Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic.[5]
- Arthur C. Clarke
Der Minutenzeiger kroch auf die Null zu, während der Stundenzeiger kurz vor der Dreizehn lauerte.
Alyssa konnte sich kaum noch auf ihre Arbeit konzentrieren, immer wieder haschte ihr Blick nach der Uhr in der Bildschirmecke. Der Sekundenzeiger überholte den Minutenzeiger, doch dieser sprang ihm nach, und gleichzeitig erreichten beide die Null; die Uhr schlug, der Sekundenzeiger lief weiter, während sein größerer Bruder sich ausruhte.
Mittwoch, dreizehn Uhr: Feierabend, Wochenende.
Alyssa beendete die Sitzung, dehnte und reckte sich. Die zwölf Wochenarbeitsstunden gingen nicht mehr so spurlos an ihr vorüber wie früher. Auf dem Terminal meldete die Kücheneinheit, daß das Mittagessen fertig war.
Sie stand auf und schlenderte ins Wohneßzimmer, wo die Vorspeise, ein grüner Salat mit Rapunzeln, Kresse und Keimlingen, bereits auf dem Tisch stand. Sie hatte der Küche die Wahl überlassen, aß lustlos und abwesend; sie war nicht wirklich hungrig.
Das Telefon läutete. »Ja?« sagte Alyssa; Alexander erschien auf dem Bildschirm.
Er nickte grüßend. »Entschuldige, du ißt gerade? Ich habe nicht daran gedacht, daß bei euch erst Mittag ist.«
»Wo bist du? Noch in Wagga Wagga?«
»Nein, nein, in Wollongong. Ein Computerfehler in der Bahnleitzentrale hat ganz New South Wales lahmgelegt. Ich werde frühestens in einer Stunde in Sydney sein, dann bin ich gegen 19:00 Uhr MEZ in Frankfurt.«
»Schade, so spät erst.«
Alexander hob bedauernd die Schultern. »Leider, leider. Noch dazu wird dann für mein Zeitgefühl gerade die Morgendämmerung anbrechen. Nichts zu machen. Bis heute abend, Schatz. Und viel Spaß in Fancy.«
»Wer sagt denn, daß ich nach Fancy gehe?«
»Gehst du nicht, jetzt, wo du die Temps hast?«
»Sicher. Bis bald, und komm gut an.« Alyssa warf ihm eine Kußhand zu, und der Schirm zeigte wieder eine Rousseausche Dschungellandschaft.
Sie schluckte den letzten Bissen der gebackenen Bananen, kratzte ein paar Buchweizenreste zusammen, stand vom Eßtisch auf und ging ins Schlafzimmer.
Auf dem Boden lagen immer noch die alten Databoots und -gloves, die Eyephones, die dem Träger ein bewegtes Stereobild vermittelten, und doch nur noch Spielzeug waren, jetzt, wo sie die Tempatches hatte, funkelnd, glänzend neu. Erst dreimal hatte sie damit Fancy besucht.
Sie machte es sich auf dem Wasserbett bequem und stülpte die Klammer über den Kopf. Die kühlen Kontaktplättchen legten sich an ihre Schläfen, Alphawellen drangen in ihr Gehirn, der Raum um sie verblaßte, und Alyssa wurde Gwendolyn.
Prinzessin Gwendolyns Zimmer war groß und hell, die weichen Teppiche auf dem Boden und an den Wänden leuchteten in bunten Farben. Es wimmelte auf ihnen von Phantasietieren; Gwendolyn mochte einen ganz besonders, auf dem nur schwarz-weiße Fabelwesen abgebildet waren: brütende Skunks; karottenkauende Pandas; ein Pinguinschwarm am Himmel; Zebras, die sich faul auf dicken Ästen räkelten; Elstern, die nach Schwertfischen tauchten; Weißkopfadler und wundertätige Nonnen.
Gwendolyn betrachtete sich in einem Spiegel, der fast eine ganze Wand ausfüllte. Sie war jung, keine zwanzig, nicht einmal halb so alt wie Alyssa. Ein Diadem aus Silber und Saphiren krönte ihr ebenholzschwarzes Haar, das sanft geschwungen über ihre bloßen Schultern floß. Das ebenso dunkle Kleid, besetzt mit Lapislazuli, von den Hüften bis zum bodenberührenden Saum glockenförmig aufgeplustert, pompöse Puffärmel, mit Goldfäden durchwirkter Tüll und scharlachrote Schleppe waren ihrer Stellung durchaus angemessen, doch bestenfalls bei offiziellen Anlässen zu tragen. Rasch entledigte sie sich, ohne eine ihrer Zofen zu bemühen, ihrer Kleidung und ihres Schmucks, und legte ein zweckmäßigeres Wams, Beinkleider und Gamaschen an, die so stark mit Indigo gefärbt waren, daß sie fast schwarz wirkten wie der Burnus eines Targi. Nicht, daß Tuareg hierhergehörten.
»Auf geht’s!« rief sie fröhlich und gab Fips, dem blauen Zierdrachen, der auf seiner Stange saß und vergnügt vor sich hin quietschte, einen Wink.
»O, oh!« antwortete Fips. »Das wird böse enden. Böse enden.« Doch gehorsam faltete das Drächlein seine rosa Fledermausflügel auseinander, flatterte durchs Zimmer und landete elegant auf Gwendolyns Schulter.
Gwendolyn öffnete die schwere Eichentür und stürmte die Wendeltreppe hinab. Nur wenige Fackeln vor rußgeschwärztem Gemäuer beleuchteten die Stiegen, doch selbst in finsterster Nacht wäre Gwendolyn nicht langsamer gewesen. »O, oh!« rief Fips und klammerte sich mit seinen winzigen Vorderpfoten in ihrem Haar fest.
»Sattle Er Grobian!« gebot sie, bei den Stallungen angekommen, und kurz darauf führte der Stallmeister, der sich wieder und wieder verbeugte, so daß er an ein pickendes Huhn erinnerte, Grobian, den anthrazitgrauen Lieblingsreitdrachen der Prinzessin, am Zügel heraus.
»Hör Er auf mit diesen albernen Verrenkungen, und mach Er, daß Er vorankommt!«
Grobian war tumb und plump, doch kräftig und ausdauernd, wie geschaffen für lange Reisen. Er grunzte in Erwartung des bevorstehenden Abenteuers.
»Jemine!« seufzte Fips. »Da können wir uns wieder auf etwas gefaßt machen, was, alter Junge?« Er flatterte nervös von Gwendolyns Schulter und vor ihrem Gesicht auf und ab. »König Pippin, König Pippin hat gesagt …«
Sie schwang sich in den Sattel. »Papperlapapp! Mein Vater ist vor Monaten nach Vanity gereist, um König Balthasar zu besuchen. Willst du mir wieder meinen Ausflug verleiden, kleiner Angstdrache?«
»Ich mein’ ja nur, ich mein’ ja nur. Tsk, tsk, das wird böse enden.«
Mit rasselnden Ketten hob sich das Fallgitter. Grobians Krallen kratzten über die hölzerne Zugbrücke, ein paar Hausdrachen, die am Burggraben weideten, trotteten gemächlich beiseite, als das schwere Tier durch ihre Herde fegte und in einer Staubwolke davonstob.
»Wohin soll’s diesmal gehn, wohin?« fragte Fips.
