Ich bin noch nicht geboren;
gib mir Wasser, mich zu schaukeln,
Gras, das für mich wächst,
Bäume, die zu mir sprechen,
den Himmel, der zu mir singt,
Vögel und ein weißes Licht,
das meinen Geist erhellt und leitet.
Louis MacNeice, ›Gebet vor der Geburt‹
Das Westufer des Flusses, so wollten die alten Legenden wissen, war das Ufer des Todes. Dort gingen die Toten zu ihren Gräbern und Grüften zwischen den Sanddünen und den Sonnenuntergängen.
Wie dem auch gewesen sein mochte, eine Barke kam aus dem Dunst näher, der das Westufer verschleierte, und bewegte sich mit gleichmäßiger Zielstrebigkeit zur Mitte des Stroms. Sie war hochgebaut an Bug und Heck. Dort, im Heck, lenkte eine dunkle Gestalt die Barke mittels eines langen Steuerruders.
Die Gestalt war allein an Bord. Zu ihren Füßen standen tönerne Truhen von seltsamer Gestaltung, deren Deckel die Köpfe von Eulen, Wölfen und Katzen nachahmten. Noch seltsamer war die Gestalt des Fährmannes selbst. Er trug einen kurzen Überwurf mit steif gefälteltem Rock, und an seinem Gürtel hing ein Schwert. Seine braunen Arme waren bloß und geschmückt mit verzierten metallenen Armreifen an Handgelenken und Oberarmen. Um seinen Hals lag ein breiter Perlenkragen, und er trug eine dicke blaue Perücke, um zu zeigen, daß seine Fahrt eine Amtshandlung war.
Die Perücke umgab einen schmalen, knochigen Kopf. Die scharf vorspringende Nase des Fährmanns, sein fliehendes Kinn, das schwarze Fell, das sein Gesicht bedeckte, die zwei spitz aufgerichteten Ohren, wachsam aufgestellt gegen die Feluke, der er sich näherte, waren die eines Schakals. Er gehörte nicht der Welt der Männer und Frauen an, obwohl er mit ihnen verkehrte.
Nicht weniger beunruhigend war die unnatürliche Tatsache, daß seine still durch das späte Licht des Sonnenuntergangs gleitende Barke kein Spiegelbild auf das dunkelnde Wasser warf, und keinen Schatten in die Tiefen unter seinem Kiel.
Die Feluke war vom Hotel Assuan Sheraton am Ostufer des Nils abgefahren und kam langsam stromaufwärts voran. Ein leichter Nordwind blähte das Segel. Nicht einer der vierzehn Passagiere an Bord hatte etwas zu sagen, als ob die Feierlichkeit des Sonnenuntergangs auf ihren Gemütern lastete. Alle Blicke waren auf das ferne Westufer gerichtet, während die Sonne tiefer sank, aprikosenfarben im wolkenlosen Himmel. Oscar North saß eingezwängt im Heck der Feluke. Er war durchdrungen vom Bewußtsein der Absonderung. Er kannte keinen der Passagiere an Bord des Bootes, obwohl er wußte, daß sie diese Fahrt wie er vom Landeplatz der riesigen Betonwabe des Luxushotels angetreten hatten, die nun in aschgrauer Ferne hinter ihnen zurückblieb. Das heißt, einen der Fahrgäste hatte er inzwischen wiedererkannt, einen kleinen dünnen Mann mit spärlichem Haar und schweren Augenlidern, mit dem er am vergangenen Tag versehentlich im Foyer des Hotels zusammengeprallt war; dieser Mann wandte jetzt den Kopf und betrachtete North mit einem Blick, als wollte er ein Gespräch anfangen. North wich seinem Blick aus.
North ging auf die Vierzig zu. Er hatte keine Anstrengung gescheut, eine jugendliche Figur zu behalten, und an allen sportlichen Aktivitäten teilgenommen, die von der Abteilung organisiert wurden, in der er beschäftigt war, während er zur gleichen Zeit Abende in feuchtfröhlicher Runde mit Freunden aus dem Büro verbrachte. Die Züge seines breiten, knochigen Gesichts, besonders aber seine engstehenden farblosen Augen, wirkten ziemlich unbedeutend.
In der Personalakte der multinationalen Gesellschaft, für die Oscar North arbeitete, fand sich der negative Hinweis: ›Nicht sehr vielversprechende Herkunft.‹ Eine weitere Bemerkung bestand aus nur einem Wort: ›Konformist.‹
North blickte umher, ohne von dem dünnen Mann Notiz zu nehmen. Auf dem Wasser zu sein, empfand er im allgemeinen als etwas Besonderes, doch heute abend verspürte er nur Unbehagen, als ob dies eine Reise ins Unbekannte wäre, statt eines gewöhnlichen touristischen Ausflugs. Der mächtige Strom schien das Licht in sich zu sammeln, als der Himmel über ihm dunkelte. Schon glitzerten die ersten Sterne, und die schmale Mondsichel schien metallisch herab. Die Gesichter der anderen Fahrgäste verschwammen zu undeutlichen hellen Hecken und wurden anonym. Der dünne Mann beugte sich herüber und tippte mit dem Finger auf Norths Arm.
»Da ist Philae«, sagte er.
Er zeigte in die Fahrtrichtung der Feluke. Seine Stimme klang vertraulich, als ob er sich einbildete, ein Geheimnis mit North zu teilen.
North konnte weiter voraus nichts erkennen als Land und Felsgestein, schwarz vor dem wolkenlosen Abendhimmel. Vereinzelte Palmen ragten wie zornige schwarze Haarknoten in den Abendhimmel. Das leise Rauschen des vorbeistreichenden Wassers an den Bootsplanken konnte beinahe das Geräusch der anbrechenden Nacht sein, die sich über Oberägypten breitete.
Der dünne Mann erhob sich von seinem Platz und zwängte sich trotz der Enge auf die Heckbank neben North.
»Vor fünfzehn Jahren besuchte ich Philae mit meinem Vater. Ich habe es nie vergessen. Es ist zauberhaft, reine Magie – einfach phantastisch.«
Dazu schüttelte er den Kopf wie im Widerspruch zu seinen eigenen Worten.
North war unfähig zu irgendeiner Antwort. Er begriff, daß er verpflichtet war, freundlich zu einem Landsmann zu sein, doch war er hauptsächlich im Urlaub nach Ägypten gefahren, um seinen Landsleuten zu entkommen – auf der Suche nach etwas, das er noch zu entdecken hatte.
Schlimmer war sein Gefühl, daß dieser Kerl ihn verstand, ihn und seine Schwächen. Daher fühlte er sich in die Abwehr gedrängt und war widerwillig, zu sprechen.
Der dünne Mann aber wartete kaum auf eine Antwort, sondern fuhr beinahe ohne Unterbrechung fort: »Wir trafen uns in der Hotelhalle, wenn Sie sich erinnern – Sie hatten Ihre Frau bei sich. Eine gutaussehende Dame, würde ich sagen. Sie begleitet Sie nicht auf diesem Ausflug?«
»Ihr war nicht danach zumute«, sagte North.
»Darf ich fragen, wieso? Es heißt, die neue Darbietung von son et lumière auf Philae sei unübertrefflich.«
Wieder war North zu einer Antwort außerstande. Verärgerung stieg in ihm auf, als er an den heftigen Streit mit seiner Frau im Hotelzimmer dachte, bevor er gegangen war.
»Mein Name ist Jackson, Joe Jackson, und ich komme aus Jacksonville, Florida. Ich bin Leichenbestatter von Beruf, verheiratet, geschieden, drei Kinder, zwei Enkel«, sagte der dünne Mann, hielt ihm die Hand hin und schüttelte den Kopf.
»Oscar North«, sagte North und nahm die dargebotene Hand.
Die beiderseitige Vorstellung schien für Joe Jackson das Signal, die Schleusen seiner Beredsamkeit vollends zu öffnen.
»Es wird Nacht. Die alten Ägypter würden behaupten, daß Ra, der Sonnengott, unter der Welt segele, die Sonne sicher in seinem Boot verstaut … Sie hatten viele seltsame Vorstellungen dieser Art. Aber selbst heute, in diesem Zeitalter des Fortschritts, glauben die Menschen ziemlich seltsame Dinge, auch in den Vereinigten Staaten. Als der Jacksonville Bugle kürzlich eine Umfrage über Ausbildung durchführte, stellte sich heraus, daß zweiundsechzig Prozent der Befragten glauben, die Sonne kreise um die Erde statt umgekehrt …«
»Na ja, die Leute in den Städten …«
Er schüttelte den Kopf. »Das macht keinen Unterschied. Hier haben sie andere Vorstellungen, eine andere Mentalität, wie sie sagen. Es ist ein moslemisches Land. Sind Sie und Ihre schöne Frau schon einmal in Ägypten gewesen?«
»Dies ist das erste Mal, daß ich außerhalb der Vereinigten Staaten und Europas bin. Europa ist ziemlich amerikanisiert – wir besitzen ein gutes Stück davon, wie Sie wissen.« Er lachte unsicher.
»Der Glaube: das ist das Wichtigste im Leben«, sagte Jackson. »Was mich angeht, ich bin ein religiöser Mensch. Es verändert die Betrachtungsweise.«
In Sorge, der Mann sei im Begriff, philosophisch zu werden, sagte North kurz angebunden: »Nun, ich glaube an die protestantische Arbeitsethik.« Er kehrte dem Mann aus Florida die Schulter zu und blickte über das Wasser hinaus.
Es hatte den Anschein gehabt, als sei die Feluke kaum vorwärts gekommen, aber plötzlich tauchten die dunklen Umrisse von Land ganz in der Nähe auf, als der Steuermann den Kurs änderte. Felsen erschienen dicht neben dem Boot, von den ungezählten Überflutungen der Vergangenheit zu elefantenähnlichen Formen geglättet. Die Wirkung war so, daß man glaubte, sich zwischen einem Trupp gewaltiger Tiere an ein Wasserloch zu drängen.
Steinerne Tempel überragten den Mast der Feluke, nur um hinter einem felsigen Vorsprung zu verschwinden. Als das Boot in die Hafenbucht einlief, kam eine Reihe von Fackeln in Sicht, die einen Anlegeplatz und eine breite Treppe dahinter beleuchteten.
Beinahe gleichzeitig erhoben sich die Passagiere im Boot und standen schweigend. Es war ihnen bewußt, daß sie einen Übergang von einer Welt zu einer anderen vollzogen hatten. Dunkelheit hüllte sie ein. Niemand sprach. Paare hielten einander bei den Händen.
