sagte sein Vater. »Wir müssen in die Ferne ziehen. Vielleicht finden wir neue Hügel, auf denen wir anwachsen können. Vielleicht noch rechtzeitig für dich.«
»Und was wird aus dir?«
»Mach dir um mich keine Sorge.« 471 knuffte und schubste seinen Sohn. »Komm. Kannst du laufen?«
Bildhauer wickelte sich aus seinen Gliedern, setzte sie an den Boden und stand versuchsweise auf. Ihm war ein bißchen schwindlig, und ein paar Gelenke taten weh. »Ja. Ja, mir geht es prima. Aber ich muß wissen …«
»Schweig jetzt. Lauf zu, Junge!«
Sein Vater rollte von ihm fort und humpelte den Fliehenden hinterher.
Ohne den Gliederkäfig von 471 war Bildhauer schutzlos seiner Umgebung ausgeliefert. Das Land war kahl und flach; der Himmel schwarz und leer. Er verscheuchte die unechten Erinnerungen an schattige Hügel, an Gelächter und Liebe.
Sein Volk wogte zum Horizont, ließ ihn im Stich.
»Warte! Vater, warte!«
Taumelnd lernte Bildhauer, sich mit seinen acht Gliedern über den unebenen Boden zu klauben, und schwankte seinem Vater hinterher.
Das Shuttle parkte im Mondorbit. Michael Poole dockte an, und Bill Dzik, Leiter des Projekts Baked Alaska, holte ihn ab. Dzik war ein beleibter, atemloser Mann mit einem Gesicht, dem eine Anti-Seneszenz-Behandlung zu unnatürlicher Glätte verholfen hatte; er hatte eine kleine Aktenmappe dabei. Seine plumpe und warme Hand verschlang die seines Gegenübers. »Mike. Schön, daß Sie kommen.«
»Ich habe nicht damit gerechnet, Sie leibhaftig anzutreffen, Bill.«
Dzik bemühte ein Lächeln; sein Mund ging unter in der Teigmasse des Gesichts. »Tja, wir haben ein Problem. Leider.«
Poole unterdrückte einen Seufzer; sein Magen schien sich zusammenzuziehen.
Er folgte Dzik ins Shuttle. Die Einmannbesatzung in Gestalt der kurzgeschorenen Pilotin begrüßte den Neuankömmling mit einem munteren Kopfnicken. Durch die gewölbten Fenster sah Poole Limas altehrwürdige Physiognomie und den himmelblauen Tetraeder, das Wurmloch-Portal nach Baked Alaska. Poole und Dzik schnallten sich in benachbarte Sitze, und wie von Geisterhand beschleunigte das Shuttle. Poole verfolgte die Annäherung an das hundert Meter weite Portal; Flächen wie aus vergoldetem Silber, ungreifbar, vage, überstrahlten das blaue Rahmenwerk.
Probleme, immer Probleme. Wärst du doch bei deiner Physik geblieben, Mike.
Dzik nahm die Mappe auf den Schoß und machte Anstalten, sie mit seinen Wurstfingern zu öffnen. Er zauderte. »Wie kommt die Cauchy voran?«
Du weißt, wie die Cauchy vorankommt; du bekommst meine Kurzberichte von der Jupiterwerft, du bekommst alle Berichte. Poole wollte Zeit gewinnen, war sich im unklaren über Dziks Laune. »Prima. Miriam Berg macht ihre Arbeit gut da draußen. Der GUT-Antrieb ist uns jetzt auf den Leib geschneidert, und die Produktion des exotischen Materials für die Portale ist angelaufen. Wie Sie wissen, zapfen wir als Energiequelle den Magnettunnel von Io an und …«
Dzik nickte immerzu, sein Blick klebte an Pooles Gesicht; doch er hörte nicht zu …
»Raus damit, Bill«, sagte Poole. »Ich werd’s überleben. Was haben Sie auf dem Herzen?«
Dzik lächelte. »Tja.«
Die kobaltblauen Streben des Portals glitten vorüber und verdeckten jedesmal den Mond.