»Nun«, antwortete Gwendolyn nachdenklich. »Reichskristallwald, Immermeer und Nimmermeer im Westen habe ich bereits gesehen; die Eisriesen im Norden können mir auch geraume Zeit gestohlen bleiben; im Osten gibt es nur Berge, Trümmer und Geröll – also, auf nach Süden!«
»Nach Süden«, quietschte Fips. »Das wird böse enden.«
»Schnickschnack!« Gwendolyn setzte sich im Sattel zurecht. Grobian fiel in einen fast gemächlichen Trab.
»Menü«, gebot sie, und augenblicklich erschien vor ihr in der Luft eine Schrift aus loderndem Feuer. »Was nehmen wir diesmal?« fragte sie und fuhr mit der Hand durch die Flammen. Die Schrift veränderte sich. »Wald, das kann nie schaden.« Das Wort brannte heller. »Eine Fee hätte ich gern.« Auch dieses Wort leuchtete auf. »Orte … ›Meer der vergessenen Gedanken‹? Das klingt hübsch. Flüssiges Gestein? Fein. Was ist das: Feuer, Wasser, Erde, Luft und Quintessenz? Meinetwegen, wir werden sehen. Zufallsfaktor – sagen wir null Komma vier.«
»Oje, nicht so hoch, nicht so hoch! Das ist viel zu gefährlich.«
»Ach was, Humbug! Wenn alles so klar voraussehbar ist, wird es doch langweilig. – Menü Ende, Zeitraffer!« Die Flammenschrift erlosch, und sofort raste die Landschaft an ihnen vorbei, der Wind peitschte ihnen ins Gesicht, fahnengleich wehte Gwendolyns Haar, Grobians Beine verschmolzen zu unscharfen Farbflecken, die Wolken am rosa Himmel türmten sich auf und stürzten wieder in sich zusammen, die Sonne glitt übers Firmament, verschwand hinter dem westlichen Horizont, die Sterne erschienen, die drei Monde eilten der Sonne hinterher; das Universum schien sich um sie zu drehen, Sonne und Monde jagten einander wie verspielte junge Kollerkobolde. Tag und Nacht vergingen wie im Flug. »Normalgeschwindigkeit«, befahl Gwendolyn. Wenn sie die Sonnenaufgänge richtig gezählt hatte, dann hatten sie sieben Tagesreisen hinter sich gebracht.
Gerade erreichten sie den Rand eines Walds. Die Bäume standen hier nicht sehr dicht, und sie ritten hinein.
»Oha!« rief Fips. »In Wäldern lauert die Gefahr!«
»Hunger!« grunzte Grobian.
»Ein Weilchen noch, Vielfraß.«
Grobian trabte unlustig weiter. Als sie zu einem Bach kamen, folgten sie ihm bis zur Quelle. Der Bach entsprang inmitten einer kleinen Lichtung. Gwendolyn saß ab, und Grobian machte sich augenblicklich daran, Gras zu rupfen. Glitzernd und funkelnd brach sich das Sonnenlicht im Wasser, das geschwätzig plätscherte und gluckste. Nymphen zirpten, irgendwo hämmerte eine Sylphide, Blumenelfen sangen. Gwendolyn glaubte, leises Truthahnkollern zu hören, doch sie wußte, daß es Gobblehobgoblins waren.
Sie schöpfte etwas Wasser und trank. Fips sprang von ihrer Schulter, tauchte in die Quelle und planschte prustend und spritzend darin herum.
»O, oh.« Der Drache rührte sich nicht mehr, wie festgefroren starrte er blaßblau vor Schreck auf etwas hinter Gwendolyn.
»Was hast du nun schon wieder?« Sie wandte sich um.
Grobian graste, als sei nichts geschehen. Doch neben ihm stand ein eigenartiges Wesen. Wie Nebel sah es aus, doch zugleich lebendig. Augen, Nase, ein Mund waren zu erkennen, auch wenn die Schwaden unruhig waberten.
»Wer bist du?« fragte Gwendolyn.
Eine süßliche Stimme ertönte: »Siehst du das nicht? Ich bin eine Fee, n’est-ce pas?«
»Eine so merkwürdige Fee, verzeih, ist mir noch nie begegnet.«
»Alors, eigentlich bin ich Gynäkologin.« Die Fee wogte hin und her.
»Wie bitte?« Natürlich waren nicht alle Wesen in Fancy simuliert, viele wirkliche Menschen hielten sich hier in unterschiedlichsten Gestalten auf, verbunden über das Netz. Doch es war unmöglich, zu entscheiden, wer von draußen kam, das machte gerade den Reiz aus. Fips und Grobian waren Gwendolyns Geschöpfe, alles andere, Menschen, Tiere, Feen, ja selbst Bäume und Büsche, konnten virtuelle Entitäten von Personen sein. Solch eine ernüchternde Bemerkung verstieß eindeutig gegen die Netiquette.
»Ich sagte: Schön, daß du hier bist, Gwendolyn, ma chère.«
Das hatte sie gewiß nicht gesagt, aber Gwendolyn ließ es dabei bewenden; Fips, der selbst Teil dieses Trugbilds war, ignorierte solche Vorkommnisse selbstverständlich, da sie nicht zu Fancy gehörten.
»Woher kennst du meinen Namen?« fragte Gwendolyn.
»La belle affaire! Ich kenne alle Namen. Wenn du gestattest, werde ich dir drei Fragen stellen. Als Lohn winkt, so du sie richtig beantworten kannst, je ein weißmagisches Accessoire. Bist du bereit?«
»O, oh. Ich trau’ der Sache nicht, ich trau’ ihr nicht.«
»Willst du wohl still sein! – Aber ja, frag nur, ich habe dabei schließlich nichts zu verlieren, oder?«
»Mais non!« Die Nebelgestalt schwebte zu einem nahen Baum und winkte Gwendolyn, ihr zu folgen.
»Nun zieh an einem dieser Fäden, s’il te plaît.«
Von einem Ast hingen Hunderte von Spinnfäden. Gwendolyn wählte einen aus und zupfte daran. Augenblicklich huschte eine Christspinne an ihm herab. Statt des Kreuzes trug sie auf dem Rücken ein Zeichen, das wie ein winziges W aussah.
»M«, sagte die Fee. »Très bien. Die erste Frage lautet: Was bedeutet ›Mäeutik‹?«
Gwendolyn lachte innerlich, bemüht, ihre Lippen ruhig zu halten. Mit dem Thesaurusimplantat in ihrem Kopf waren solche Rätsel gewiß kein Problem. Sie schloß die Augen und las vor: »Die Mäeutik ist ein Lehrverfahren des Sokrates, durch geschicktes Fragen auf die Lösung des Problems hinzuführen.«
»Ah, oui! Hier ist dein erster Preis.« Ein Teil des Feennebels waberte deutend in Richtung eines flachen Steins. Eine Wolke von Glitzerstaub wirbelte darüber, verdichtete sich, bis dort schließlich eine Feder lag. »Diese Kakadufeder.«
»Kakadu?« quietschte Fips auf Gwendolyns Schulter. »Herrje, Ammenmärchen. Kakadus gibt es nicht.«
»Mon dieu! Diese Feder, wenn du sie fallen läßt, verleiht dir die Gabe zu fliegen. Dazu sag folgenden Zauberspruch auf:
Garan, Vege, Sabo, Sor,
Resul, Hauptquar, Imi, Por,
Respek, Vorda, Exis, Arre,
spannen wir vor unsre Karre.