Die Besatzung sprang an Land und machte das Boot am Fuß der Stufen fest. Die Passagiere betraten die Insel und begannen den Aufstieg. Die Stufen waren breit und niedrig. Turbantragende Ägypter standen am Rand des Weges und bedeuteten ihnen weiterzugehen. Andere Wasserfahrzeuge kamen aus der Dunkelheit wie Falter zu einer Flamme, eine weitere Bootsladung Touristen betrat Philae mit gespannten und ernsten Gesichtern.
Als sie an Land gingen, versuchte North, sich vor Joe Jackson hinter anderen Passagieren zu verbergen, aber der dünne Mann erschien gleich darauf an seiner Seite. North zeigte keine Reaktion. Er wollte sich ganz und ohne Ablenkung Philae hingeben. Dies war sein letzter Abend in Ägypten.
»Da ich von Beruf Leichenbestatter bin, habe ich das Studium der alten Ägypter zu einer Art Steckenpferd gemacht«, sagte Jackson. »Sie waren ein wundervolles Volk. In der Kunst des Einbalsamierens waren sie unvergleichlich. Unvergleichlich.«
Wieder schüttelte er den Kopf, als wollte er sich selbst Lügen strafen.
»Sie hatten Geheimnisse und Techniken, die uns heute trotz all unserer modernen Fortschritte unbekannt geblieben sind. Manche Fachleute glauben, sie hätten mit Magie gearbeitet. Vielleicht war es so.« Er gluckste. »Natürlich hatten sie Götter und Göttinnen für alles. Ich weiß einiges über sie. Zum Beispiel ist diese Insel Philae der Göttin Isis geweiht, die in dieser Gegend über tausend Jahre lang verehrt wurde … Sie war eine raffinierte Person, wenn man so sagen darf.«
North stieg schweigend die Stufen hinauf.
»Philae ist der Isis geweiht«, wiederholte sich Jackson. »Wahrscheinlich wissen Sie das aus dem Reiseführer. Wie lange sind Sie und Ihre Gattin schon in Assuan?«
»Zwei Tage.«
»Zwei Tage. Ist das alles? Was haben Sie bisher gesehen?«
»Nichts, wir haben uns ausgeruht, Mr. Jackson, haben uns am Beckenrand einen schönen Tag gemacht. Was interessiert es Sie?«
»Sie und Ihre Gemahlin sind am Rand einer wundervollen Welt. Verschwunden und untergegangen, aber auf geheimnisvolle Weise immer noch hier.« Sein Ton ließ erkennen, daß er keinen Anstoß an Norths abweisendem Verhalten nahm; Langweiler und Wichtigtuer können es sich nicht leisten, Anstoß zu nehmen. »Bei Tag liegt Ägypten wie ausgelöscht unter der Sonnenglut. Das Licht ist ganz anders als in Florida. Dann steigt man hinunter in die Dunkelheit der Grabkammern und plötzlich öffnet sich ein wundervolles farbiges Bilderbuch der Vergangenheit. Götter, Göttinnen, Menschen, Tiere, alles. Natürlich sind es keine christlichen Darstellungen, aber sie sind wunderbar. Lassen Sie sich das nicht entgehen.«
»Morgen früh muß ich wieder in Genf sein«, sagte North.
An der niedrigen Wand zu ihrer Linken brannten Fackeln in eisernen Haltern und tauchten die Wasser jenseits davon in stygisches Halbdunkel. Die Besucher waren vom Rest der Welt abgeschnitten. Als sie die Stufen erstiegen, kamen mehrere imponierende Steingebäude in Sicht. Selbst Jackson verstummte. Eine Feierlichkeit ergriff alle Besucher, als ob sie nicht bloß Touristen auf der Suche nach etwas mehr als Sonnenschein und oberflächlicher Zerstreuung wären, sondern Pilger zu einem heiligen Schrein.
Als sie ebenen Boden erreichten, sahen sie mehrere Tempel vor sich, von versteckten Scheinwerfern angestrahlt und aus der Dunkelheit herausgelöst, die Wände geschmückt mit Darstellungen einiger der beliebtesten Götter: Horus, dem Falkenköpfigen, Hathor, Nephthys, der Schwester Isis’, und Isis selbst, schlank und aufrecht, mit entblößten Brüsten. Diese großen Gestalten hielten hier seit mehr als dreitausend Jahren Wache, eingemeißelt in den Stein mit einer Überzeugung, die ihnen Unsterblichkeit zu garantieren schien.
Über den Tempeln war es Nacht geworden. Die silbrig glitzernde Mondsichel stand am schwarzen Himmel, und nur im wolkenlosen Westen blieb ein Streifen altrosa Lichtes, der rasch verblaßte: die Farbe des Bedauerns.
Die Schönheit und Ruhe der Szene vor ihm, die zugleich etwas Tragisches an sich hatte, ließ North innehalten. Er wünschte, er hätte sie ganz für sich, ohne den aufdringlichen Jackson, ohne die anderen Touristen. Morgen hieß es zurück in die Hektik und den Druck des Warentermingeschäfts im Genfer Büro.
Die Versetzung zum Schweizer Büro hatte für den ehrgeizigen Oscar North eine Beförderung bedeutet. Winifred hatte die Gegend von Washington, wo ihre Familie lebte, nur mit größtem Widerwillen verlassen. Seither war es mit ihrer Ehe abwärts gegangen. Vielleicht sollte er zu Isis beten, dachte er unvermittelt, daß die Dinge sich besserten.
In der Menge anonymer Menschen ging er Jackson aus dem Weg. Wärter lenkten den Besucherstrom über eine gepflasterte Fläche. Weitere Feluken trafen am Landeplatz ein, tauchten aus der Dunkelheit auf, entließen weitere Besucher, die zur Schau gekommen waren. North ließ sich von ihrem Strom mitziehen und hielt Ausschau nach einer günstigen Position.
Er fand einen Platz bei der Absperrung, die Zuschauer zurückhalten sollte. Vor ihnen ragte der Tempel der Isis auf, davor eine mächtige Steinsäule aus der Zeit der ptolemäischen Pharaonen. Die zwei Türme waren so angestrahlt, daß die obersten Partien im Halbdunkel lagen, als wollten sie nach den Sternen greifen. North fand zu einem gewissen Maß innerer Ruhe, als er das Schauspiel auf sich wirken ließ; es war ein Gefühl, das er kaum kannte. Er dachte an das ehrwürdige Alter der Bauwerke, ihre massive Festigkeit und Anmut, und daß so viele Generationen von Wallfahrern auf dieser kleinen Nilinsel in der Verehrung der Göttin Frieden gefunden hatten. Noch immer herrschte eine Atmosphäre von Heiligkeit. Die Insel war ganz dem Denkmalschutz gewidmet; niemand lebte hier. Es gab keine Häuser oder Geschäfte, nur die majestätischen Ruinen.
Jackson war wieder an seiner Seite.
»Ich hatte Sie aus den Augen verloren, Mr. North. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich bei Ihnen stehe? Ich bin nicht gern unter all diesen Fremden. Kann sein, daß ich mich als Leichenbestatter mehr an Leute gewöhnt habe, die das Zeitliche gesegnet haben.« Er lachte glucksend und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Es ist ein wunderbarer Ort«, sagte North.
»Wirklich schade, daß Ihre Gattin nicht mitgekommen ist.«
North war nicht bereit, sich in eine Diskussion darüber verwickeln zu lassen, was mit Winifred geschehen war.
Winny und Oscar North kamen vom Schwimmbecken des Hotels herein, suchten ihr Zimmer auf und duschten. Die Hitze draußen war beinahe unerträglich gewesen.
»Laß uns in die Bar gehen und ein paar Gläser trinken«, sagte er beim Haaretrocknen.
»Du hast schon draußen am Schwimmbecken die ganze Zeit getrunken. Hast du noch nicht genug?«
»Du hast ja die ganze Zeit mit dieser Frau geredet, wer immer sie war.«
»Sie ist nett. Sie kommt aus Arizona und bleibt volle zwei Wochen im Hotel. Sie erzählte mir …«
»Sie ist eine Nervensäge.«
»Oscar, du hast überhaupt nicht mit ihr gesprochen. Wie kannst du wissen, wie sie ist? Sie ist gut betucht, das kann ich dir sagen.«
Das Telefon läutete. Er ging rasch hin und nahm den Hörer ab.
Gleich darauf hielt er den Empfängerteil mit der Hand zu und machte ein Gesicht. »Ein Anruf aus Genf. Larry möchte mich sprechen. Kann nichts Gutes sein.«
Winny saß auf einer Sessellehne und zog sich einen Schuh an. Nun warf sie ihn zornig zu Boden. »Nein, nicht Larry. Sag ihm, du bist nicht zu Hause. Sprich nicht mit ihm. Sag ihm, er soll verduften.«
Aber Larry, Norths unmittelbarer Vorgesetzter, war an der Leitung, und Oscar hörte zu und lächelte und sagte: »Nein, ich freue mich, von Ihnen zu hören, Larry. Ganz im Gegenteil, großartig. Wie läuft es in Genf?«
Als er lauschte und seine Miene ernst wurde, ging Winny hinüber und lauschte auch.
»Aber die Armour-Aufstellung ist in Ordnung, Larry. Können Sie das nicht in die Hand nehmen, bis ich nächsten Montag zurück bin? Wir sind nur eine Woche fort.«
»Sie wissen, daß ich in Paris sein muß, Oscar«, sagte Larry beharrlich. »Wenn die falschen Leute von dieser Geschichte hören …«
»Sag ihm, er soll dir den Buckel runterrutschen«, sagte Winny. »Wir sind gerade erst angekommen.«
»Wir sind gerade erst hier angekommen, Larry.«
»Nun, wenn Sie bereit sind, es sausen zu lassen … Das liegt bei Ihnen, Oscar. Sie wissen, was Armour umsetzt.«
»Ich glaube wirklich nicht, daß es so dringend ist, Larry. Sehen Sie, ich meine …«
»Wenn das Ihre Entscheidung ist, Oscar. Natürlich werde ich Schwierigkeiten haben, es morgen in der Besprechung zu erklären …«
»Können Sie ihnen nicht einfach sagen, daß ich Freitag zurück sein werde? Oder angenommen, ich käme Donnerstag zurück? … Mittwoch, dann?«
»Sag ihm, er soll sich den Job hinten reinschieben, Oscar!«
»Das liegt ganz bei Ihnen, Oscar. Ganz bei Ihnen. Ich will Sie nicht unter Druck setzen, aber Sie wissen, wie diese Dinge laufen. Und es ist Ihre Zukunft in der Gesellschaft zu bedenken.«
»Wie wäre es, wenn ich Dienstag zurückkommen würde, Larry?«
»Glauben Sie, Armour würde es verstehen? Ich muß bald zurückrufen. Sie wissen, wie es aussehen wird, wenn ich sage, daß Sie in Urlaub sind und nicht zur Verfügung stehen. Aber das ist allein Ihre Entscheidung, wenn Sie es so spielen wollen.« Larrys Stimme war kalt.