Dzik öffnete die Mappe und zog eine Reihe von Fotografien heraus. »Sehen Sie sich das an.« Es handelte sich um grobkörnige Aufnahmen der Oberfläche von Baked Alaska. Der Himmel war leer bis auf ein paar Sprenkel; jeder von den fernen Sternen hätte die Sonne sein können. Das Land war kahl, nichts als rissiges Eis – bis auf ein paar merkwürdige, wurzelartige Strukturen, die an Baumstümpfe erinnerten.
»Leider ist die Qualität nicht besonders«, sagte Dzik. »Die Fotos mußten aus großer Entfernung gemacht werden. Aus sehr großer Entfernung.«
Poole stöberte in den Fotos. »Was soll das, Bill?«
Dzik fuhr sich mit den plumpen Fingern durchs kurze, fettige Haar. »Sehen Sie, Mike, ich bin jetzt fast so lange beim Wurmloch-Projekt wie Sie. Und wir hatten manche Nuß zu knacken. Aber das waren technische Probleme oder politische oder …« Dzik zählte an den Fingern ab. »Das Grundproblem der Wurmloch-Instabilität konnten wir durch intelligente Rückkopplungssysteme lösen. Wir können inzwischen exotische Materie am Fließband produzieren, genug, um die Mäuler der Wurmlöcher eine Meile weit aufzusperren. Wir haben die Genehmigung der regionalen und überregionalen Behörden, um das ganze Sonnensystem mit Wurmloch-Adern zu vernetzen. Und dann die Finanzierung; diese endlosen Kreuzzüge …«
Kreuzzüge, die noch nicht ausgestanden waren, sinnierte Poole. Man mußte Dzik immer wieder mit der Nase darauf stoßen, daß der kommerzielle Erfolg des Baked-Alaska-Unternehmens nur die finanzielle Basis für das eigentliche Ziel war – den Flug der Cauchy in den interstellaren Raum.
»Aber das hier ist etwas anderes.« Als Dzik den Finger von dem Hochglanzbild nahm, blieb ein fettiger Fleck zurück. »Das ist nichts Technisches, nichts Finanzielles und auch nichts Politisches. Wir sind auf etwas gestoßen, das nicht einmal menschlich ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob es dafür eine Lösung gibt.«
Eine sanfte Erschütterung lief durch das Shuttle. Sie befanden sich jetzt kurz vor dem Schlund des Wurmlochs. Die stahlblaue Verstrebung aus exotischer Materie war gleichsam das Skelett eines gigantischen Schlauchs, und ihre negative Energiedichte erzeugte das Abstoßungsfeld, das den Schlund offenhielt. Die Wandung des Schlauchs war ein einziges Feuerwerk: Gravitationsspannungen entluden sich in Strömen exotischer Partikel.
Poole besah sich die Bilder aufs neue, er hielt sie unter die Kabinenbeleuchtung. »Was ist das hier?«
Dzik formte mit den Händen eine Kugel. »Sie wissen, was Baked Alaska ist: ein Ball von hundert Meilen Durchmesser – halb bröckliges Gestein, halb Eis, Spuren von Wasserstoff, Helium und ein paar Kohlenwasserstoffe. Eine Art riesiger Kometenkern. Im Kuiper-Gürtel, knapp hinter dem Orbit von Pluto, zusammen mit wer-weiß-wieviel anderen Objekten seiner Art. Und mit einem Stern durchschnittlicher Helligkeit als Sonne ist Baked Alaska so kalt, daß Helium an seiner Oberfläche kondensiert – zu supraflüssigen[17] Pfützen, die auf der Eiskruste Schlittschuh laufen.
Nach unserer Ankunft haben wir Alaska nicht sonderlich unter die Lupe genommen.« Dzik hob die Schultern. »Uns war klar, sobald wir einmal angefangen hatten, würden wir die Oberfläche sowieso ruinieren …«
Der Bautrupp hatte über die blinde, winzige Welt eine Sintflut aus Wärme und Licht gebracht. Man fühlte sich gleich wie zu Hause; sogar die Rotationsdauer von Alaska entsprach ungefähr einem Erdentag. Der mehr oder weniger zufällig gewählte Landeplatz war der Ausgangspunkt; die Leute schwärmten aus, nahmen Bohrproben, erkundeten, spielten, bauten und schufen die Basis für den künftigen Port Sol. Strukturen aus Eis und flüssigem Helium, die in der lichtlosen Tiefe des äußeren Systems Milliarden von Jahren überdauert hatten, sie zerbröselten, verdampften.