Dreizehn, fünef, sieben, vier,
jedes -tier ist ein Pläsier;
Ampu, Mon, Jus, No und Dik,
bringen uns jedoch kein Glück.
Murmel aber, Maul und Schnabel
sie gehörn ins Reich der Fabel.«
»Herrjemine, wenn wir das nur nicht übersetzen müssen. Fliegen, das ist doch nichts Besonderes, nichts Besonderes.«
»Schscht! – Ist dieser Spruch wirklich notwendig?«
»Non. Ich dachte nur, das macht es etwas interessanter. Du kannst auch ein wenig Latein versuchen. Doch nie darfst du den gleichen Zauber erneut gebrauchen – bis repetita non placent. Bist du bereit, die zweite Frage zu beantworten? Pardon, ich vergaß, wenn du die rechte Antwort nicht weißt, verlierst du die Flugfeder wieder.«
»So ist das! Was ist der zweite Preis?«
»C’est une surprise.«
»Na schön. Ich wag’s.«
»Tu’s nicht, tu’s nicht!«
»Alors, die zweite Frage: Was ist der Malleus maleficarum?«
Gwendolyn tat, als müßte sie darüber nachdenken. »Der Hexenhammer«, antwortete sie. Dazu gab es einen Querverweis mit einem ellenlangen Eintrag, den sie größtenteils übersprang: »Der von den dominikanischen Inquisitoren Sprenger und Institoris verfaßte Kommentar zur Hexenbulle Papst Innozenz’ VIII. zur systematischen Verfolgung von Hexen.«
Die Fee nickte. »Der zweite Preis, voilà.« Auf dem flachen Stein neben der Feder entstanden wie aus sprühenden Wunderkerzen zwei Glasfläschchen. »Du trinkst jenes, welches leichtes Wasser enthält, aus. Das aber, welches schweres Wasser enthält, schüttest du in einen Fluß oder See, und schon bist du in der Lage, übers Wasser zu gehen, ganz wie über feste Erde.«
»Wozu das, wenn du fliegen kannst«, flüsterte Fips, »wozu?«
»Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker«, bemerkte die Fee. Gwendolyn sah sie scharf an.
»Frage drei, so du bereit bist, und die beiden ersten Accessoires aufs Spiel setzt.«
»O, oh. Ich sag nichts, ich sag nichts.«
»Nur zu.«
»Diese Aufgabe besteht aus zwei Teilen. Erstens: Was ist ein magisches Quadrat?«
»Ein magisches Quadrat, auch Hexeneinmaleins genannt, ist ein Quadrat, das schachbrettartig in Zahlenfelder eingeteilt ist, deren Summe waagrecht, senkrecht und diagonal gleich ist«, sagte Gwendolyn. Sie überflog den Text, der vor ihrem inneren Auge vorüberzog. »Zunächst in China, etwa das Saturnsiegel.« Sie nahm einen Zweig, kratzte ein paar Linien in den Sand und kopierte das magische Quadrat aus dem Thesaurus:
»Später beispielsweise in Dürers Melancolia.« Sie fuhr fort, in den Sand zu schreiben:
»Excellent! Das ist fast schon der zweite Teil der Aufgabe: gib mir ein magisches Quadrat der Ordnung Sieben!«
Gwendolyn wischte ihre Zeichnung aus. Ein so großes Quadrat war in ihrem Thesaurus nicht angegeben. Sie schloß die Augen. War nun alles verloren? Doch sie hatte Glück: für ungerade Zahlen war ein Verfahren angegeben. Sie zeichnete ein Quadrat in den Sand und unterteilte es in 49 Felder. »Wir beginnen in der Mitte der ersten Zeile«, sagte sie und trug an der genannten Stelle eine Eins ein. »Falls die gerade bearbeitete Zahl durch – hm, sieben – teilbar ist, ist im darunterliegenden Feld, sonst im rechts darüber liegenden fortzufahren.« Sie bewegte den Zweig nach rechts oben – außerhalb des Quadrats. »Nanu? Oh, falls die erste Zeile oder die letzte Spalte überschritten wird, ist im gegenüberliegenden Feld fortzufahren.« Sie schrieb eine Zwei ins fünfte Feld der letzten Zeile, eine Drei und Vier jeweils rechts darüber, die Fünf ins mittlere Feld der ersten Spalte, die Sechs und die Sieben jeweils rechts darüber, die Acht unter die Sieben, und so fuhr sie fort, bis das magische Quadrat vollständig war:
Auf diese einfache Methode reduziert, hatte das magische Quadrat absolut nichts mehr Magisches an sich. »Die Summe in jeder Zeile, Spalte und den beiden Diagonalen beträgt …«, sagte sie prahlerisch und murmelte vor sich hin: »Sieben mal – 49 plus eins, fünfzig – dreihundertfünfzig, durch zwei …« Mit fester Stimme fuhr sie fort: »Einhundertfünfundsiebzig.«
»Ah, c’est ça!« Neben der Feder und den Arzneifläschchen erschien inmitten funkelnder Sternchen eine Lupe. »Betrachte dich durch dieses Vergrößerungsglas, sag einen passenden Zauberspruch dazu auf, und du wächst und wächst und wächst. Adieu.« Die Fee verblaßte, ihr nebelhafter Leib wurde noch vager, löste sich auf. Tausende von Christspinnen, die allesamt ein M auf dem Rücken trugen, fielen vom Baum wie reifes Obst und wuselten in alle Richtungen davon.
Gwendolyn spürte, daß sie tatsächlich durstig war. »Pause!« sagte sie. Der Wald um sie herum verschwand, sie lag auf ihrem Bett.
Alyssa nahm die Klammer ab und ließ die Küche einen Fruchtsaft aus Äpfeln, Orangen und Kiwis zubereiten. Am Terminal las sie die eingegangene Post, während sie trank. Den Großteil überflog und archivierte sie, eine Nachricht markierte sie als ungelesen, um sie später zu beantworten. Dann schlenderte sie zurück ins Schlafzimmer, stellte das Glas ab, legte sich hin und setzte die Klammer wieder auf.
Zurück auf der Lichtung, ging Gwendolyn zu Grobian, der noch immer fraß – Grasbüschel hingen links und rechts aus seinem Maul, während der Unterkiefer geräuschvoll auf und ab mahlte –, verstaute Feder, Fläschchen und Vergrößerungsglas in der Satteltasche, saß auf und ritt weiter.
Rasch brach die Nacht herein. Als sie ein Licht entdeckte, stieg sie ab und schlich vorsichtig näher. Sie fand einen Jägersmann an seinem Lagerfeuer. Es roch nach gebratenem Fleisch. An einem einfachen Spieß, der über zwei in die Erde gebohrten Astgabeln lag, röstete der gehäutete Kadaver eines Gobblehobgoblin. Der Kobold hatte ausgekollert. Mit einem Messer, dessen Griff aus Drachenhorn gefertigt war, schnitt der Jäger große Stücke vom Fleisch. Zischend tropfte Saft ins Feuer. Ringsum waren Engelbälge zum Trocknen aufgehängt, stattliche ausgewachsene Engel mit prächtigem Gefieder ebenso wie junge, kaum größer als ein Kartoffelgnom. Manche Leute mißbrauchten Fancy, um ihre perversen Phantasien auszuleben. Entsetzt, und froh, unbemerkt geblieben zu sein, ritt Gwendolyn weiter.