»Mein Gott, sehen Sie, Larry … Okay, ich werde morgen früh einen Rückflug buchen, einverstanden?« Er zwang Ironie in seine Stimme und fragte: »Wird Ihnen das früh genug sein?«
»Ich überlasse es ganz Ihnen, Oscar.« Die Leitung war tot.
North legte den Hörer auf, ohne seine Frau anzusehen.
»Oh, du Arschloch!« kreischte sie. »Du hast alles verdorben.«
Ein schmaler Mond schien auf die Insel Philae herab. Kein Lufthauch regte sich. Der große dunkle Strom umgab die Insel mit seinem Atem, während er von Süden nach Norden das alte Land durchfloß.
Noch immer kamen Touristen von der Anlegestelle herauf. Sie spürten die Trockenheit der Luft. Hier regnete es nie; alles Leben hing vom Fluß ab. Die Vegetation blieb seinen Ufern nahe, ein dünner bestickter Streifen, eingewebt in grenzenlosen Wüstensand. Und Joe Jackson zeigte zu einer der Riesengestalten, die in die Tempelwand gemeißelt waren, und sagte: »Sehen Sie den da? Den Gott mit dem Schakalkopf? Das ist Anubis.«
»Ich glaube, ich habe von ihm gehört«, sagte North. »Was tut er?«
»Anubis ist der Mittler zwischen den Lebenden und den Toten. Er verbindet die sichtbare mit der unsichtbaren Welt. Ein wichtiger Gott. Er hält Gericht und entscheidet, ob Sie die Ewigkeit in den Sommersternen oder im Abgrund verbringen.«
»Er ist furchteinflößend.«
»Ich habe ein besonderes Interesse an Anubis.« Das hastige Kopfschütteln, die nervöse Eigenart zu leugnen, was der Hund gesprochen hatte. »Wissen Sie, er ist auch der Gott der Medizin und der Einbalsamierung. Darum interessiert er mich besonders. Er entnimmt den Toten die Eingeweide und legt sie in Tonkrüge, die oft wie Tiere geformt sind, so daß sie bereit sind, wenn der Verstorbene in der Unterwelt eintrifft. Und was das Eigenartige daran ist … Moment!«
Er unterbrach sich, denn plötzlich drang Musik aus der trockenen Erde, die schrille Musik einer früheren Zeit, Musik von Hitze und Wein und Nacktheit und der Bronzezeit.
Die Beleuchtung der Tempelwände verblaßte, und sie versanken wie Geister in der Dunkelheit. Einen Moment lang herrschte nur die Nacht über viele.
Und der Mond schien herab und lähmte die Insel mit seiner Reinheit.
Dann erwachten farbige Flecken, grün, bronze, orange, und das Spektakel son et lumière begann.
Gemessene Stimmen, männliche und weibliche, in London gemietet, erzählten alte Geschichten von den Göttern und Göttinnen, die einst über die zwei Königreiche Ober- und Unterägypten geherrscht hatten. Von Ra, dem Sonnengott, von seinen Enkeln Geb und Nut, dem Gott der Erde und der Göttin des Himmels, und von ihren Kindern, zu denen Osiris gehörte, der Gott der Toten, und seine Schwester Isis, die später seine Gemahlin wurde. Als die absurde Geschichte ihren Fortgang nahm, öffneten sich neue Bezirke der Tempelanlage, und turbantragende Wärter führten die Besucher weiter, daß sie das nächste Kapitel der Geschichte in einem anderen Raum der heiligen Ruine hörten.
Feierlich zogen die Besucher an einer langen Kolonnade vorüber, deren Säulen Kapitelle trugen, von denen keines den anderen glich. Die Decke war mit Sternen und fliegenden Geiern geschmückt. Zwei Löwen aus Granit bewachten den Eingang zum inneren Tempelkomplex. Im Großen Hof stand das Geburtshaus. Hier wurde dargestellt, wie Isis den Horus gebar. Horus als Falke mit der Doppelkrone, Horus, der von Isis an der Brust genährt wurde. Alle die unheimlichen Nachkommen wurden an den Wänden lebendig, glommen in Bernsteingelb und Stumpflila, erschienen oder verschwanden nach dem Willen des Erzählers.
Und die Geschichte nahm ihren Fortgang. Blutschande, Mord, Verstümmelung, Bruder im Kampf gegen Bruder, eine Feuersbrunst von Todsünden und Ehrgeiz, inszeniert in einer früheren Welt, wo die Schilffelder voll von Wasservögeln waren, die Wälder voll von Hirschen und Leoparden, die Himmel voll von Gänsen und Tauben und die Gedanken der Menschheit voll von dem Glauben an frühere Existenzen, bevor der Intellekt geboren wurde.
Oscar North ging wie in einer Betäubung zwischen Hallen, Heiligtümern, rituellen Darstellungen von Opfergaben an die dunklen Gottheiten, und Geschichten von Überschwemmung und Naturgewalten. Die Hälfte seiner verbliebenen Aufmerksamkeit galt der Aufgabe, Joe Jackson aus dem Weg zu gehen. Die farbigen Scheinwerfer und die turbantragenden Wärter geleiteten die Besucher weiter wie Hunde eine Schafherde. Der Mond schien zwischen den ornamentierten Säulen auf ihn herab und schien Zuflucht vor quälenden Gefühlen zu bieten.
Während er so zwischen Licht und Dunkelheit einherschritt, dem Führungsweg und der Erzählung folgte, ergriff ihn die von unsichtbaren Lippen berichtete Geschichte und erfaßte ihn wie ein alter Glaube. Er war plötzlich erfüllt von dem Verlangen nach der lebendigen Welt, die vor Jahrtausenden verschwunden war, nach dem heißen Sonnenlicht, das einst dieses Volk, die Tiere und Vögel im schmalen Streifen des ägyptischen Lebens beschienen hatte. Wie in seinen Tagen des zwanzigsten Jahrhunderts, hatten die Menschen widersprüchliche Vorstellungen vom Leben nach dem Tode: Manche behaupteten, daß der Tod einen befreie, so daß er für allezeit unter den Sommersternen wohnen werde, andere glaubten, daß der Tod zu einem Grab führte, wo Anubis kommen würde, dunkel und mit dem Kopf des Schakals, um einen in Vorbereitung auf das Gericht wie eine Gurke einzulegen. Und daß dieses Gericht entweder zum Abgrund oder zu einem weiteren Leben führen würde, wo es noch immer Sklaven und tanzende Mädchen und Wein und Wohlgerüche und Land zu pflügen gab.
Mit alledem verglich er seine eigene Existenz, seine Jahre in Büros und Bars und Hochhäusern, seine Gefangenschaft an Schreibtisch und Computer, seine Ängste und Sorgen um Arbeit und Ehe und Einkommen. In seinem Leben hatte es niemals eine Isis gegeben, anmutig und blutdürstig. Er hatte sich den Umständen unterworfen. Glauben hatte es nie gegeben. Nur Furcht und den Wunsch, sich anzupassen.
»Ich glaube, wir kommen jetzt zu Trajans Kiosk«, sagte Jacksons Stimme neben ihm. »Das heißt, wenn ich mich nach all der Zeit recht erinnere. Kommen Sie zum Abendessen, wenn wir wieder im Hotel sind?«
»Mir ist nicht nach Essen zumute«, sagte er.
Seine Gedanken waren in einem quälenden Aufruhr. Er mußte diesem kleinen Mann entkommen. Dann konnte er denken. Vielleicht würde es sogar möglich sein, sein Leben wieder zurechtzurücken.
Als der Besucherstrom nach und nach im mächtigen Rechteck von Trajans Kiosk verschwand, folgte North einem Impuls, schlüpfte davon und verbarg sich hinter einem massiven Granitblock. Schatten hüllten ihn ein. Die Wärter hatten ihn nicht gesehen.
In seinem Versteck konnte er den Fortgang der Erzählung hören. Körperlose Stimmen inszenierten das uralte Drama von Osiris und Isis und dem Tod des Gottes von der Hand seines Bruders.
Er ging im Hotelzimmer hin und her, bekleidet nur mit einem Badetuch, das er um sich gewickelt hatte. Winifred hatte ihm den Rücken zugekehrt und schaute zum Fenster hinaus auf den Nil und die wüstenhafte Einöde jenseits des Westufers.
»Was hätte ich tun sollen? Ich mußte Larry nachgeben. Du weißt, wie diese Kerle mir das Leben schwer machen. Das Genfer Büro ist in dieser Hinsicht schlimmer als Washington. Du weißt das. Außerdem, das Armour-Geschäft …«
»Erzähl mir nicht vom Armour-Geschäft«, sagte sie mit leiser, beherrschter Stimme. »Dies ist nicht das erste Mal, daß du mir so etwas angetan hast.«
»Was willst du damit sagen, dir angetan? Ich habe dir nichts angetan. Es geht darum, was mir angetan worden ist. Glaubst du, ich könne es ändern?«
Er erzählte ihr nie Einzelheiten über seine Arbeit. Entweder wollte Winny es nicht wissen, oder sie verstand die Einzelheiten nicht. Er sah sich genötigt, ihr zu erklären, daß Armour einer seiner heikelsten Kunden war. Die Gesellschaft arbeitete für Armour nicht nur im Warentermingeschäft. Durch Unteragenten exportierte Armour Tausende von Tonnen schwach radioaktiver Abfälle aus den Industrieländern in die Dritte Welt. Nun drohte den Operationen eine Krise. Ein Kunde in einem afrikanischen Land hatte radioaktive Abfallstoffe von einem Subunternehmer Armours gekauft und als Packlage für eine neue Straße durch die Hauptstadt verwendet. Menschen wurden krank. Die lange unterdrückten Tatsachen waren einer deutschen Nachrichtenagentur zugespielt worden.
