»IN MY TIME OF DYIN’«
Danach – unser Interview war fast zu Ende – zeigte er mir die Galerie von Computergrafik-Selbstporträts an der Wand direkt beim Aussichtsfenster. Was mich an diesen farbenprächtigen Bildern beunruhigte – eins erinnerte an einen Bosch, eins an einen Goya, eins an einen El Greco, eins an Picassos Guernica, eins an eine alte Zeichnung von Escher, eins an einen frühen Mark Rothko und eins an eine exotische gemeinsame Arbeit von René Magritte und Peter Max –, war ihre bewußte Morbidität. Jedes stellte den Künstler entweder tot oder im Kampf mit dem Tod dar, aber keine zwei zeigten die gleiche Abschiedsvorstellung.
»Mein Gott«, sagte ich.
»Zumindest hab’ ich keinen Flugzeugabsturz à la Buddy Holly gemacht.«
Was er jedoch gemacht hatte – mit Hilfe des Computers, eines Tintenstrahldruckers mit 21 Farben und eines von ihm selbst entwickelten Malprogramms namens TüpfelGenesis™ –, waren Porträts von Bob Dillon, wie er auf der Bühne in bester Karloff-Manier durch Stromstöße starb, am Rande eines vietnamesischen Reisfeldes in Napalmflammen aufging, mit seinem Motorrad über eine Klippe an der Pazifikküste zur Hölle fuhr (›Going to Hell for Spanish Leather‹), sich in einem Spiegelsaal bis ins Nichts widerspiegelte, auf einem Berg über Jerusalem halbnackt am Kreuz hing und im Central Park auf einer Erhöhung innerhalb einer Menge von maskenhaften weißen Gesichtern einen Herzstillstand erlitt.
»Visuell attraktiv«, gab ich zu, »aber nicht sehr erhebend.«
»Okay. Sie haben recht, so zu urteilen. Aber Tüpfel-Genesis ist für den potentiellen Gläubigen mindestens so eine Hilfe wie zum Beispiel unsere Haushaltsprogramme. Der Tod hat mich schon immer fasziniert. Hier hab’ ich den Versuch gemacht, meine Überzeugung herauszuarbeiten, daß unser Wissen um unsere Sterblichkeit den religiösen Impuls auslöst und eine größere Intensität in unsere Suche nach Satori oder Gott bringt.« Er hüpfte von Gucci zu Gucci. »Ow ow ow ow«, sang er in seiner eigentümlichen nasalen Art.
Ich sagte: »In Dostojewskis Idiot bringt ein Porträt des toten Christus von Holbein Prinz Myshkin dazu auszurufen: ›Dieses Bild könnte manch einen den Glauben verlieren lassen!‹«
Dylan wurde wieder ernst. Er erklärte mir, er wüßte, was ich meinte. Wenn ein Bild des gekreuzigten Jesus das bewirken könnte, wie unwahrscheinlich wäre es dann, daß ein paar Computergrafiken vom Tod eines ehemaligen Rock’n’Rollers die Saat des Glaubens in irgendwen legen oder dessen Glauben befruchten könnten. Nun, sie seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, und daß ich sie gesehen hätte, sei eine zufällige Begleiterscheinung unseres Interviews. Jedenfalls hätte er etwas anderes damit beabsichtigt: sich an seine Beschäftigung mit dem Tod in jungen Jahren zu erinnern und sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie ihn zu dem Versuch geführt hatte, Gott wiederzuentdecken und in Primär- und Pastellfarben zu erklären, daß der Glaube und die Computertechnik erfolgversprechende Wege zur Unsterblichkeit seien.
»Unsterblichkeit?«
»Früher hab’ ich geglaubt, die Songs würden es schaffen. Jetzt bin ich in der Frage gespalten. Wenn in diesem Körper eine Seele ist, gehört sie Gott, und er wird sie auch kriegen. Aber meine Persönlichkeit – jede Nuance der Dylan-Rolle und des Zimmermann-Kerns in ihrem Innersten –, nun, die wird in meiner Software weiterleben. Das werde nicht ich sein, nicht so, daß ich es weiß, aber ich werde es trotzdem sein, mit dem einzigen Nachteil, daß ich nicht mehr bin. Man nimmt, was man kriegen kann, und preist Gottes Ruhm und Ehre. Ich werde weiter Songs schreiben, Programme erstellen und mich auf die Socken machen, um Satori zu suchen – aber nur in magnetischer Verkleidung als komplexe Reihe von Instruktion für einen Mikroprozessor.«
Der Präsident, Manager und hervorragendste kreative Kopf von TS/3S, führte mich zum Bücherregal am Ende der Galerie von Computergrafiken und zeigte mir die vinylgepolsterte Aktenmappe, welche die Dokumentation für das neueste Programm von Tambourine Software enthielt. Der Titel auf dem Rücken der Mappe war Bob Dylan™, 1.00, der Prototyp seines Persönlichkeits-Duplikators und das erste Stück Software, das seinem Programmierer je Quasi-Unsterblichkeit zu verschaffen suchte. Der Umschlag der Mappe gab das Bild auf seinem bei Columbia erschienenen Doppelalbum Self-Portrait aus den frühen Siebzigern wieder.
»Wollen Sie es auf den Markt bringen?« fragte ich ihn.
»O nein. Das hier nicht. Niemals.«
»Warum nicht?«
»Man verkauft sich doch nicht selbst. Ich meine, man tut’s schon, aber nicht so, nicht indem man seine Seele zur Ware macht.«
»Was dann?«
»Es kommt in eine Zeitkapsel. Eine Kopie davon, natürlich. Um irgendwann später mal, wenn’s was bringen könnte, wieder zum Leben erweckt zu werden, unschönerweise ohne den Körper.«
Meine Zeit war um. »Sie sind früher schon das Opfer von Raubpressungen geworden«, beeilte ich mich mit der Frage, die zu stellen mir zwei meiner Redakteure aufgetragen hatten. »Die Basement Tapes mit The Band. Eine ganze Reihe andere. Wie stehen Sie zu Raubkopien von Software?«
Die Frage brachte ihn in Schwierigkeiten. Er runzelte die Stirn und legte das Bob Dylan-Programm ins Regal zurück. Er zog das Jackett seines Anzugs hoch und steckte die Hände in die Hüftentaschen seiner Hose. »Eines Tages«, sagte er bedächtig, »werden wir mitten in der Stadt einen Stand aufstellen und unsere Software umsonst weggeben. Wenn alle Fehler ausgemerzt sind, meine ich. Niemand sollte eine Raubkopie von Gottesbewußtheit machen müssen. Niemand. Nicht mal Ronnie Reagan.«
Ich beeilte mich, diese Bemerkungen in meinem Notizbuch festzuhalten.
»Das ist off the record. Alles.«
Ich steckte meinen Schreibstift weg. Off the record, dachte ich, aber dauerhaft auf der Software meiner Reporterinstinkte. Das Zitat war zu gut, um es in den Wassern des Vergessens untergehen zu lassen. Deshalb war es das Zitat, mit dem ich meine Story beendete:
»Niemand sollte eine Raubkopie von Gottesbewußtheit machen müssen.«