»Dann brachte jemand das hier …«
Dzik blätterte in den Hochglanzfotos, legte eines obenauf. Es zeigte einen Buckel mit acht schlanken Ausläufern auf dem Eis; als liege da ein großes verschneites Rad, von dem man nur die Nabe und die acht Speichen sah. »Ein Mädchen hat diesen Schnappschuß gemacht, sozusagen als Souvenir. Etwas Ungewöhnliches eben. Sie hielt es für eine Art Kristallbildung – wie bei Schneeflocken. Das dachten wir anfangs auch.
Aber dann fanden wir noch mehr von den verdammten Dingern.« Dzik verteilte die Hochglanzfotos auf der Mappe. Alle Gebilde ließen dieselbe achtspeichige Symmetrie erkennen. »Alle«, fuhr er fort, »haben etwa die gleiche Größe – die Spannweite dieser wurzelartigen Rüssel liegt bei zwölf Fuß; der Rumpf in der Mitte ist etwa sechs Fuß hoch. Sie finden sich überall auf Alaska – vornehmlich auf Hügelkämmen, die das Sonnenlicht einfangen. Jedenfalls, bis wir anfingen, da herumzumurksen.« Er blickte Poole an wie jemand, der mit dem Rücken an der Wand steht. »Mike, als ich begriffen habe, was wir da vor uns haben, habe ich die Leute sofort zurückgepfiffen und in die GUT-Schiffe beordert. Wir haben viel Schaden angerichtet, aber – Mike, wer rechnet denn mit sowas? Wir sind Ingenieure und Techniker, keine Biologen.«
Biologen?
»Wir haben sogar eins von den Dingern aufgelasert. Es ist durchsetzt mit haarfeinen Kanälen. Kapillaren. Adern für flüssiges Helium. Supraflüssiges?« Er forschte in Pooles Gesicht. »Begreifen Sie, Mike? Die verdammten Dinger hocken auf den Hügelkämmen, halb im Schatten, halb in der Sonne. Die Sonne bewirkt eine Temperaturdifferenz – winzig zwar, aber groß genug, um supraflüssiges Helium in die Wurzeln zu holen.«
Poole starrte staunend auf die Bilder.
Dzik ließ sich in den Sitz zurückfallen und verschränkte die Finger über dem Bauch; er blickte durchs Fenster in den sprühenden Tunnel aus gedehnter Raumzeit. »Das ist das Ende des Projekts; die Behörden werden nicht zulassen, daß wir weitermachen mit Port Sol. Nicht, solange wir damit die ›Baumstümpfe‹ ausrotten. Andererseits sind die Dinger so verdammt teilnahmslos, so stumpfsinnig. Mike, dieser Wurmloch-Highway hat uns Billionen Dollar gekostet – ein Highway zu einem botanischen Eisgarten. Tourismus wär nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Vielleicht können wir das Wurmloch-Portal zu einem anderen Kuiper-Objekt verlegen; nicht auszudenken, was uns das kosten wird …«
»Wollen Sie sagen, daß diese Dinger hier – daß sie leben?«
Es war, als wolle Dziks Gesicht den entschwundenen Mond ersetzen. »Bingo, Mike«, sagte er wohlwollend. »Sie bestehen aus Eis und Stein, und sie trinken flüssiges Helium. Es sind Pflanzen.«
Die Sonnenwesen jagten über den Himmel. Bildhauer duckte sich flach an den ungewohnten Boden.
Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er angewachsen war und ein Sonnenwesen zu ihm herabstieg. Ob es wehtun würde, wenn ihn die teuflische Hitze des Wesens wegpustete. Würde er überhaupt merken, wenn der verhärtete Körper zu einer Wolke aus Blut und Knochen zerstob?