Der Wald schien sich zu verändern, der Boden wirkte wie ein brauner, grobgewebter Teppich, die blattlosen, toten Bäume schimmerten in geisterhaft bleichem Grün. Dazwischen wuchsen zehn Fuß hohe, modrig riechende Pilze. Mondschatten schienen nach ihr zu greifen, leuchtende Augen beobachteten sie von ringsum, Dryaden huschten vorbei, Trolle flitzten vor ihr über den Boden und die Stiele von Riesenschirmpilzen und Spitzmorcheln hinauf. Es wirkte unheimlich, und der Schreck über den Jäger saß ihr noch so in den Gliedern, daß sie im Zeitraffer ein paar Augenblicke bis zur Dämmerung verstreichen ließ.
Morgennebel trieb zwischen den Bäumen, sie konnte kaum weiter sehen als bis zum nächsten Stamm. Tau rann über Grobians ledrigen Kopfschild, mit jedem Schritt lösten sich seine Füße schmatzend aus dem morastigen Boden.
»Ich habe Euch bereits erwartet, Prinzessin!« Die Stimme, nachhallend wie ein Echo, schien von überall zu kommen und von nirgends. Fips flog vor Schreck quietschend auf. Gwendolyn sah sich um. Niemand war zu sehen.
»Hierher, Prinzessin!« Heiser und rauh klang es.
Gwendolyn lenkte Grobian zur Seite, wieder zurück, hin und her, bis sie schließlich inmitten des Nebels eine Gestalt entdeckte. Ein gnomenhafter Greis kauerte auf einem Baumstumpf, sein Bart schien fest mit den Wurzeln verwachsen. Runzlig und zerfurcht wie Borke wirkte seine wettergegerbte Haut.
»Wer seid Ihr, Herr?« fragte Gwendolyn. Jetzt erst erkannte sie, daß der vertrocknete Greis nicht auf einem Stumpf saß – er wuchs aus ihm heraus, der Baumstumpf war sein Unterleib. Er hustete, sein Körper wankte dabei vor und zurück, knarrte wie eine alte Eichentür.
»Wenn Ihr meinen Namen wissen wollt, Prinzessin, so tut es mir leid, ich habe ihn schon vor tausend und abertausend Jahren vergessen. Ich bin nur ein alter Baumgeist, müßt Ihr wissen.« Er hustete wieder, sein Atem ging rasselnd. In der Hand hielt er eine kleine blaue Schachtel. Er schnippte mit dem Finger dagegen, eine Zigarette sprang heraus, und er klemmte sie zwischen die Lippen. »Wenn Ihr mir Feuer geben könntet, wäre ich Euch zu äußerstem Dank verpflichtet.«
Gauloises, bemerkte Gwendolyn. Nur mit Mühe widerstand sie der Versuchung, etwas darüber zu sagen; Tabak gehörte nicht hierher. Statt dessen gab sie Fips einen Wink.
Der kleine Drache flatterte auf die Zigarette zu, würgte Alkohol aus seiner Gärblase in die Mundhöhle und prustete. Durch ein funkensprühendes Krallenschnippen entzündete er die Wolke aus feinsten Tröpfchen. Flammen loderten vor seinem Mund und erloschen. »O, oh«, sagte er. »Das wird böse enden.« Er flog zurück auf Gwendolyns Schulter und nieste. Das Ende der Zigarette glühte.
Es war ein Glück, daß sie Fips dabei hatte, Grobian hätte lediglich Methan aus seinem Wiederkäuermagen gerülpst und den Baumgeist versengt.
»Ich danke Euch, verbindlichsten Dank«, sagte der Baumgeist, stieß Rauch durch die Nase aus und hustete.
»Gern geschehen, es ist Eure Lunge.« Sie kniff die Lippen zusammen. Nun begann sie schon selbst, Gedanken von draußen einzuführen. »Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«
»Das nicht, doch ich kann etwas für Euch tun.« Sein Blick wurde glasig. »Ihr müßt das Meer der vergessenen Gedanken suchen, Prinzessin, wo Ihr …« Bei sich murmelte er: »Wer denkt sich nur immer diese albernen Namen aus?« Wieder hustete er, dann sank er in sich zusammen. Speichel rann aus seinem Mundwinkel. »Macht Euch keine Sorgen. Märchen gehen immer gut aus.«
»Tsk, tsk!« zischte Fips.
»Wo ich was?« fragte Gwendolyn.
Der Baumgeist hustete nur, sabberte und röchelte.
»Nun sagt schon!«
Ein Moosweiblein trat zwischen den Bäumen hervor, ein weiteres und ein Moosmännlein folgten ihm. Die drei kicherten und tuschelten. Sie sahen fast menschlich aus, trotz ihrer Schweinsnäschen und dem Püschel auf dem Kopf, kaum einen Fuß groß und ganz in Moos gekleidet. »Reite weiter südwärts, Prinzessin«, sagte eines der Moosweiblein, während die beiden anderen schnatternd den Baumgeist bestiegen und ihn mit einer Salbe beschmierten. »Du folgtest dem Fluß der ungedachten Dummheiten. So gelangtest du schließlich ans Meer der vergessenen Gedanken.« Die Moosleute hatten große Schwierigkeiten, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden.
Der Baumgeist schüttelte sich knarrend. »Geht, geht und laßt mich allein. Verschwindet!« Er konnte kaum noch sprechen; es war nicht zu erkennen, ob er Gwendolyn oder die Moosleute meinte. Winzige Tatzelwürmer mit kaum entwickelten Beinen, Schwänzen und Flügeln wanden sich aus seinem morschen Stumpf.
»Na schön, ich wollte ohnehin nach Süden, also was soll’s?«
»Herrje, herrjemine, wenn das nur gut geht.«
»Ich danke Euch, Baumgeist, und auch euch, ihr Moosleute.«
»Nichts zu danken«, schnatterte das Moosmännlein, »wir werden schon immer gern verirrten Wanderern helfen und taten dies auch in Zukunft.«
Der Baumgeist schien Gwendolyn nicht mehr wahrzunehmen, und so ritten sie weiter. Bald verklang das Husten hinter ihnen, vielleicht, weil die Salbe der heilkundigen Moosleute half, vielleicht, weil sie sich entfernten.