»Denkst du, das kümmert mich?« unterbrach ihn Winny. »Von mir aus kann ganz Afrika tot umfallen. Was mir an die Nieren geht, ist deine dumme, tolpatschige Art, mit der du gerade unseren Urlaub versaut hast. Warum zeigst du nicht Rückgrat, du Schlappschwanz? Warum sagst du Larry und diesen Armour-Leuten nicht, daß sie dich im Arsch lecken sollen? Wie lange, meinst du, werde ich mir diesen Scheiß noch gefallen lassen?«
Er griff sich in den Nacken, fühlte, wie seine Migräne wieder einsetzte. »Laß mich in Ruhe, ja? Meinst du, es sei meine Schuld? Meinst du, ich sei für diesen Schlamassel verantwortlich?«
Sie wandte sich zu ihm um, blaß und zornig. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Wenn North sich bemühte – was er manchmal am Abend tat, bevor der Schlaf ihn übermannte –, konnte er sich an eine Zeit in Washington erinnern, als Winny nicht ständig gemeckert und mit ihm gezankt hatte. Das hatte sich erst geändert, als er nach Genf versetzt worden war, als die Gehaltserhöhungen seltener geworden waren.
Er hatte sein Bestes getan. Hatte sie zu Wochenendausflügen mit seinen Freunden aus dem Büro mitgenommen, in die Alpen oder nach Hochsavoyen. War auf ihren Wunsch eingegangen, ihre dumme Schwester einzuladen.
Das Prickelnde zwischen ihnen war längst verschwunden. Er unterdrückte das Wissen, daß, was er für sie getan hatte, die Gefälligkeiten und Aufmerksamkeiten, widerwillig geschehen war. Ihre Reaktionen waren konditioniert durch seinen eigenen Mangel an Charme. Aber schließlich konnte er nichts dafür, oder?
Einst hatte Winnys schlafendes Gesicht so süß und friedfertig ausgesehen. Jetzt war es schlaff und hatte einen lustlosen, kalten Ausdruck, den ihre grauen Augen verstärkten. Diesen kalten Ausdruck richtete Winny jetzt auf ihren Mann, als sie in ihrer Schmährede fortfuhr.
»Ich hörte, was Larry sagte. Er sagte, es sei deine Entscheidung. Du hättest ihm sagen können, daß er dir den Buckel hinunterrutschen soll. Du hast wieder die falsche Entscheidung getroffen.«
»Was Larry sagte, war eine Drohung. Verstehst du das denn nicht? Bist du so naiv, oder tust du nur so? Larry ist ein gemeiner Scheißkerl von einem Karrieremacher.«
»Ach, und was bist du? Du hast immer die Gesellschaft an die erste Stelle gesetzt. Du bist ein Lakai, Oscar, nichts anderes, ein … ein Speichellecker! Ich hasse dich, du bist ein Fiesling, ein Arschloch.«
»Sag du nicht Arschloch zu mir! Ich bin stellvertretender Regionaldirektor, und du weißt, wie hart ich gearbeitet habe, um den Posten zu bekommen. Armour ist einer unserer wichtigsten Kunden, und diese Geschichte ist brisant. Wenn es brennt, muß ich zur Stelle sein. So einfach ist das. Was Larry sagt, ist, daß sie ohne mich nicht zurechtkommen. Kannst du das nicht respektieren?«
Sie durchquerte den Raum und konfrontierte ihn wütend. »Siehst du denn nicht, was für ein elendes Leben wir führen? Siehst du es wirklich nicht? Schon vor unserer Heirat hast du alles in diese Gesellschaft gesteckt. Du hast dich abgerackert und Diener gemacht und Kröten geschluckt. Ich habe es gesehen. Ich habe jeden Zoll des Weges verfolgt, den du gegangen bist. Ich habe die Leute gesehen, die du nach Hause brachtest. Du nennst sie Freunde. Ich nenne sie Feinde. Leute, zu denen du nett sein mußtest, Trinker, Tyrannen, Sadisten, denen es schwerfiel, ihre Verachtung für dich zu verbergen, und mich lüstern begafften, während du dich vollaufen ließest, bevor ich das Essen auf den Tisch brachte. O ja, leugne es nicht. Und all diese schwachen Komplimente. Fresien für mich – Gott, wie ich Fresien hasse! All die Zeit, die du aufgewendet hast …«
»Ach, halt’s Maul, ja?« Er kehrte ihr den Rücken und mühte sich in ein frisches Hemd. »Ich muß unseren Lebensunterhalt verdienen. Wenn ich mich vollaufen ließ, war es deine Schuld. Wenn du es fertig gebracht hättest, freundlich zu allen …«
»Freundlich! Freundlich! Hör zu, du bist ungefähr so freundlich wie diese Wand hier!« Winifred hielt unerwartet inne, als ob früherer Ärger wieder in ihr aufwallte und ihr die Kehle zuschnürte. Sie griff sich an den Hals. »Du warst nicht freundlich mit diesen Leuten. Wir haben keine Freunde. Du nennst diesen Larry deinen Freund, aber er macht dich nur fertig. Reitet auf dir herum, wie du auf mir herumreitest. Du holst aus mir heraus, was du kannst, er holt aus dir heraus, was er kann. Es ist das schmutzige System. Was ist mit unserem einzigen geliebten Sohn? Warum, meinst du, lief er mit vierzehn von zu Hause davon? Nur weil du …«
»Halt Alex da raus! Das ist ein wunder Punkt.«
»Natürlich ist es ein wunder Punkt. Alles ist bei dir ein wunder Punkt, weil du nie gelebt hast. Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, ein Arschloch zu sein. Nun tust du es wieder, versaust unsere eine Urlaubswoche in der Sonne. Arschloch!«
Er schlug hart zu. Er spürte, wie die Knöchel seiner aufwärts geschwungenen Rechten ihre Kinnlade trafen und war verblüfft, wie wenig stabil sie war. Sie schien wegzufliegen. Sie fiel über das Bett, stieß die Lampe vom Nachttisch, riß ihren offenen Koffer mit und landete inmitten eines Schauers von Gegenständen am Boden hinter dem Bett.
Stille. North hörte im Nebenzimmer ein Radio spielen.
»Winny?« sagte er.
Stimme des Osiris: »Unser verräterischer Bruder Seth hielt ein üppiges Festmahl für mich, als du fort warst, o göttliche Isis. Mit ihm waren zweiundsiebzig Verschwörer und eine mit ihnen gemeinsame Sache machende Königin von Äthiopien. Wir sangen und tranken, während die Mädchen in ihren durchscheinenden Gewändern tanzten und Sklaven Blumen im Raum verstreuten.«
Stimme des Erzählers: »Osiris war damals König von Ägypten. Im Augenblick seiner Geburt verkündete eine Stimme vom Himmel: ›Der Herr über die ganze Welt ist geboren.‹ Osiris war der erste Mensch, der jemals Wein trank. Damit brachte er etwas Neues in die Welt und zeigte seinem Volk, wie man Reben pflanzte und für das neue Getränk die Trauben kelterte. Er verfeinerte die rauhen Sitten seines Volkes und lehrte es Achtung vor den Göttern, auch gab er ihm Gesetze. Ebenso überredete er den ibisköpfigen Gott Thoth, die Künste zu erfinden, Musik, Bildhauerei, Astronomie und die zugehörige Arithmetik, vor allem aber die Schrift, so daß Weisheit aufgezeichnet werden und von einer Generation zur nächsten gelangen konnte, so wie die Wasser des Nils in weit verzweigte Kanäle geleitet wurden, um entfernte Felder zu bewässern.«
Stimme des Osiris: »Aber mein Bruder Seth war eifersüchtig auf mich und begehrte unsere Schwester Isis zu seiner Frau.«
Stimme der Isis: »Während du in fernen Ländern weiltest, o mein Osiris, ließ Seth eine Truhe von großem Wert machen, reich verziert mit Metallen und Juwelen von den besten Künstlern. Das Innere der Truhe entsprach genau deinen Maßen.«
Stimme des Osiris: »Beim Festmahl verkündete Seth: ›Derjenige, der sich in dieser Truhe niederlegen kann und genau hineinpaßt, ihm will ich die Truhe zum Geschenk machen.‹ Niemand konnte die Truhe gewinnen. Dann forderte mein Bruder mich auf, es zu versuchen. Ich tat es. Die Verschwörer schlugen über müden Deckel zu.«
Stimme der Isis: »O mein König, wie wurdest du gefangen! Flüssiges Blei wurde um die Verschlüsse der Truhe gegossen, so daß du leiden und sterben mußtest. Ich wußte, ohne daß man es mir sagte, daß du von dieser Welt gegangen warst. Seth warf deinen Sarg in den Nil, wo er zur See hinaustrieb und verlorenging. Meine Schwester Nephthys, die Frau Seths, gebar einen kleinen Jungen, den sie verließ. Die Hunde retteten ihn. Weil er den Kopf eines Schakals hatte, nannte ich ihn Anubis und kümmerte mich um ihn. Er wuchs heran und wurde ungestüm und treu und machte sich mit mir auf die Suche nach Osiris’ Leichnam.«
Stimme des Erzählers: »Die Suche der Isis wurde schließlich belohnt, und sie fand die Truhe, manche sagen, im Nildelta, andere behaupten, vor der Küste Syriens. Sie legte den Körper ihres toten Gemahls auf das Deck eines Bootes und segelte im Triumph heim.«
Stimme des Osiris: »So groß war ihre Liebe und ihre Wärme, daß sie mich für kurze Zeit wieder zum Leben erweckte. Ich kehrte zu dieser Welt zurück und war so angerührt von der Schönheit Isis’, als sie sich vor mir entkleidete, daß es mir gelang, sie zu mir zu nehmen und zu schwängern, bevor ich in die Unterwelt zurückkehrte, um dort als Herr über die Toten zu herrschen.«
Stimme der Isis: »So konnte ich die Linie der Götter fortsetzen. Mit Anubis’ Hilfe gebar ich im Frühjahr den Horus, der voll befiedert als ein Vogel meinem Leib entflog. Später sollte Horus seinen Vater rächen.«
Stimme des Erzählers: »Dieser frühe Auferstehungsmythos ist uns aus einer Epoche überliefert, bevor ausgebildete Religionen entstanden, aus den langen goldenen Tagen der Bronzezeit, als die Menschheit noch eins war mit der Natur und sie nicht tyrannisierte. Für ihre Stärke als Frau und Mutter wurde Isis hier auf Philae verehrt, ihrer Insel, die ihrem Namen geweiht war, und hier, an einem Abend wie diesem, können wir uns vorstellen, daß sie noch immer Macht über lebende Menschen und ihre Herzen hat.«
Oscar North spähte über den Granitblock hinweg, der seine Deckung war. Die Menge der Touristen, die an der Lichtschau teilgenommen hatte, war jetzt weit weg. Er sah sie nur noch als eine schwarze Masse, unbedeutend unter den alten Kapitellen und Architraven, eine Herde, die bald wieder ihre Boote besteigen und zu ihren Hotels westlichen Stils zurückkehren würde.