Er stieß sich von dem zerklüfteten Boden ab. Wie sollte man anwachsen, wenn man nirgends mehr sicher war; das dringende Bedürfnis nach verläßlichen Hügeln mit günstigem Schatten war wie ein wühlender Schmerz. Und so strauchelte Bildhauer 472 mit seinem Volk dahin, auf der Flucht vor den glühenden, unförmigen Fremdlingen.
Er war bereits anderthalb Tage alt. Hatte die Hälfte seines aktiven Lebens bereits hinter sich. Er war niedergeschlagen, beklagte sich bei seinem Vater. Er ließ den Blick über die ungeschlachten, fliehenden Gestalten seines Volkes schweifen und fragte sich, mit wem – auf einer anderen Welt, wo es keine Sonnenwesen gab – er sich gepaart hätte und mit wem er die kurzen, wilden und aufsehenerregenden Ringkämpfe um den besseren Platz zum Anwachsen ausgetragen hätte. Bildhauer war größer, kräftiger und klüger als die meisten. Er hätte kein Problem gehabt, sich den besten Platz zu sichern …
Hätte, hätte. Er war ein Flüchtling unter Flüchtlingen. Er konnte froh sein, wenn er überhaupt einen Platz fand. Er hob die Sprechmembrane gen Himmel und stöhnte. Warum ich? Warum muß meine Generation so leiden?
471 stolperte. Zwei Vorderläufe waren eingeknickt. Er versuchte, die schlenkernden Glieder wieder unter Kontrolle zu bringen, konnte sich aber nicht mehr fangen.
Ein weicher, entsagungsvoller Seufzer, und 471 stürzte schwer zu Boden.
472 eilte ihm zu Hilfe. »Du mußt aufstehen. Bist du krank?« Er packte die erstbesten Glieder und wollte den Gestürzten hinter sich herziehen.
471 lag auf der Seite, seine Struktur litt unter ihrem Gewicht, wurde flachgedrückt. »Laß mich liegen«, sagte er sanft. »Los, lauf weiter, mein Junge! Ist schon gut.«
Die versagende Stimme und das eingefallene Gesicht waren unerträglich für 472. Er schlang die Glieder um seinen Vater und drückte zu, als könne er damit die große, vertrauenerweckende Gestalt, die ihn während der ersten Augenblicke seines Lebens beschirmt hatte –, als könne er sie dadurch wiedererstehen lassen. »Ich kann dich nicht im Stich lassen.«
»Du mußt, das weißt du. Meine Zeit ist gekommen. Ich werde hier anwachsen.«
Bildhauer war entsetzt. »Nicht hier. Nicht jetzt!«
471 seufzte. »Ich spüre, wie meine Gedanken schmelzen. Es ist gar nicht so schlimm, Bildhauer …«
Bildhauer sah sich verzweifelt um. Das Land war flach und hart. Nirgends eine Bodenwelle, kein Schatten. Und so, wie sein Vater dalag, auf der Seite und mit abgespreizten Gliedern, konnte er nicht anwachsen.
Hastig scharrte Bildhauer im Eis. Sein Fleisch bekam Risse, und supraflüssiges Blut zischte aus den Wunden und tünchte die Glieder; doch nicht lange, und er hatte einen flachen Graben ausgeworfen. Er legte die Glieder noch einmal um den regungslosen Rumpf. »Wenn ich dich bloß in den Graben bekomme, vielleicht ist da ein wenig Schatten. Los, Vater, komm!«
Doch 471 reagierte nicht. Während Bildhauer an ihm zerrte, zerbröckelte ein Glied. Die Bruchstücke waren hart.
Bildhauer warf sich über den höckrigen Leib seines Vaters. Erwartete ihn dasselbe Schicksal? Würde auch er zu Fall kommen, um auf diesem abweisenden Boden zu verenden? Betrogen um die Unsterblichkeit des Anwachsens?
Nach einer Weile kletterte er von seinem Vater herunter. Er drückte die Glieder durch und sah sich um. Sein Volk war nur noch ein dunkles Band am Horizont; hier und da im Kielwasser der Flucht waren die stillen dunklen Buckel Gefallener zu erkennen.
Entschlossen wandte er sich ab.