Gwendolyn seufzte. »Märchen gehen immer gut aus, wie tröstlich.«
»Oha, nicht für die Hexe und den Wolf«, bemerkte Fips. »Und auch nicht für den bösen Drachen, den bösen Drachen.«
Das Reittier grunzte protestierend. »Grobian lieb.«
»Nicht doch, von dir hat niemand gesprochen.« Gwendolyn tätschelte seinen Kopfschild. »Ich frage mich, was geschähe, wenn wirklich Drachen als Tribut dafür, daß sie das Königreich nicht verwüsten, alljährlich eine Jungfrau forderten, um ihren eigenartigen Geschmack in puncto puncti zu befriedigen.«
Fips sah sich verdutzt um. »Nanu! Was zauberst du nun?«
»Gar nichts. Ich brüste mich nur mit meiner humanistischen Bildung. Es heißt: hinsichtlich des wichtigsten Punkts, also der Keuschheit, das ist alles. Ich schätze, ein religiöser Kult würde sich entwickeln.«
»O nein, o nein. Ich glaube eher, daß es Viehzüchter gäbe, die sich auf Aufzucht und Verkauf spezialisierten.«
»Da hast du recht. Oder die Folge wäre, daß alle Eltern ihre Töchter zeitig …«
Ein Wassertropfen zerplatzte auf Grobians Rücken, ein zweiter, einer schlug auf Gwendolyns Kopf. Augenblicke später ging ein heftiger Regen nieder. Fips faltete die Flügelhäute zu einem Schirm über seinem Kopf. Die Regentropfen schlugen kleine Löcher in den Nebel. Gwendolyn hob das Gesicht zum Himmel. Tiefe Risse durchzogen die Wolken, als seien sie geborsten oder von Bergketten aufgeschlitzt. »He!« rief sie. »Ich habe keinen Regen bestellt! Aufhören, Frau Holle, oder Perchta oder Petrus, Jupiter, Zeus, Thor, Donar, Jahwe, Jehova, Heno oder wer immer dafür zuständig ist.« Es regnete unvermindert weiter. »Menü!« sagte sie, doch die Flammenschrift erschien nicht. »Menü!« wiederholte sie – vergebens. Vielleicht war ein Verändern der Parameter mitten im Ablauf der Geschichte nicht vorgesehen, zumindest hatte sie es noch nie versucht; es schien ihr unehrenhaft, sich auf diese Weise aus der Affäre zu ziehen. Sie wußte nicht, ob es möglich war, denn die Mühe, die Bedienungsanleitung zu lesen, hatte sie sich nie gemacht. Andererseits hatte es in Fancy, wenn sie hier war, noch nie geregnet. »Na schön«, sagte sie. »Solange ich nicht wirklich naß werde …«
Erst als sie den Wald verließen, verzog sich der Nebel, und der Wolkenbruch hörte auf.
Bald darauf kamen sie zu einem ausgetrockneten Flußbett. Obwohl es noch kurz zuvor so stark geregnet hatte, war keine Spur von Feuchtigkeit darin zu entdecken. Ein Netz von Furchen zog sich über den Boden, da, wo die Erde geplatzt war. »Knochentrocken«, sagte Gwendolyn. »Also wenn das nicht der Fluß der ungemachten Dummheiten ist, weiß ich nicht.«
»O nein!« widersprach Fips. »Der Fluß der ungedachten Dummheiten. Da wir gerade von Dummheiten sprechen, wollen wir nicht lieber umkehren, wie? Umkehren?«
»Hab dich nicht so, kleiner Feigling, das sind doch Kinkerlitzchen!« Gwendolyn lenkte Grobian die Uferböschung hinab in die Mitte des Flußbetts.
Nach einer Weile pflückte sie von Disteln, die zahlreich am Ufer wuchsen, ein paar Feigen, und aß sie, und von Dornensträuchern Johannis- und Heidelbeeren, die sie sich mit Fips teilte. Es war kalt geworden. Grobians Atem stand in kleinen Wölkchen vor seinen Nüstern. So ritten sie weiter, bis sie schließlich an eine tiefe Schlucht gelangten.
Gwendolyn sah nach unten. Geröll löste sich unter Grobians Füßen vom Rand und fiel hinab. Es fiel und fiel immer tiefer, bis es schließlich in einem Strom glühender Lava versank.
Fips sagte, was er immer sagte: »O, oh.« Links und rechts führte die Schlucht bis zum Horizont, ein Ende war nicht abzusehen. »Jetzt müssen wir zurück, hier gibt es kein Weiterkommen, kein Weiterkommen.«
»Unsinn, wir überfliegen die Schlucht.«
»Das ist gefährlich für dich, bitte nicht, bitte nicht!«
Sie holte die Kakadufeder heraus und ließ sie in die Tiefe fallen. Mit kreiselnden Bewegungen sank sie der glutflüssigen Lava entgegen.
»Den Zauberspruch, vergiß nicht den Zauberspruch!«
»O ja, wie war das noch? Ach was, ein wenig Latein sollte genügen: Es ist zwar eigentlich eine Feder, aber alea iacta est, in hoc signo vinces.« Sie spürte, wie sie ihr Gewicht verlor, federleicht wurde, und Grobian unter ihr löste sich von der Erde wie ein Heißluftballon. Doch was war das? Sie trieb fort von der Schlucht statt darüber hinweg.
Fips flog auf. »Ich hab’s gewußt!« kreischte er. »Ich hab’s gewußt!« Er nahm eine Haarsträhne Gwendolyns zwischen die Kiefer, eine weitere in jede Pfote und schlug mit den Flügeln auf und ab, so schnell er konnte. Sie klammerte sich fest an den Sattel. Es war für das schmächtige Kerlchen nicht ganz einfach, die Masse des Reitdrachen und der Prinzessin gegen die Luftströmung zu bugsieren, er schubste und stieß, zog und zerrte, doch schließlich gelang es ihm. Über der Schlucht ließen die warmen Aufwinde sie noch höher steigen, auf der anderen Seite sanken sie wieder. »Oh«, brummte Grobian bedauernd; er hatte den Flug offenbar genossen. Als seine Füße den Boden berührten, fühlte Gwendolyn ihr Gewicht zurückfließen.
»Das hast du gut gemacht, Fips«, lobte sie.
Der kleine Zierdrache ließ sich wortlos und keuchend auf ihrer Schulter nieder. Nicht einmal ein ›Das-wird-böse-enden‹ brachte er heraus.
Sie folgten den trockenen, sandigen Mäandern des Flußbetts. Grobians Füße zogen Spuren ins Craquele der staubigen Risse. Sie ritten, ohne daß etwas Erwähnenswertes geschah, und gerade, als Gwendolyn ›Zeitraffer‹ sagen wollte, stieg ihr ein abscheulicher Geruch in die Nase.
Auch Fips hatte es bemerkt: »Jemine, das kann nichts Gutes bedeuten.«
Das Flußbett, das immer breiter geworden war, machte eine letzte Krümmung. Da war es: das Meer.
Alyssa hatte so etwas schon viel zu oft in den Nachrichten gesehen, doch was den Nachrichten fehlte, war der entsetzliche Gestank. Seltsam künstlich wirkten die schmutziggrauen Wellen, die müde auf dem Strand zu gischtloser Brandung ausliefen: Öl.
Wie eine platzende Seifenblase zeigte sich ihr die Erkenntnis: das war nicht mehr ihr Fancy, die fröhliche, atavistische Märchenwelt – es war ein Alptraum. Die Realität war in Fancy eingebrochen – oder ausgebrochen wie ein todbringender Vulkan.
Gwendolyn stieg ab und nahm Grobian beim Zügel. Ölige Klumpen, Seetang, Engel mit verklebtem Gefieder, tote Nixen mit glasigen Augen übersäten den Strand.
»Das Meer der vergessenen Gedanken«, sagte sie kopfschüttelnd. »Das genügt. Schluß damit!« Doch das schreckliche Bild blieb. »Aufhören! Ende! Abbruch!«
Fips schwieg.
Sie saß in Fancy fest. »Nothalt!« schrie sie.