Er würde bleiben.
Morgen mußte er zurückfliegen, zur Arbeit, zu den Geschäftsräumen in Genf. Heute nacht aber würde er hier bleiben und exorzieren, was im Hotelzimmer geschehen war. Wenn er versuchte, seine Gedanken in diese Richtung zu lenken, stieß er auf eine beängstigende Leere. Aber die Insel Philae war ein Heiligtum, wo er imstande sein mochte, wieder zu sich selbst zu finden, bevor er in die Welt des Mammons zurückkehrte. Das Mondlicht auf den alten Tempeln mochte ihn wiederherstellen. Oder die Einsamkeit. Oder Isis. Oder was immer es war, was außer Reichweite und ihm bisher unbekannt geblieben war. Es war in Ordnung für Osiris, aber er, Oscar North, war sein ganzes verdammtes Leben lang in eine Truhe eingesperrt gewesen.
Es sah ihr ähnlich, daß sie sich beklagte. Winifred kam aus einer verhältnismäßig stabilen Familie. Tyrone North, Oscars Vater, hatte es nie länger an einem Arbeitsplatz ausgehalten. Für die Familie hatte es keine Sicherheit gegeben, wenig Erziehung für die Jungen, als sie von einer Großstadt zur anderen gezogen waren. Als Halbwüchsiger war Oscar von daheim weggelaufen, um sich auf eigene Faust durchzuschlagen und Gelegenheiten zu ergreifen, die sich ihm boten. Gewiß, er war bei der Gesellschaft geblieben, und schon vorher hatte er sich in Abendkursen weitergebildet. Hatte etwas aus seinem Leben gemacht. Natürlich hatte er dafür Opfer bringen müssen.
Zu dumm, das mit Alex, ihrem Jungen. Alex war seinem Großvater nachgeschlagen, er war ein Taugenichts, und es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Warum konnte Winny nicht davon aufhören? Nun, so bald würde sie nicht wieder davon anfangen.
Son et lumière ging zu Ende. Musik ertönte, weiße Lampen gingen an. Aus seinem Versteck konnte North sehen, wie die turbantragenden Wärter das Publikum hinunter zum Anlegeplatz dirigierten, wo die Feluken an der Hafenmauer vertäut lagen. Dieser Nervtöter Jackson würde unter ihnen sein.
Leichenbestatter! Was für ein Beruf!
Das Getrappel der Füße entfernte sich und erstarb. Die elektrische Beleuchtung wurde ausgeschaltet.
Mondlicht schien auf North herab. Er blickte zu der silbernen Sichel auf und dankte ihr für ihr Licht. Als kleiner Junge hatte er den Mond gefürchtet, hatte Angst gehabt, daß ihn aus den Schatten, die er warf, Ungeheuer anspringen würden.
Er stand vorsichtig auf und begab sich in den Schutz von Trajans Kiosk. Wahrscheinlich blieb die Insel während der Nacht unbewohnt; es gab keine Häuser und Wohnungen, aber er wußte es nicht mit Bestimmtheit. Sein sehnlicher Wunsch war, hier allein zu sein und mit Isis Zwiesprache zu halten.
Schritte drangen durch die Nachtstille, Sandalen schlappten auf Steinplatten. North stand unbeweglich im Schatten. Er sah eine undeutliche Gestalt mit einer trüben Taschenlampe näherkommen. Sie ging durch die alten Ruinen, passierte ihn auf der anderen Seite der Wand, an der North wartete.
Er zog seine Schuhe aus und folgte dem Mann in einiger Entfernung. Es war ein Ägypter in einer Dschellabah, der im Gehen eine Zigarette rauchte. Wahrscheinlich überprüfte er, daß nach dem Touristenstrom dieses Tages alles in Ordnung war.
Endlich ging der Mann hinunter zum Wasser. Weiter draußen markierten Lichter mit zitternden Spiegelungen die Positionen der Feluken, die ihre Passagiere zurück zu ihren Hotels brachten.
Als Norths Blick über die Boote ging, sah er einen Passagier aufstehen und winken. Es war Jackson. Einen Augenblick dachte North, der Mann habe ihn gesehen, dann aber wurde ihm klar, daß er bloß eine dramatische Geste in die Richtung der Insel gemacht hatte. Es war gut zu wissen, daß er aus dem Weg war.
Eine Frau bemerkte Jacksons Geste und stand auf, ihn zu imitieren. Die Idee war ansteckend. Im Nu standen alle auf und winkten Philae zu, als die Insel in der Stille der Nacht außer Sicht kam. Schafsmäßig.
Desinteressiert an den Mätzchen der Touristen, war der Ägypter die Stufen zum Anlegeplatz hinuntergegangen, wo ein zweiter Mann wartete. Sie sprachen miteinander, und der erste warf seinen Zigarettenstummel in den Nil, wo der winzige Funke sofort erlosch. Nach einer Weile bestiegen die Männer ein kleines Boot, setzten das Segel und kehrten Philae den Rücken.
North war im alleinigen Besitz der Insel.
Er richtete sich auf, hob die Arme und reckte sich.
»Isis!« rief er.
Das Wort hallte von den Steinen wider, verlor sich zwischen den uralten Bauwerken, die klar und geisterhaft unter dem Mond standen. Ein Gefühl von Andacht und Ehrfurcht stellte sich ein. Vorsichtig begann er umherzugehen.
Das Mondlicht regnete herab und balsamierte ihn in Licht. Die Stille der milden Nacht, die alten Steinplatten unter seinen Füßen, das fast unhörbare meditative Murmeln des großen Stroms – dies alles hatte eine verändernde Wirkung auf sein Bewußtsein. Er war nicht mehr er selbst. Er war sensibilisiert für eine Anzahl von Eindrücken, die ihn durchzogen wie eine Brise eine Baumgruppe. Alle Götter und Göttinnen des alten Ägypten wurden möglich, in ihrer Vielfalt, mit ihren menschlichen Fehlern, ihren Streichen, ihrer Anmut. Er fand sich im Einklang mit ihrer Musik.
Da waren sie, flüchtig und schwer zu fassen wie ein Lufthauch, Schönheit, Nacht, Sonnenschein – Leben. Neue Bewußtseinsebenen öffneten sich ihm wie die Aufdeckung einer lange verschlossenen Gruft. Die herkömmliche abendländische Vorstellung von den alten Ägyptern als vom Tode Besessene war falsch; sie waren vom Leben besessen gewesen, das sie unter einem ewig klaren Himmel verbracht hatten, und dieses Leben hatten sie so geliebt, daß sie ein Leben nach dem Tod erfunden hatten, das die Freuden und Freiheiten dieses Daseins so getreulich wie möglich wiedergab, dieses an die Flußoase des Nils gebundenen Daseins, das allzu schnell von der Geburt in den fernen Bergen zum Tod im ebenen Delta dahinfloß.
Das Abendland hatte eine negative Vorstellung daraus gemacht. Es war eine Wunschübertragung. Im Westen war das Leben untergegangen, nicht hier. Im Westen hatte sich das Leben in eine Serie von biologisch nicht abbaubaren Bestandteilen verwandelt. Die Stunden im Büro, die Stunden, die im Berufsverkehr zur und von der Arbeit verbracht wurden, die in negativer Weise mit Klatsch in der Bar des Golfclubs oder vor dem Fernseher verbrachten Stunden. Ein parzelliertes Leben, eingesperrt in Städten, in kleinen Wohneinheiten.
Diese Vorstellungen erstanden wortlos in seinen Gedanken und verblüfften ihn.
Winny hatte recht. Er hatte sie nie geliebt. Oder er hatte keine Möglichkeit gefunden, seine Liebe auszudrücken.
Aber irgendwo am Saum seines Bewußtseins war immer das Wissen um die Wüste und den Fluß des Lebens gewesen, der sie durchströmte, um Leben, das in den Sümpfen brütete und am Himmel seine Kreise zog. Beinahe in Reichweite. Nur nicht für ihn.
Und diese absurde Vielfalt von Göttern – vielleicht glaubte dieses verschwundene Volk nicht an Leben mit einem großen L. Die Menschen hatten bloß gelebt, ohne die Abstraktion des Lebens zu kennen, und die Vielzahl der Götter spiegelte diese menschliche Unmittelbarkeit wider. Eine Fruchtbarkeit von Wesen! Um wieviel wünschenswerter als ein freudloser Monotheismus!
Dies alles ergoß sich in Norths Bewußtsein.
Statt ihn in Verzweiflung zu stürzen, brachte es ihm Freude. Freude, daß er endlich, wenn auch spät – wenn auch zu spät – eine geheime Wirklichkeit berührt und etwas gefunden hatte, was er sich zu eigen machen konnte.
»Isis!« rief er. »Wo bist du? Komm hervor!«
Er war auf ihrer Insel. Dieser Augenblick im Mondschein enthielt die Gesamtheit seines imaginativen Lebens. Sie erweiterte sich, die Welt zu umfassen.
Er war überwältigt – oder nicht überwältigt, weil er nicht er selbst war.
Bis auf das ferne Bellen eines Hundes und das leise Glucksen und Murmeln des Flusses war die Nacht vollkommen still.
North durchwanderte in einer Trance sein neu gefundenes Territorium, aus Schatten in Helligkeit, aus Helligkeit in Schatten. Seine Insel war ein bloßer Trittstein zwischen den beiden Ufern des Nils, hundertfünfzig Meter lang und vierhundertfünfzig Meter breit. Er machte einen Rundgang durch die hallenden Tempel und kam wieder zum Landeplatz.
Als er dort die zum Wasser hinabführenden Stufen betrachtete, dunkel im Mondlicht, glitt eine Barke geräuschlos zum Anlegeplatz. Sie führte ein schwarzes Segel, das der einzige Insasse des Bootes fachmännisch einholte. Gleich darauf ging er an Land und stieg ohne Aufenthalt die Stufen hinauf zu North.
North wich zurück, doch gelang es ihm nicht mehr, der Entdeckung zu entgehen. Die Gestalt winkte ihm.