Mit Bewegungen, steif vor Wut und Haß, machte Bildhauer sich auf den Weg – zurück zu den Hügeln seiner Vorfahren.
Das GUT-Schiff stand im Kuiper-Gürtel, fünfzig Meilen vom Portal und hundert Meilen von Baked Alaska entfernt. Poole und Dzik hievten sich an Bord.
Poole schlug eine beklemmende Atmosphäre entgegen. Die Korridore waren überfüllt und stickig; er spürte die Blicke der Crew – die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Dzik hangelte seine Leibesfülle mit der Anmut einer Robbe durchs Schiff. »Nehmen Sie’s nicht persönlich, Bill. Die Leute sind sauer, seit sie zurückgepfiffen wurden; sie hatten sich gerade an die Freiheit des neuen Brückenkopfs gewöhnt.«
»Und man gibt mir die Schuld?«
»Sie sind der große, böse Boss; ein Machtwort von Ihnen, und das Projekt ist gestorben. Vergessen Sie nicht, daß die ein ganzes Jahr damit zugebracht haben, das Portal in dieses Niemandsland zu holen.«
»Sie auch, Bill«, sagte Poole lächelnd. »Und Sie sind nicht sauer auf mich?«
»Nein.« Dzik sah ihn scharf an. »Aber ich beneide Sie auch nicht um ihre Entscheidung, Mike.«
Baked Alaska bestand aus einer Million Kubikmeilen geballten Wassers, das sich um die Lippe des solaren Gravitationstrichters wälzte. Pooles Konsortium hatte das erste Wurmloch-Portal in den Kuiper-Gürtel geschleppt und Alaska mit den fernen, behaglichen Welten des inneren Systems verbunden. Poole hatte die Vision, das eisige Baked Alaska zum Treibstoffdepot für künftige, interstellare Flüge zu machen. Ein Gibraltar, ein Brückenkopf des Sonnensystems, ein Hafen, angeschlossen an ein Netz aus Wurmloch-Adern.
Sie erreichten Dziks Kabine. Die Ausstattung war spartanisch: übergroßer Schlafkokon, Null-g-Dusche, Terminal. Poole atmete auf, als er die Tür hinter sich schließen konnte.
Dzik schnallte sich in den Sitz, die dicken Finger huschten erstaunlich flink über den Desktop-Manager. Als er Zugang zu den Datenbanken des Schiffes hatte, sprangen die Meldungen in der Reihenfolge ihrer Priorität ins Display.
Poole sah sich in der Kabine um, er hatte Lust auf einen Drink.
Eine Minute später lehnte Dzik sich zurück und stieß einen Pfiff aus. »Jetzt haben wir erst recht ein Problem.«
»Weshalb?«
Dzik verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Kurz vor dem Rückzug haben wir noch ein paar Bohrkernproben genommen. Sie sollten Aufschluß über das Ökosystem geben.« Sein Blick kehrte zum Display zurück. »Tja, hier sind die Ergebnisse.«
Das Bild zeigte den vergrößerten Querschnitt eines Bohrkerns von Baked Alaska. Ein Gespinst aus Linien und Flächen, Andeutungen von Strukturen, hervorgerufen durch Kristallisation. Ein unsäglich schönes Bild, das an eine abstrakte Collage aus blauen und weißen Glassplittern erinnerte.
Aber da war noch etwas. Kleine Objekte, dicht und kompakt, die nicht zur übrigen feingesponnenen Textur passen wollten. Poole zog sich näher an das Display heran und besah sich die Objekte genauer.
Da war ein länglicher Quader, offensichtlich aus Stein geschnitten, mit zwei parallelen Reihen unregelmäßig geformter Löcher. Und da etwas wie ein Bilderrahmen, achteckig, leer. Andere Objekte waren nicht so leicht zu beschreiben.
»Jesus, was für ein Schlag«, sagte Dzik. »Jetzt werden wir die Ökologen nie mehr los.«
Poole starrte hingerissen auf das Bild. Artefakte, die tief im Eis überdauert hatten. Da war Intelligenz am Werk gewesen.
Und wieder ging ein halber Tag vorüber. Zwei Drittel seines Lebens waren vorbei. Er spürte die Steife in den Gelenken und die Härte im Gesicht.