Eine dumpfe Stimme ertönte. »Das ist zwecklos.«
Gwendolyn fuhr herum. Halb aufs Ufer geworfen wie ein gestrandeter Wal lag eine zwei Meter lange Makrele und sprach. Als Gwendolyn genauer hinsah, bemerkte sie, daß die Makrele keinen Fischschwanz hatte, sondern menschliche Beine, die in verschmierten Jeans steckten. Öl schwappte klatschend über die Füße.
»Es hat keinen Sinn. Wir kommen nicht mehr hier heraus. Glauben Sie, ich hätte es nicht versucht?«
»Was hat das alles zu bedeuten? Wer sind Sie? Kommen Sie von draußen?« Ohne Bedenken verstieß sie gegen die Netiquette.
»Liegt das nicht klar auf der Hand?« Die Makrele wirkte schwach und erschöpft. »Haben Sie nicht Dinge erlebt, die nicht hierhergehören, widerliche Dinge? Sterbende Lichtelfen, bei lebendigem Leib von Tolltrollen zerrissen, Sylphiden, von Sylphen massakriert? Mich hat eine böse Fee verzaubert. Früher hätte ich sie jederzeit überlistet, aber jetzt … sehen Sie mich an! Ich bin hilflos, verrotte hier inmitten dieser stinkenden Ölpest.« Schwären auf der schuppigen Fischhaut unterstrichen seine Worte.
»Aber wie ist das gekommen?«
»In welcher Welt leben Sie eigentlich?« Aufgebracht zuckte der Leib der Makrele, trotz ihrer Schwäche. »Verstehen Sie denn nicht?«
»Nein. Nein, ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Ein Virus! Irgendein Wahnsinniger hat ein Computervirus in das Programm eingeschleust, das diese Pseudorealität aufbaut. Aber es ist kein harmloser Scherz, wie Maden, die über den Bildschirm kriechen und die Fenster annagen, schlimmstenfalls ein paar Daten zerstören. Das ist blutiger Ernst!«
»Das glaube ich nicht! Das kann einfach nicht wahr sein.«
»Nein? Dann sehen Sie sich doch um! Versuchen Sie, Fancy zu verlassen!«
Gwendolyn biß sich auf die Unterlippe. »Können wir nichts dagegen tun?«
»Doch. Das ist das Heimtückische, das Virus ist nicht unbesiegbar, derjenige, der es erschaffen hat, hat zugleich eine Sollbruchstelle eingebaut; aber es ist nur von innen zu knacken, von außen ist es völlig abgeschirmt.«
»Sie haben es versucht?«
»Ja. Bis hierher habe ich es geschafft, dann hat die Kürbisfee mich erwischt. Aber eins habe ich herausgefunden. Sehen Sie dieses Eiland dort?« Die Makrele machte eine vage Bewegung mit der Flosse.
Gwendolyn ließ ihren Blick übers Meer schweifen. Etwa zwei Dutzend Meßketten entfernt entdeckte sie eine kleine Insel. Sie nickte.
»Gut. Dort befindet sich in einer Höhle eine Instanziierung des Virus. Sie muß vernichtet werden. Daß wir hier an diesem Meer sind, ist kein Zufall. Das Virus hat dafür gesorgt, hat uns goldene Brücken gebaut. Gehen Sie! Zerstören Sie es!«
»Aber ich kann Sie doch hier nicht allein lassen.«
»Es bleibt keine andere Wahl, Sie müssen das Virus vernichten. Hören Sie, wenn Sie es schaffen – ich bin seit vier Tagen hier, und mein echter Körper liegt ebensolang hilflos in meiner Wohneinheit. Sorgen Sie dafür, daß …«
»Selbstverständlich. Wie ist Ihr Name?«
»Leberecht.«
»Ich meine draußen, wie soll ich Sie denn finden?«
»Oh, natürlich. Jost Müllerschön, Bochum-Süd.«
Sie schaute übers Meer. »Auf dieser Insel, sagen Sie?«
»Ja. Hier, nehmen sie das.« Leberecht ließ ein Päckchen aus der Flosse fallen.
Gwendolyn hob es auf und untersuchte es: in Ölpapier eingeschlagene Oblaten. »Was ist das?«
»Geweihte Hostien. Vielleicht werden sie Ihnen nützlich sein.«
»Und was soll ich damit anfangen?«
»Transsubstantiation«, sagte die Makrele verächtlich.
Sie schlug in ihrem Thesaurus nach. »Ich verstehe.«
»Sprechen Sie ausreichend Latein für einen Zauberspruch?«
»Ein wenig. Ich denke, es genügt.«
»Gut.« Leberecht atmete schwer. »Wie wollen Sie hinüberkommen?«
»Wir werden sehen. Eine gewisse Gesetzmäßigkeit scheint es ja zu geben. Auf Wiedersehen.«
»Hoffentlich. Viel Glück.«
Gwendolyn wandte sich dem Meer zu.
»Igittigitt, wie das riecht.« Fips schüttelte sich. »Das wird böse enden.«
Gwendolyn nahm Grobian Sattel und Zaumzeug ab und legte sich die Satteltasche über die Schulter. »Du kannst leider nicht mitkommen, alter Freund«, sagte sie. »Die Kliffs der Insel sind zu steil für dich.« Sie nahm die beiden Fläschchen aus der Tasche. Das mit schwerem Wasser gefüllte leerte sie ins Meer, dann hob sie das zweite an die Lippen.
»Nicht!« kreischte Fips. »Du weißt nicht, was das ist, was es bewirkt!«
»Hör auf! Das ist kein Spaß mehr. Ich habe keinen Beipackzettel, und das Etikett sagt lediglich, es sei leichtes Wasser, ich muß es also riskieren.« Sie trank aus und setzte dann vorsichtig einen Fuß auf die Wellen. »Fluctuat nec mergitur«, wisperte sie.
»Was heißt das, was?« fragte Fips.
»Von den Wogen gepeitscht, geht es doch nicht unter.«
»Ich sehe schwarz, schwarz.«
Sie watete knöcheltief in der Ölschicht, doch das Wasser trug. Sie schwankte, aber wenigstens glättete das Öl die Wogen. Rutschend und schlitternd bewegte sie sich vorwärts. Das Wasser bot weniger Reibungswiderstand als Eis, und bewegte sich noch dazu auf und ab, hin und her, schlimmer als ein Wasserbett. Sie glitt aus, fiel hin, versank mit Knien und Händen in der zähen, klebrigen Ölschicht. Mühsam richtete sie sich auf. Vorsichtig, Schritt für Schritt, näherte sie sich der Insel. Immer wieder strauchelte sie, bis sie über und über mit stinkendem Öl bedeckt war.
Endlich setzte sie ihren Fuß auf die verschmutzten Felsen. Ein hölzernes Schild stand dort, verwittert und flechtenbewachsen. Die Schrift war kaum zu lesen: Insel der gelöschten Datenträger. Gwendolyn schnaubte.
Sie ging daran, den Steilhang zu erklettern. Es begann wieder zu regnen. Der glitschige Fels machte den Aufstieg nicht leichter. Binnen kurzem war ihr Wams durchnäßt und klebte klamm an ihrer feuchten Haut. Ihr Haar wurde schwer vom Wasser. Fips flatterte um sie herum und wies sie auf sichere Tritte und Griffe hin, krallte sich ins Gestein, prüfte hier und da den Halt.