Mit einem an Übelkeit grenzenden Zittern, das seinen ganzen Körper durchlief, nahm er die Seltsamkeit des Ankömmlings wahr. Dieser hatte kleine und schwarze Augen. Er trug eine weiße Tunika mit Armbändern an Handgelenken und Oberarmen. Und er hatte den Kopf eines Schakals. Seine gespitzten Ohren zeigten wachsam auf North.
»Ich will dich, Oscar«, sagte Anubis.
Nachdem der letzte Gegenstand aus Winifreds Koffer zu Boden gefallen war, herrschte vollkommene Stille im Zimmer. Von Oscar Norths Standort gesehen, war der Körper seiner Frau hinter dem Bett außer Sicht.
Er blieb, wo er war, gekleidet nur in Hemd und Badetuch. Nach ein paar Augenblicken begann sie schwache krabbelnde Geräusche zu machen. Sein Mund war trocken. Er tappte ins Bad, goß sich Mineralwasser aus ihrer Flasche in ein Glas und trank. Dann zog er eine lange Hose an.
Winifred setzte sich benommen auf und betupfte ihren Mund, der blutete.
»Vielleicht wird dich das lehren, mich nicht unflätig zu beschimpfen«, sagte er. »Halt in Zukunft einfach die Klappe.«
Sie sagte nichts.
Er spürte den Drang, den Streit fortzuführen. »Ich möchte so wenig wie du nach Genf zurück. Es ist einfach etwas, das ich tun muß, das weißt du.«
Sie sagte mit undeutlicher Stimme: »Ich komme nicht mit dir zurück, du Scheißkerl.«
Er ging hinüber zu ihr und nahm eine drohende Haltung an. »O doch, du wirst. Laß uns nicht wieder damit anfangen. Du weißt, wir hatten diesen Streit schon, als wir von Washington wegzogen. Du wolltest nicht nach Europa.«
Er nahm einen albernen Tonfall an, um ihre Haltung zu karikieren. »Du wolltest nicht nach Genf. Du hattest Angst, die Terroristen könnten uns erwischen. Du hattest Angst, die Kommunisten könnten uns ans Leder gehen. Du hattest Angst – Gott allein weiß, wovor du nicht Angst hattest. Tatsache ist, daß unser Lebensstandard sich gebessert hat, seit wir die Staaten verließen – nicht zu reden von meinem Gehalt. Dafür muß ein Preis bezahlt werden, und wir müssen Realisten sein und ihn bezahlen. Deshalb werden wir morgen zurückfliegen, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Nun steh auf und zieh dich an. Mach voran!«
Sie antwortete nicht. Sie zog die bloßen Knie an und legte den Kopf darauf, so daß ihr strähnig gefärbtes blondes Haar nach vorn fiel.
»Komm schon, Winny«, sagte er, freundlicher jetzt. »Ich habe dir nicht weh getan.«
»Du hast mich verletzt«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Du hast mich immer verletzt. Dir liegt kein bißchen an mir, genauso wenig wie dir an Alex lag. Du hörtest sogar auf, so zu tun, als ob dir an mir läge, und das tut auch weh.«
Sie begann zu weinen.
»Ach du lieber Gott«, sagte er.
Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen und drohte ihr mit allem möglichen, wenn sie sich nicht zusammenreißen würde, drohte ihr, sie allein zurückzulassen – »allein in Ägypten«, wie er es ausdrückte.
»Du wolltest nicht in die Schweiz, weil sie nicht Amerika war. Als ich diese Chance eines Winterurlaubs ergriff, wolltest du nicht nach Ägypten, weil es nicht die Schweiz war. Was, zum Teufel, willst du eigentlich?«
»Ich möchte gefragt werden, verdammt noch mal! Ich möchte Teil deines Lebens sein!«
»Oh, du bist Teil meines Lebens, und nicht zu knapp«, sagte er sarkastisch. »Du bist mein Anker – der Teil, der mich hinunterzieht.«
Winny blickte auf, gespenstisch, Blut um den Mund, das Gesicht bleich, wie ein gequältes Tier.
»Willst du nicht wenigstens Erbarmen zeigen? Glaubst du, es macht mir Freude, so elend zu sein? Ich ziehe dich nicht hinunter. Du warst unten. Du bist niemals aus dem Slum-Milieu deiner Kindheit herausgewachsen, aus dem Schatten deines Vaters, der ein Versager war. Versuch über deinen Horizont hinauszusehen.«
»Das mußt gerade du sagen! Verzogener Balg, Papas kleines Mädchen! Ständig rufst du ihn an, den alten Furzer. Er vergiftet dich gegen mich. Er sagt dir, daß du keinem meiner Kumpel trauen sollst. Er …«
»Ach ja, und wann hast du jemals eine von meinen Freundinnen gemocht?«
Darin hatte sie recht. Sie mochte seine Freunde nicht, er konnte ihre Freundinnen nicht leiden. Er stopfte sein Hemd in die Hose und wandte sich ab.
»Steh auf und fang an zu packen, und komm mir nicht in die Quere.«
Mit leiser, ruhiger Stimme sagte sie: »Ich komme nicht mit dir zurück. Das sagte ich schon. Ich habe genug.«
»Du wirst mitkommen, und wenn ich dich bei den Haaren ins Flugzeug schleifen muß.« Er wandte sich wieder zu ihr um, das Gesicht eine häßliche Grimasse. Sie richtete sich hinter dem Bett kniend auf, die Ellbogen aufgestützt, und zielte mit einem Revolver auf ihn. Sie umklammerte die Waffe mit beiden Händen, um ihr Zittern zu beherrschen.
»Du wirst mich nicht mehr anrühren, du Scheißkerl. Bleib mir vom Leibe!«
Er erkannte die Waffe sofort. Es war ein kleiner Revolver mit Griffschalen aus Perlmutt, den ihr Vater ihr vor ein paar Jahren geschenkt hatte – ihr Vater, groß im Elektronikgeschäft, der sich einbildete, er habe enge Bindungen an den Alten Westen, Aufkäufer von Ferienranchen und Remington-Gemälden. Winny hatte darauf bestanden, die Waffe nach Europa mitzunehmen; »um mich zu schützen«, hatte sie gesagt, als sie zuerst darüber gestritten hatten. Er hatte keine Ahnung, daß sie den Revolver nach Ägypten mitgenommen hatte.
»Was fällt dir ein, mit diesem Ding auf mich zu zielen, du kleines Luder!«
»Ich schieße!« schrie sie, als er auf sie zustürzte. Beinahe gleichzeitig ging der Revolver los.
Er blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen, hob beide Hände an die Brust.
»Mein Gott, Win«, sagte er, »ich liebe dich …«
Es war erstaunlich, wie manche Menschen nicht verstanden.
Als die Steinplatte angehoben wurde, erschien ein schwarzes Rechteck in der mondbeschienenen Fläche. Stufen führten hinunter in die steinerne Nacht. Von unten drang das Geräusch fließenden Wassers herauf, und ein Modergeruch.
Anubis hatte auf geheimnisvolle Weise Gefolgsleute um sich gesammelt, menschlich von Gestalt, mit leeren Gesichtern, weißen Augen. Einer von ihnen trat näher und hielt einen großen konkaven Schild aus polierter Bronze. Diesen stellte er so auf, daß er Mondlicht in die Öffnung reflektierte und ein Stück der Treppe beleuchtete.
Der schakalköpfige Gott bedeutete North vorauszugehen. Zögernd betrat North die erste Stufe, aber dann trugen seine Beine ihn beinahe mechanisch hinunter in die Tiefe. Er hörte Anubis hinter sich gehen, sah seinen Schatten mit den spitzen Ohren auf den Stufen vor sich.
Das geisterhafte, reflektierte Licht reichte tiefer als vermutet in die Dunkelheit hinab. Sie erreichten einen Treppenabsatz und einen Knick in der Steintreppe. Dort stand ein weiterer Sklave mit einem Schild. Er warf das gespiegelte Mondlicht auf die neue Treppenflucht, so daß sie weiter hinabsteigen konnten.
Sie erreichten einen Kai, wo ein hölzernes Boot mit Seilen an in die Steine eingelassene Ringe gebunden war und sie erwartete. Eine starke Strömung bewegte das Boot hin und her. Halbnackte Ruderer grüßten den dunklen Gott mit erhobener Hand, als er über die schmale Laufplanke schritt. North, der ihm folgte, sah zum erstenmal den Schwanz des Anubis, der sich unter seinem Rock hervorkrümmte. Der Anblick ängstigte ihn schrecklich.
Obwohl ein weiterer Sklave mit einem brünierten Schild am Kai aufgestellt war, gab es wenig Licht, in dem sie sehen konnten, als das Boot abstieß – es war die bloße Ahnung eines Lichtscheins. North vermutete, daß die glitzernden schwarzen Augen des Schakalgottes alles sahen.
Das Boot glitt in die Strömung hinaus. Die Ruderer legten sich angestrengt ins Zeug, der Steuermann gab mit lauter Stimme den Schlag an, und sie nahmen Kurs auf das westliche Ufer.
Wasser rauschte gurgelnd vorbei. Die Decke über dem unterirdischen Fluß war mit goldenen Sternen und Reihen von Pavianen bemalt.
Nach langem Kampf gegen die Strömung langten sie an einem Landeplatz an und gingen von Bord. Norths Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah immense Kolonnaden mit eindrucksvollen Gebäuden, Säulen mit eingeschnittenen hieroglyphischen Inschriften. Menschen bewegten sich dort wie Schatten, stumm auf bloßen Füßen. Keine Musik erklang, weder Sonne noch Mond schien; nur eine Ahnung von Licht wurde von Schilden reflektiert, die Sklaven am Kai entlangtrugen. Jeder dieser Männer sah seinem Nachbarn sehr ähnlich und war durch eine Bronzekette wie eine grotesk verlängerte Christbaumdekoration an ihn gekettet.
Anubis ging voran, ohne sich umzusehen. North fühlte sich hin und her gerissen zwischen der Furcht, ihm zu folgen, und der Furcht, seinen einzigen Führer in dieser Nekropole zu verlieren. Es blieb ihm nichts übrig, als der kräftigen Gestalt mit dem langen buschigen Schwanz zu folgen.