Groß, kräftig und ungestüm, wie er war, folgte Bildhauer der Spur aus aufgewühltem Eis und aus mißlungenen Anwachsversuchen zurück in die angestammten Gefilde seiner Väter.
In der bedrückenden Enge des GUT-Schiffes konnte Poole keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte Bill Dzik veranlaßt, ihm ein Einmann-Landeboot auszurüsten; er legte ab und steuerte den eisigen Kadaver von Alaska an.
Das schmucklose Camp der Menschen – das Saatkorn für Port Sol – bestand aus einer Reihe von Metallkästen, die man einfach aufs Eis gesetzt hatte; das Areal war nurmehr eine riesige, schmutzige Matschpfütze. Poole setzte zehn Meilen vom Camp entfernt zur Landung an; unter Alaskas Mikrogravitation legte sich das Boot wie eine Schneeflocke an die Oberfläche.
Eine Bewegung am Horizont, rechterhand.
Er lehnte sich vor. Vielleicht ein Stern, den die träge Rotation von Alaska verschluckt hatte.
Poole saß in der Stille, die Mikrogravitation federleicht in den Gliedern. Das Eis von Baked Alaska lag knochenfahl unter den Sternen, die Spuren der Kohlenwasserstoffe webten ein feines Netz aus satten Purpur- und Blautönen. Die kleine Kabine war still bis auf sein Atmen und das gelegentliche Knarren der Kältekontraktion.
In Wahrheit war die Entscheidung über das Schicksal von Baked Alaska längst gefallen. Pooles Konsortium hatte vorgehabt, eine Wurmloch-Kopfstation in die Sonne zu schicken, um Port Sol mit Fusionswärme und Licht zu tränken. Doch nun würden die Archäologen und Exobiologen kommen und anfangen, diese kleine Welt zu schälen – wie eine Zwiebel.
Poole wußte, daß das richtig war. Aber noch begriff er nicht, was man hier entdeckt hatte, und wie diese kleine Welt funktionierte. Und solange er das nicht begriff, hatte er Hemmungen, seinen Schatz preiszugeben. Einesteils entsprach das durchaus der moralischen Verantwortung, die er für sich reklamierte; doch er mußte auch an das Konsortium denken, an die Zukunft der anderen Projekte, an die Cauchy … und an die schwarzen Zahlen.
Am allerwichtigsten war die Cauchy. Sie sollte eine Wurmloch-Schleife mit einem Durchmesser von mehreren Lichtjahren auslegen und damit eine Brücke schlagen – nicht über den abgrundtiefen Raum – sondern über fünfzehn Jahrhunderte, eine Brücke in die Zukunft. Poole wollte nicht zulassen, daß das Port-Sol-Projekt – und damit das Cauchy-Projekt – durch die Ereignisse vor Ort kompromittiert wurden.
Er öffnete sich den Elementen der Situation und ließ den Gedanken freien Lauf …
Er war genausowenig Biologe wie Bill Dzik. Aber Bill hatte sicher recht damit, daß die Ökologie von Alaska mehr umfaßte als nur diese ›Baumsrümpfe‹. Vielleicht, spekulierte er, waren die Stümpfe eine Art bevorzugte Nutzpflanze gewesen, kultiviert von den Werkzeugmachern. Und vermutlich hatten die Werkzeugmacher die übrige Flora und Fauna dieser winzigen Welt erstickt, genauso wie der Mensch die Mannigfaltigkeit der Erde erstickt hatte.
Aber was war mit den Werkzeugmachern passiert? Wo waren sie geblieben?
Poole sinnierte über die Evolution des Bewußtseins auf dieser öden und isolierten Welt. Das innere Sonnensystem war nurmehr eine trübe Lichtpfütze. Selbst wenn es ungezählte Alaskas gab, so verloren sie sich im Kuiper-Gürtel. Er fröstelte vor Einsamkeit und Kälte. Diese Eiswelt wartete nicht mit Rohstoffen auf … für eine intelligente Spezies wurde sie zur Falle.
Wieder eine Bewegung, draußen rechts. Unmöglich. Doch diesmal war er sicher.