Eine Wurzel, an der sie sich festhielt, löste sich. Erdklumpen stürzten polternd in die Tiefe, nur mit Mühe fand sie ihr Gleichgewicht wieder. Fips schlug entsetzt einen Rückwärtssalto. Er fiel in Ohnmacht und trudelte abwärts. Gwendolyn schrie. Nur wenige Spannen über dem Boden kam der Drache wieder zu sich, flog einen Looping und schraubte sich nach oben. Er blinzelte benommen.
»Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!« sagte Gwendolyn. »Mach so etwas nie wieder!«
Vorsichtig setzte sie den Aufstieg fort. Endlich erreichte sie die Kante der Klippe, wälzte sich darüber und erhob sich.
»O, oh.«
Ein Rudel Tolltrolle umringte sie. Sie kauerten auf kurzen Beinen und doppelt so langen Armen, ihre Spanielohren reichten bis zum Boden. Stumpfes, zottiges Fell bedeckte ihren Körper. Zwischen spitzen, rachenbedeckenden Zähnen, die aussahen, als hätten die Trolle einen umgestülpten Igel im Maul, stießen sie ein böses Knurren aus, ihre Katzenaugen leuchteten gefährlich.
Langsam und vorsichtig öffnete Gwendolyn ihre Satteltasche, wickelte die Hostien aus dem Ölpapier und warf sie den Trollen vor. Sie schnupperten mißtrauisch daran.
»In nomine patri et filii et spiritus sanguinei«, flüsterte Gwendolyn fast lautlos.
Die Oblaten verwandelten sich. Keifend und fauchend stürzten die blutgierigen Tolltrolle sich auf den Köder, zeternd stießen und kratzten sie sich, da jeder dem andern diese Leckerbissen mißgönnte.
Gwendolyn schenkten sie keine Beachtung mehr, und sie machte, daß sie davonkam.
Nach einer Weile entdeckte sie einen Pfad, dem sie folgte. Schließlich sah sie von einem Hügel aus ein Dorf und ging darauf zu. Die Regenpfützen waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, die mit jedem ihrer Schritte knirschend brach.
Das Dorf bestand aus behelfsmäßig wirkenden Wellblechhütten. Verwesungsgeruch hing in der Luft. Die wenigen Menschen, denen sie begegnete, waren ausgezehrt und wichen ihrem Blick aus. Schmutzige, trotz der Kälte nackte oder nur in ein paar Lumpen gehüllte Kinder, nur Haut und Knochen und aufgedunsene Bäuche, starrten sie teilnahmslos an. Auf einem Platz in der Dorfmitte brannte ein großes Feuer.
Sie ging auf einen alten Mann zu, der vor einer Hütte saß und auf einem dicken, fleischigen Blatt kaute, und grüßte ihn.
Er spuckte aus. »Verschwinde! Gesindel wie dich können wir hier nicht gebrauchen!«
»Kerl! Weiß Er denn nicht, wen Er vor sich …?« Sie stockte. Natürlich bot sie in ihren öl- und schlammbesudelten Kleidern keinen allzu vertrauenerweckenden Anblick, nicht einmal hier. Und Prinzessinnen-Gehabe war längst nicht mehr angebracht. Sie nahm eine Handvoll Golddukaten aus der Satteltasche und ließ sie klingend auf das Faß fallen, das vor ihm stand.
Wie eine Schlange stieß seine Hand danach, seine Augen blitzten. »Was will Sie hier?« fragte er, nun etwas höflicher.
»Nur eine Auskunft, nichts weiter. Hier auf der Insel soll es eine Höhle geben. Kann Er mir den Weg dahin weisen?«
Er schlug die Augen nieder. »Scher Sie sich weg! Wir brauchen keine Almosen.«
»Ja, geh Sie dahin zurück, wo Sie hergekommen ist!« Unbemerkt hatten sich weitere Dörfler um sie gesammelt. »Weg von hier!« – »Solche Leute wollen wir hier nicht haben!« – »Elendes Gesindel!«
Der Wind drehte sich und wehte beißenden Rauch vom Feuer herüber. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Fips keckerte.
»Merkt Sie nun, daß Sie hier unerwünscht ist?« fragte der Alte. »Ihr Gold heilt uns nicht, und es macht uns nicht satt. Wir wollen nichts, als täglich unsere Algen ernten und in Ruhe gelassen werden.«
Gwendolyn horchte auf. »Algen? Aber das Öl …«
»Das ist die göttliche Strafe für unsere Sünden.« Er hob den verklärten Blick zum Himmel. »Ebenso wie die Pestilenz.«
Sie wandte sich um, schob sich durch die Menschenmenge und verließ das Dorf. Ein paar Kinder liefen ihr nach und bewarfen sie mit Schlamm.
Gwendolyn folgte dem Weg. Sie war hungrig und erschöpft, doch sie ging weiter. Die Kälte stach ihr in die Glieder. Selbst der Gestank ihrer Kleider war kaum mehr zu ertragen.
Es wurde bereits dunkel, da trat plötzlich ein Moosweiblein aus dem Wald. Es nickte grüßend mit wippendem Püschel.
»Ich freue mich, dich zu treffen«, sagte Gwendolyn. »Weißt du vielleicht, ob es hier eine Höhle gibt?«
Das Moosweiblein kicherte. »Die kenn’ ich, aber ja. Geh diesen Weg weiter, bis du zu einem Bach gelangtest. Diesem folgtest du. Er mündete in einen Fluß. Überquere ihn. Du sahst dort eine alte Buche, die der Blitz spalten wird. Geh an ihr vorbei, und nach tausend Schritten kamst du ins Tal der erloschenen Lichter. An dessen Ende fandest du die Höhle, die du suchst.«
Kichernd verschwand das Moosweiblein zwischen den Bäumen.
Gwendolyn ging weiter, fand den Bach, und dort, wo er in den Fluß mündete, sah sie im Licht der drei Monde am gegenüberliegenden Ufer den vom Blitz zerstörten Baum. Nirgendwo war eine Furt oder gar eine Brücke zu sehen. »Und nun?« fragte sie. »Ich glaube, wir machen erst einmal Rast.« Ihre Füße schmerzten. Sie kniete nieder, trank etwas von dem kalten Wasser, obwohl sie wußte, daß dieses Blendwerk nicht ihren wirklichen Durst – den von Alyssas Körper – stillen konnte. Sie sammelte Bruchholz, errichtete aus großen Steinen eine Feuerstelle und ließ Fips Flammen speien.
»Vielleicht sollte ich mich vergrößern, um einfach einen Schritt über den Fluß zu machen.« Sie wärmte die ausgestreckten Hände am Feuer.
»Lieber nicht, lieber nicht, das ist doch Verschwendung!«
»Du hast recht. Aber ist das nicht merkwürdig: magische Utensilien scheinen Ereignisse zu provozieren; wenn ich Zauberbohnen hätte, müßte ich sicherlich irgendeinen Berg ersteigen.«
»Das mußtest du auch so, ohne Bohnen – die Klippen, die Klippen.«
»Sicher, ich sage nicht, daß für jedes Hindernis ein Zauber zur Hand ist – es ist umgekehrt: jeder Zauber zieht ein passendes Problem an. Wären die Tolltrolle auch aufgetaucht, wenn Leberecht mir keine Hostien gegeben hätte?«
»Natürlich, natürlich, woher hätten die Trolle denn davon wissen sollen?«
»Ja, woher wohl?« Sie wußte es natürlich, doch sie sagte es nicht. Beide schwiegen, und es dauerte lange, bis Gwendolyn endlich einnickte. Es war das erste Mal, daß sie in Fancy schlief.