Jenseits der eindrucksvollen Fassade der Kolonnaden waren weniger majestätische Gebäude. Diese wurden bald von elenden Lehmhütten abgelöst, deren fensterlose Öffnungen in die Straße gähnten, Rechtecke tieferer Finsternis in der allgemeinen Dunkelheit. Sie waren unordentlich mit Palmwedeln gedeckt. North fühlte sich an die Dörfer erinnert, durch die sie außerhalb von Assuan gefahren waren. Sie kamen zu Feldern, wo braune halbnackte Arbeiter mit Handsicheln Getreide ernteten. Er hatte gesehen, daß das Getreide spärlich und dünn wuchs, die Ähren welk und verkümmert waren. Ein zweirädriger Wagen rumpelte vorbei, aber das Zugpferd war ein skeletthaftes Tier ohne Augen. Über ihnen waren Tauben; ihre Flügel waren dünn wie Papier, und er sah, daß sie in Wirklichkeit bloße Papyrustauben waren, die von einer gemalten Decke herabhingen und Wirklichkeit simulieren sollten. Als sie eine Wegkreuzung erreichten, stand dort ein Fellache bei einem Feuer, aber die Flammen waren bloße Geisterflammen, wie Elmsfeuer. Der Fellache selbst sah mumifiziert aus, mit welken und eingefallenen Zügen.
Der Boden unter den Füßen war trocken, und Staubwolken erhoben sich um ihre Füße, als sie dahingingen. Von nahen Palmen rieselte Staub hernieder.
»Wo sind wir?« rief er in seiner ängstlichen Spannung.
Anubis antwortete nicht, schritt unbeirrbar weiter.
Aber North kam eine Antwort auf seine eigene Frage in den Sinn. Götter wurden vom religiösen Glauben erhalten. Der Glaube war ihr Lebenssaft. Ohne ihn welkten sie wie Vampire ohne Blut. Er kam aus einem Amerika, wo der offizielle Gott, der christliche Gott, unter vielen Formen von Unglauben, darunter Wissenschaft und Kapitalismus, dahinwelkte. Sogar die Allmacht hatte ausgedient. Die großartige, gedeihende Welt des Glaubens im alten Ägypten hatte von vielen Jahrhunderten der Verehrung durch Priester und Gemeinden zehren können. Schließlich aber war dieser Glaube – wie alle Glaubensformen – gleich einer langsam zurückweichenden Tide ausgegangen, unter anderem besiegt durch das Christentum.
Nur auf der Insel Philae konnten die alten Götter noch Nahrung finden, und vielleicht auch dort nur im Licht des Mondes oder der künstlichen Beleuchtung des son et lumière. Allmählich mußte das große, von Ra, dem Sonnengott, Osiris und Isis betriebene Kaufhaus schließen. Es zeigte nur noch zweitklassige Waren in den Auslagen. Seine Pacht war abgelaufen.
Er bedauerte es.
Er wußte, was zu dieser Situation geführt hatte. Geschichte. Technologische Entwicklung. Der Druck des sogenannten Fortschritts, dieses trügerischsten Wortes im Wörterbuch. Veränderung. Einfach Veränderung. Die alte Ordnung änderte sich, machte der neuen Platz. Er war ein Kind der neuen Ordnung an diesem alten Ort.
Sie waren an einem scheunenartigen Gebäude mit einer roh gezimmerten, eckigen Tür angelangt.
»Die Halle des Gerichts«, verkündete Anubis.
Der schakalköpfige Gott blickte zurück, streckte den Arm aus und ergriff Oscar North bei der Hand. Dieser fühlte die Umklammerung der trockenen harten Finger als einen psychischen Schock. Anubis zog ihn in das Gebäude.
Isis war dort.
Man brauchte ihm nicht zu sagen, wer sie war.
Sie war zierlich, jung, ewig, unvergleichlich. Sie wenigstens hatte in ihrem Heiligtum auf Philae noch immer psychische Energie und konnte Licht erzeugen. Das Innere des Gebäudes schimmerte von ihrer Vitalität.
Sie war dunkel, schlank, groß, beeindruckend – und doch zugänglich. Ihre großen Augen waren mit Kohle schwarz umrandet. Ihr gehörte das Auge, das große Auge des Lebens. Auf ihrem Kopf trug sie, als wäre sie Teil ihres Schädels, eine Krone aus den Hörnern Hathors, mit einer Sonnenscheibe zwischen den Hörnern. Von der Sonnenscheibe und ihrem ganzen Körper strömte Licht, und alles Schlechte wurde von ihrer Sandale in den Staub getreten. Eine goldene Kobra züngelte als Zeichen der Macht von ihrer Stirn.
Ein einfaches weißes Schlauchkleid bedeckte ihren Körper. Ein Diadem aus grünem Malachit schmückte ihre Perücke, die mit Bienenwachs und Harz überzogen war. Armbänder und Fußreifen von ähnlichem Stein schmückten ihre Gliedmaßen. In einer Hand trug sie ein ankh als Symbol des Lebens.
Anubis erhob die Hände in symbolischem Gruß. North sank auf die Knie. Starker Blütenduft ging von der Göttin aus, erregend und beruhigend zugleich.
Sie sah North nicht einmal an, sondern wechselte nur ein paar Worte mit Anubis, der North mit einem kraftvollen Ruck aufhob und wieder auf die Beine stellte.
Die Art und Weise, wie ihr Blick so demütigend von ihm abglitt, brachte Norths Gedanken wieder auf Winny. Am Ende hatte auch sie ihn nicht ansehen wollen – bis sie mit dem Revolver zielen mußte.
Und sie hätte seine persönliche Isis sein können, seine strahlende und kraftvolle Frau. Statt dessen hatte er sie herabgesetzt, indem er anderswo Macht gesucht hatte, in den klimatisierten Büros der multinationalen Konzerne. Sie hatte sich von ihm eine Erkältung geholt. Er hatte Winny noch gründlicher ruiniert als er sich selbst entmenschlicht hatte …
Diese verspäteten Einsichten verschwanden, sobald sie aufdämmerten, hinausgespült durch die Strahlungskraft, die von Isis ausging.
Da er nur für die glänzende Gestalt der Göttin Augen gehabt hatte, begriff North erst verspätet, daß der Raum, in dem sie sich befanden, gedrängt voll von Gestalten war, die in geheimnisvollen Geschäften kamen und gingen. Viele hatten menschliche Körper mit Tierköpfen. Diejenigen mit der höchsten Autorität, die oft Sklaven befehligten, waren am meisten Tier. Sie trugen auffallende Tuniken mit dem ägyptischen Rock und waren wie Anubis mit Perücken aus verfilztem blauem Haar ausgestattet, das ihnen schwer auf die Schultern hing.
Einige dieser furchteinflößenden Wesen umstanden einen gewaltigen Tisch, dessen Enden in Voluten eingerollt waren. Auf dem Tisch fand eine grauenhafte chirurgische Operation statt, ausgeführt von einem Wesen mit dem Kopf eines Krokodils. Der Anblick dieses Geschöpfes, das einer koordinierten und nicht unkomplizierten Tätigkeit nachging, tatsächlich sogar ein großes Skalpell schwang, brachte North zu Bewußtsein, wie tief er im Mythos gefangen war. Hier in diesem Kerker des Lebens waren die Hieroglyphen von menschlichem Interesse: Er war Zeuge dessen, was einmal eine selbstgenügsame Weltsicht gewesen war, welche sich die Wünsche und Qualen einer Gattung zu eigen machte, die aus dem Tier hervorgegangen war und Erklärungen für die wundervolle natürliche Welt suchte, in der sie sich sah, mit ihren Wassern, ihrer Vegetation, ihren Tieren, Stürmen und Abfolgen von Tagen und Nächten, beherrscht von Sonne, Mond und Sternen.
Als Anubis ihn näher zum Operationstisch zog, sah er, daß ein Mann in der Kleidung eines Kriegers auf dem Tisch lag. Er trug noch immer einen Helm von grimmigem Aussehen, und einen Körperpanzer sowie Beinschienen aus Flechtwerk. Dem Krokodilsmenschen gegenüber stand eine bedrohliche Frau über den Liegenden gebeugt, ganz in Rot gekleidet, sehr breit und mit mächtigen Armen. Sie hatte den Kopf einer Löwin, den sie träge in Norths Richtung drehte. Nachdem sie ihn mit einem Blick gemustert hatte, wandte sie den Kopf wieder dem Krieger zu. North erkannte sie aus dem Reiseführer, in dem er während des Herfluges von Genf gelesen hatte. Dies war Sekhmet, die Kriegsgöttin, berühmt für Gewalt und Kraft.
Sie beugte sich über den Operationstisch und verfolgte schnurrend, wie der Krieger von der Kehle bis zum Unterleib aufgeschnitten wurde. Der Krokodilskopf mit seinen Assistenten öffnete den Mann wie ein Buch. Rippenknochen knarrten. Der Krieger lag mit offenen Augen, starrte ins Nichts. Sekhmet schnurrte tiefer.
Krüge mit Spezereien wurden herbeigetragen, dazu Rollen von Leinenstoff und lebende Schlangen, denen das Gift abgezapft werden sollte. Eine Einbalsamierung fand statt, und alle Beteiligten arbeiteten daran mit routinierter Umsicht und Schnelligkeit.
North hatte wenig Zeit, sich diesem beängstigenden Anblick zu widmen, denn er wurde weitergezogen zu zwei riesigen Waagschalen, für die Anubis starkes Interesse zeigte. Er ließ North stehen, um eine Wiegezeremonie, mit der offensichtlich auf seine Ankunft gewartet worden war, genauer in Augenschein zu nehmen.
Kleine Männer mit Wolfs- und Hundeköpfen, gekleidet in grünleinene Tuniken, machten ein Aufhebens um die Waagschalen. Über ihnen ragte der verantwortliche Gott – Thoth, der Schreiber, der Ibisköpfige, dessen Augen schwarz und berechnend über dem langen gelben Schnabel glitzerten. Thoth trug eine dicke gelbe Perücke, gekrönt von einer Mondsichel, aus der Licht hervorbrach.
Thoth und Anubis konferierten miteinander. Die Stimme des ersteren war hell und zögernd, die des Anubis guttural, knurrend und schnell.
Während sie sich besprachen, wurde die Seele des toten Kriegers in einer kleinen roten Vase zur Waage gebracht. Sie sollte auf eine der Bronzeschalen gelegt werden, während eine Feder von einer Wildgans auf die andere kam.
Dies war die Zeremonie des Gerichts. So wurde der Krieger beurteilt nach dem, ob sein Leben gut oder böse gewesen war. Die Waagschalen entschieden, ob ihm erlaubt würde, die Glückseligkeit der Sommersterne zu erlangen, oder ob er in die Regionen der Unterwelt steigen mußte.