Er drehte langsam den Kopf, die Augen ungläubig geweitet.
Es sah aus wie ein Baumstumpf, ein etwa sechs Fuß hoher Zylinder, der auf steilen Wurzelbeinen schwankte, acht an der Zahl, die Zahl der Spinne. Es kam über den Horizont. Es kam auf ihn zu.
Bildhauer 472 heulte. Das Fleisch schrumpfte von Rumpf und Gliedern; das Blut pulste durch seinen Leib, floh vor der Hitze. Und trotzdem schleppte er sich weiter, näherte sich Schritt um Schritt dem Sonnenwesen.
Das Sonnenwesen war eine kleine, plattgedrückte Dose aus unvorstellbarer Hitze, nicht größer als Bildhauers Rumpf … Eine plattgedrückte Dose. Etwas Gemachtes? Uralte, unvollständige Erinnerungen regten sich am Rande von Bildhauers brodelndem Bewußtsein.
Er hob zwei Glieder über den Kopf. »Macht, daß ihr fortkommt!« kreischte er. »Verlaßt unsere Welt; gebt uns unsere Hügel zurück!« Er dachte an den grausamen, tragischen Sturz seines Vaters, der keine Chance gehabt hatte, anzuwachsen; und der Zorn trieb ihn gegen die Hitze.
Es war ein Ungetüm aus Eis, funkelnd im Sternenlicht, schön trotz seiner bedrohlichen Größe. Poole fragte sich, woher es die Energie nahm, um sich fortzubewegen. Der Hauptkörper war eine aufrechte Walze, oben ringsherum kleine Fenster – nein: das waren Augen mit Eislinsen. Tief im Innern des Körpers schimmerte ein Skelett aus dichterem Eis.
Auf dem kleinen Kontrollfeld des Landebootes blinkte ein Sensor. Das Boot registrierte niederfrequente Strahlung.
Versuchte das Ding, mit ihm zu reden?
… Und dann, mit einem jähen, schrecklichen Verlust an Würde, brach es zusammen.
Nein. Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Mir bleibt noch ein ganzer Tag. Und ich habe mich noch nicht gepaart, geschweige denn Knospen getrieben oder meinen Hügel gefunden …
Aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Seine Glieder begannen zu schmelzen; sein Leib sank zu Boden. Wie eigenständige Kreaturen zappelten die Gliedspitzen auf dem Eis und suchten nach einem Angriffspunkt. Es lag nur an der Hitze; das Blut hatte seine Supraflüssigkeit eingebüßt, und der Leib den Zyklus vorschnell durchlaufen. Nun würde Bildhauer – wie sein Vater – auf diesem kalten, ebenen Boden sterben.
Er versuchte noch einmal, sich zu erheben; doch, wo er seine Glieder hätte spüren müssen, war nichts als Taubheit.
»Es ist ein Baumstumpf!« schrie Poole ins Mikro. »Kapieren Sie denn nicht? Die Werkzeugmacher, das sind die Baumstümpfe! Verdammt, Bill, sehen Sie sich doch die Bilder an! Das sind verschiedene Phasen ein und desselben Zyklus: erst eine agile, intelligente Phase, dann ein Verlust an Mobilität.«
»Schon möglich«, sagte Dzik. »Aber in dem sezierten Baumstumpf war nicht die Spur eines Nervensystems.«
»Also wird das Hirn, das Nervensystem, absorbiert – wenn es nicht mehr gebraucht wird.« Poole entsann sich. »Das Entwicklungsstadium der Seescheide. Ja, das ist es.«
»Der was?«
»Eine exakte Analogie. Die Seescheide sucht sich einen Stein, an dem sie sich für den Rest ihres Lebens festsetzt. Dann hat sie ihre Funktion erfüllt und ihr Hirn löst sich auf und verliert sich im Körper …«
Dzik klang nicht überzeugt. »Aber das waren Werkzeugmacher.«
»Hm.« Poole spähte in den gähnenden Himmel. »Aber wozu soll Intelligenz gut sein – auf so einer Welt? Keine Rohstoffe. Keine verlockenden Ziele. Ein trostlos öder Himmel, an dem sich nichts tut. Unerreichbar … Bill, die haben ihre Werkzeugphase schon vor einer Ewigkeit aufgegeben. Die Intelligenz benutzen die bloß noch, um sich den besten Platz an der Sonne zu ergattern. Hügel, Hanglage, das größte Temperaturgefälle. Vielleicht wetteifern sie. Dann löst sich ihr Bewußtsein auf …«
Doch der reglose Titan, angelockt durch das Landeboot, hatte sich auf einer Ebene niedergelassen. Kein Schatten; sinnlos. Er würde sterben, würde nie das Baumstumpf-Stadium erreichen.