Sie träumte wirres Zeug: Jemand rief ihren Namen, ohrfeigte sie, sie wurde hochgehoben, schwebte; überall waren blitzende blaue Lichter, ein Ungeheuer jaulte; Schlangen krochen über ihren Leib, kalt und leblos …
»Sieh nur, sieh nur!« Fips’ Gekeife weckte sie. Sämtliche Glieder schmerzten, sie spürte ihre Zehen kaum noch. Das Feuer war erloschen, der Wind spielte mit weißer Asche.
»Der Fluß, Fips! Er ist zugefroren!« Diesiges Licht sickerte aus dem wolkenverhangenen Himmel.
»Ich weiß, ich weiß.«
Sie nahm die Satteltasche und prüfte vorsichtig mit dem Fuß das Eis. Es knackte, doch es trug. Sie schob reifbedecktes Schilf beiseite und begann, den Fluß zu überqueren. »Was sagst du dazu, Fips? Es muß gar nicht so schwierig sein, übers Wasser zu gehen.«
Das Eis knirschte wie Kork. »O, oh. Das wird böse …«
»Schon gut!«
»Mein Gewicht, mein Gewicht muß das Eis nicht auch noch tragen.« Fips flog auf und landete auf einem Ast der Buche. Sicher gelangte Gwendolyn ans Ufer, Fips kehrte auf ihre Schulter zurück, und sie setzten den Weg fort, vorbei an dem toten Baum. Es war nicht nötig, die Schritte zu zählen. Das Tal der erloschenen Lichter war nicht viel mehr als ein klaffender Riß im Fels, so völlig überwuchert, daß es darin stockfinster war.
Gwendolyn brach einen verdorrten Ast von einem Baum. Mit schrillem Kreischen flog ein Pterodaktylus auf.
»Was war das? Was war das?«
»Es sah fast aus wie ein Flugsaurier. Merkwürdig, die gab es doch wirklich. – Hier, steck die Fackel an!«
Im spärlichen Flackern des brennenden Asts drangen sie in das Tal ein, tiefer und tiefer. Der Rauch zog nach oben ab, zwischen die Gewächse, die das Tal bedeckten. Es schien kein Ende zu nehmen, wand sich hierhin und dorthin. Es kam Gwendolyn vor, als seien Stunden vergangen, seit sie es betreten hatten, doch die Fackel war kaum abgebrannt.
»Da! Da!« Der Drache sah im Dunkeln trotz des Feuerscheins besser als Gwendolyn, doch gleich darauf erkannte auch sie den Eingang zur Höhle. Geruch von Fäulnis schlug ihnen entgegen. »Das riecht nach Gefahr, Gefahr!«
»Ich kann nicht.«
»Was? Was?«
Gwendolyn atmete schwer. Sie bekam kaum noch Luft. »Ich kann die Höhle nicht betreten. Ich habe Angst vor engen Räumen.« Sie schluckte krampfhaft. »Klaustrophobie.«
»Aber du mußt! Du mußt!«
Sie stieß ein schmerzhaftes Lachen aus, verschluckte sich, würgte. »Das sagst ausgerechnet du?« Zaghaft ging sie einen Schritt weiter. »Ich muß!« Noch ein Schritt. »Muß!« Jetzt stand sie in der Höhle: sie war gigantisch, die Decke war nicht zu erkennen, tauchte unter in der Finsternis. Das Fackellicht versickerte auf dem Weg dorthin. Gwendolyn versteinerte.
Vor ihr, fast zum Greifen nah, stand das Virus.
Wie hypnotisiert starrte sie das glitzernde Gebilde an. Ein riesiger Vielflächner, wie aus Quecksilber gegossen, über und über besetzt mit spiegelnden Kugeln an klobigen Verbindungsstäben.
Das Virus vibrierte.
»Tu etwas! Tu etwas!«
Wie aus einer Trance erwacht, rührte sich Gwendolyn. Ihre Hände nahmen, als wären sie eigenständige Wesen, das Vergrößerungsglas aus der Satteltasche. Gwendolyn betrachtete ihre Finger durch das Glas. »Vis consili expers mole ruit sua«, preßte sie hervor.
»Was heißt das? Was?«
Gwendolyn fühlte, wie sie wuchs. »Macht bar guter Absicht …« Ihr Leib blähte sich auf, Muskeln dehnten sich, Knochen ächzten, Sehnen waren bis zum äußersten gespannt. »… zerbricht unter ihrer …« Das Virus war nun nicht mehr vor ihr, sondern unter ihr. »… eigenen …« Schwerkraft zerrte an ihr, Blut quoll aus ihren Poren, Sehnen rissen, Knochen barsten unter der Last ihres Gewichts.
Gwendolyn brach zusammen und begrub das Virus unter sich.
Verschwommen sah Gwendolyn ein Gesicht über sich. Ihr Gehirn brannte wie glühendes Eisen. Sie wußte, daß sie das Gesicht zuvor gesehen hatte, sie erkannte es jedoch nicht. »Was ist geschehen?« fragte sie; oder versuchte es, doch ihre Zunge wollte ihr nicht gehorchen. Nur unverständliches Brabbeln kam aus ihrem Mund.
Von den Lippen in dem fremdvertrauten Gesicht lösten sich Sprechblasen. »Alyssa«, sagte es. »Alles ist gut, alles kommt wieder in Ordnung.«
Wer war Alyssa? »Was ist passiert?« wiederholte sie ihre Frage, deutlicher diesmal. Alyssa? Sie hatte einmal eine Alyssa gekannt.
»Mach dir keine Sorgen, keine Sorgen, ich bin bei dir.«
Alyssa … ja! Sie war … »Ich bin Alyssa!« rief sie aus.
»Ganz ruhig, Schatz. Es wird alles gut. Es wird alles gut.«
Allmählich konnte sie den Raum um sich wahrnehmen. Monitore blinkten und piepsten, Kabelstränge klebten an ihr wie die Fäden an einer Marionette, Infusionsschläuche steckten in ihren Armen. »Wo bin ich?«
»Hab keine Angst, Alyssa, keine Angst. Die Ärzte sagen, du …« Es folgten Worte, die sie nicht verstand, scheinbar sinnlose Worte. Sie versuchte sich aufzurichten. Schmerz brandete durch ihren Körper.
»Bleib liegen. Du mußt liegen bleiben.«
Unscharf sah sie auf der Bettkante einen Tolltroll sitzen, der böse den gespickten Rachen bleckte. »Was … wie kommt er hierher?« Sie deutete auf den Dämon; ihr Arm schien zu explodieren.
»Wer? Wovon sprichst du?« Seine Hände drückten sie sanft zurück in die Kissen. »Hier ist niemand.«
Ein Schleier wie von Hitzeflimmern verzerrte das Gesicht, dann wurde es klar. »Alexander! Du bist Alexander!« Er war unrasiert und wirkte übernächtigt.
»Willkommen«, sagte er und strich über ihre schweißnasse Stirn. »Willkommen zurück in der Wirklichkeit.«
Alyssa preßte die Lippen zusammen. Der Tolltroll blitzte sie aus hämischen Äuglein an.
Copyright © 1996 by Achim Stößer • Erstveröffentlichung • Illustriert von Werner Ruhner