Dies alles verstand North. Es wurde vor seinen Augen inszeniert. Und in dem großen Raum warteten weitere Krieger, der Oberwelt der Lebenden entfremdet, und harrten der Einbalsamierung und des Gerichts. Ihre Gesichter waren grau und blutig. Sie standen auf ihren toten Füßen, gehorsam dem Gesetz der Unterwelt.
North war nicht gehorsam. Er war ein Bürger der Vereinigten Staaten. Er hatte kein Verlangen, sich diesem beunruhigenden Verfahren zu unterziehen.
Anubis hatte ihm den Rücken zugekehrt und untersuchte die Waagschalen.
North ergriff die Flucht und rannte zur nächsten Tür.
Ein metallischer Ton wie ein Beckenschlag gellte in seinem Kopf. Aus den Augenwinkeln sah er die rotgekleidete Sekhmet vom Operationstisch fortspringen und mit der ganzen Energie einer Löwin ihm nachsetzen.
Isis aber kam ihr zuvor. Isis die Schöne und Schreckliche, Mutter und Zerstörerin.
Es schien, daß sie nur eine Hand in Norths Richtung erhob. Er sah die Bewegung durch den Hinterkopf. Ihre leuchtende Ausstrahlung verstärkte sich.
Er kroch an einem grasbewachsenen Ufer. Sie stand lächelnd auf ihm, holte mit einem großen Schwert aus.
Er versuchte den Nil zu durchschwimmen. Sie saß rittlings auf einem Krokodil und näherte sich ihm schnell.
Er flog auf weißen Schwingen. Sie ritt einen Adler und schoß goldene Pfeile auf ihn.
Er lag rücklings auf dem Steinboden, gelähmt. Isis hatte sich bereits abgewandt. Zwei Diener hoben ihn auf und trugen ihn zum Operationstisch, von dem der Leichnam des Kriegers, nun mit Leinenbandagen umwickelt, gehoben wurde. Er konnte nicht denken. Ein winziger Mond brannte in seinem Schädel. Er konnte es sehen, konnte deutlich Hieroglyphen sehen, die an den Innenwänden seines Schädels aufgereiht waren, obwohl er ihre Bedeutung nicht verstand.
Als er unter den Säulenreihen ging, auf weichen Sohlen die ungezählten Stufen erstieg, war ihm auch bewußt, daß Anubis’ große dunkle Gestalt über ihm aufragte, als wollte sie ihn in Stücke reißen. Es schien ihm kein Widerspruch zu sein, daß er gleichzeitig die vielen Stufen im Innern seines Schädels erstieg, in seine Abteilungen blickte, und auch auf dem Operationstisch lag. In dem Licht, das Isis ausstrahlte, blitzte ein Skalpell.
»Zuerst etwas zu trinken für dich«, sagte Anubis.
Er hielt North einen beschlagenen Becher hin, der ein paar Fingerbreit mit dunkler Flüssigkeit gefüllt war. North konnte nicht widerstehen, nahm den Becher und schluckte. Es war eine bittere Medizin, die nach Holzrauch und Kräutern schmeckte.
Er trug eine Löwenmaske und tanzte. Die Papyrusstauden tanzten auch. Die Musik ist schrill, mit Flöten und Zupfinstrumenten. Das ganze Dorf tanzt um mich. Dieses Jahr ist ein Jahr der Fülle. Das Vieh ist fett, es wird geschmaust.
Er raste in seinem zweirädrigen Kriegswagen dahin, die Wüste heiß um ihn. Voraus das Wasserloch. Die Erregung der Jagd. Hunde neben den Rädern, japsend beim Anblick der Antilope. Pfeile fliegen, die Sonne blutet. Aber mit Netzen fangen wir eine Antilope lebendig. Er hält das in Todesangst wild blickende Tier. Er umarmt es, küßt ihm die schäumenden Nüstern.
Er war in der kühlen Flut, floh hierhin und dorthin, ein Fisch. Die alljährliche Überschwemmung. Funkelndes Flachwasser, dann Schlamm. Größere Fische voraus.
Dann war er ein anderer Fisch, zahm. Er schwamm in einem Becken auf dem Tisch des Hohenpriesters herum. Jeden Tag Anrufungen, Gebete. Der große, hallende Tempel. Er konnte Sonnenfinsternisse voraussagen.
Er stapft durch das schlammige Feld, sein Ochse zieht vor ihm den Pflug. Fliegen, die Höhlung seines Magens. Er ist der halbnackte Fellache. Jeden Tag vor Morgengrauen auf den Beinen. Die Schlange in der Asche des Herdfeuers.
Ich bin es, Hathor, der nach der Göttin benannte Ochse, damit ich stark sein und den ganzen Tag arbeiten soll. Bald Futter und Schatten und der vertraute Gestank der Hütte. Meine Schultern ächzen. Beherrsche ich die Sonne? Sie folgt mir, wo ich gehe.
Er sehnt sich wieder nach den Sümpfen. Er ist der zahme Gänserich. Hier kommt mein Besitzer, mich zu füttern, nur … Als er den Kopf aus dem Korb steckt, sieht er das Messer in der Hand des Besitzers, glänzend wie eine Schnitte der Abendsonne.
Er kämpft und windet sich unter seinen Halluzinationen. Einen Augenblick ist er der Gemahl der Isis, der mit ihr auf einem goldenen Schal liegt. Leuchtende Lippen, die Geheimnisse einer Göttin, die einen Sterblichen blenden. Sirupgeschmack, überwältigende Umarmungen, ein Wigwam aus Haar. Freude und ein Aufwärtsgleiten, Quell der Fröhlichkeit und allen gelebten Lebens. Eine Million Geburten, die ihrer Vereinigung entspringen. Genius, Triumph, die Sterne wirbeln in einem gewaltigen süßen Sturm. Das Glitzern des Dolches.
Und die ganze Zeit eilten die kleinen dunklen Leute die Stufen seines Gehirns auf und ab, leerten alles aus, trugen es fort. Die ganze Burg entblößt, wehrlos, leer. Die Läden werden geschlossen, das Licht wird ausgesperrt.
Jemand mit einem Falkenkopf half ihm vom Tisch; ein anderer Krieger nahm seinen Platz ein. Sein Verstand war noch verwirrt von der Anästhesie, die Anubis ihm verabfolgt hatte. Er war hohl, gebrechlich.
Es war unmöglich zu bemerken, was geschah.
Offenbar war er nun wieder in einem Boot. Es hatte einen hohen, gekrümmten Bug wie der Schnabel eines Vogels, und glitt rasch über das Wasser. Das Wasser war vielleicht der Nil, oder vielleicht jener andere dunkle Fluß, der irgendwo tief unter dem Nil dahinströmt.
Anubis sagte ihm, daß seine Seele die Prüfung nicht bestanden habe. Er sei nicht für die Sommersterne bestimmt. Dies sei das Urteil.
»Was dann?« fragte North.
»Du gehst zum Abgrund.«
»Ist der Abgrund sehr schlimm? Sag es mir.«
Anubis nickte mit dem Schakalkopf.
»Es ist der Ort, wohin die Verdammten gehen.«
Er war von dem Getränk, das man ihm gegeben hatte, noch immer halb von Sinnen. Es schien, daß er das Knarren von Rudern hörte, rrrarrrk, rrrarrrk, rrrarrrk, oder vielleicht war es seine Wirbelsäule, als er sich abmühte, eine sitzende Haltung einzunehmen.
»Meine Seele war zu schwer mit Sünde beladen?« fragte er.
Der schakalköpfige Gott antwortete nicht, vielleicht, weil keine Antwort nötig war, vielleicht, weil sie sich rasch einem Landeplatz näherten.
Sein Geräuschempfinden war gestört. Was er zuerst für das Rauschen eines Wasserfalls gehalten hatte, erwies sich als Harfenmusik, gespielt von einer blinden Harfenistin, die mit dem Rücken am Schiffsmast saß. Sie spielte ohne Unterbrechung weiter, als sie am Kai anlegten.
»Hinaus mit dir«, sagte Anubis. »Und nimm diese mit dir.«
North blickte in Verwirrung um sich. Das Licht war eigentümlich und durchdrang die Gebäude, als ob sie durchscheinend wären; doch schien ihm, es sei denn, er bildete es sich ein, daß er wieder im Sheraton-Hotel war. Es ragte über ihnen auf. Er konnte den Eckbalkon des Zimmers sehen, das er mit Winny teilte.
Geistesabwesend nahm er die Gegenstände an, die Anubis ihm gab.
»Ras Sonnenboot wird bald den Osthimmel erreichen«, sagte der Gott. Vielleicht war es eine Abschiedsformel, obwohl das fellbedeckte Gesicht seinen ernsten Ausdruck nicht veränderte. Er winkte seinen Ruderern, und das Boot steuerte wieder in den Fluß hinaus.
Halb betäubt blickte Oscar North auf die Gegenstände, die er erhalten hatte.
Eine kleine rote Glasvase, in der seine Seele flatterte. Ein Tongefäß mit einem Deckel, der die Form eines Katzenkopfes hatte, schwer zu halten, weil er seine konservierten Eingeweide enthielt, die er im Abgrund sicherlich benötigen würde.
Und eine Rückflugkarte nach Genf.
Schon drang das Boot in die Nebel ein, die über dem Schiffahrtskanal des Flusses lagen. Im Heck stand eine dunkle Gestalt mit einem Schakalskopf, der das Boot mit einem langen Steuerruder lenkte. Er war nicht von der Welt der Männer und Frauen, obwohl er mit ihnen Umgang hatte.
Seine Barke spiegelte sich nicht im Wasser des Stroms, und warf keinen Schatten in die liefen unter ihrem Kiel.
Und die Stimme der Harfenistin drang schwach zu North herüber, der verloren am Ufer stand:
»Und bist du auch im Reich der Geister,
Gefangen von dem, was am meisten du glaubst,
So wirst du doch die Sonne sehen,
Und den Mond, der dich mahnt an der Wahrheit Licht …«
Originaltitel: ›NORTH OF THE ABYSS‹ • Copyright © 1989 by Brian W. Aldiss • Erstmals erschienen in ›The Magazine of Fantasy and Science Fiction‹, Oktober 1989 • Mit freundlicher Genehmigung des Autors und Thomas Schlück, Literarische Agentur, Garbsen • Copyright © 1996 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München • Aus dem Englischen übersetzt von Walter Brumm • Illustriert von Ingo Wiegand