»Mike.« Dziks Stimme knisterte. »Sie haben recht. Wir sind eben dabei, die Fotos noch mal durchzusehen. Es gibt da eine ganze Herde von den Dingern, auf der anderen Seite von Alaska.«
Poole legte die Hände auf die Steuerung. Jetzt kam es darauf an – er war sich nicht sicher, ob er soviel Fingerspitzengefühl hatte. Er entlockte dem Triebwerk einen einzelnen, kurzen Impuls. Das Boot segelte wie auf Engelsschwingen in den Himmel.
Dzik redete noch immer. »Das supraflüssige Helium muß äußerst wichtig sein für die animalische Phase. Suprafluidität hat – mechanisch gesehen – einen eminenten Vorteil; bei Mikrogravitation wären Helium-Pumpen unter Ausnutzung winziger Temperaturdifferenzen tatsächlich in der Lage, ganz schöne Eismassen zu bewegen.« Er lachte. »Tja, ich denke mal, finanziell haben wir ausgesorgt. Das ganze System wird uns die Türe einrennen, um sich das anzusehen – vorausgesetzt, wir können die Ökologie erhalten …«
»Sie sagen es.« Die Korrekturtriebwerke schoben das Boot in eine träge Kreisbahn um den gestürzten Werkzeugmacher; mit fein dosierten Stößen aus dem Haupttriebwerk modellierte Poole das Eis, schmolz Gräben und schob Wälle auf. »Und wenn nicht, lassen wir das verdammte Wurmloch implodieren. Dann denken wir uns eben was andres aus, um die Cauchy zu finanzieren.«
So ging die Debatte eine Zeitlang weiter.
Poole brauchte etwa sechs Durchläufe, bis er mit seiner Arbeit zufrieden war.
Dann, immer noch auf Engelsschwingen, hob er endgültig von Alaska ab.
Die Sonne sank, weil die Welt sich drehte. Ein Schatten fiel über Bildhauer. Das Blut pulste durch seinen Leib. Die Wurzeln kuschelten sich mit frischer Energie an den Boden.
Er wuchs an.
Bildhauer, der sich nicht mehr fortbewegen konnte, starrte auf die Stelle, wo das Sonnenwesen gestanden hatte. Dort war das Eis geschmolzen, aufgewühlt, zusammengeflossen, die Hügel dahinter waren eingeebnet.
Aber den Hügel, der ihm jetzt Schatten bot, den hatte das Sonnenwesen – gebaut. Irgendwie hatte es Bildhauers Not verstanden und ihm geholfen. Inzwischen war es fort, war dahin zurückgekehrt, wo es zu Hause war.
Bildhauers Gedanken wurden vage, träge. Sein Bewußtsein schien sich auszudehnen, als wolle es den langsamen, knirschenden Gang der Welt umfassen, den schwerfälligen Pflanzenpuls seines erstarrenden Körpers.
Sein Name schmolz dahin.
Das Antlitz seines Vaters zerbrach, die Bruchstücke stürzten ins Dunkel.
Schließlich blieb nur noch ein scharfer Zacken von Bewußtsein übrig, ein Splitter von Empfindung, der das flammende Bild des Sonnenwesens aufspießte.
Es war kein Splitter von Haß oder Zorn. Es war ein Splitter von Neid.
Originaltitel: ›THE SUN PERSON‹ • Copyright © 1992 by Stephen Baxter • Erstmals erschienen in ›Interzone‹, März 1993 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Hendrik P. und Marianne Linckens