8. Die Tiefen von Omean

Nun verstand ich, warum der schwarze Pirat mich mit seiner seltsamen Erzählung zu fesseln versucht hatte. Seit Meilen hatte er gespürt, daß Beistand nahe war, und hätte ihn nicht sein Blick verraten, wäre das Kriegsschiff im nächsten Augenblick über uns gewesen, die Mannschaft, die sich zweifellos bereits mittels ihrer Ausrüstung vom Kiel hinabließ, wäre über unser Deck geschwärmt und hätte meiner neu erwachten Hoffnung auf ein Entkommen ein jähes Ende gesetzt.

Ich war ein zu alter Hase im Luftkrieg, als daß mir nicht ein passendes Manöver eingefallen wäre. Ich drehte die Maschinen zurück und ließ gleichzeitig das kleine Flugzeug mit einemmal hundert Fuß nach unten gehen.

Als das Kriegsschiff über meinem Kopf hinwegraste, konnte ich an seinem Kiel Gestalten erkennen. Nun stieg ich im steilen Winkel auf, den Schalthebel für die Geschwindigkeit am Anschlag.

Wie der Pfeil einer Armbrust schnellte mein kühnes Flugzeug, die stählerne Nase voran, direkt auf die surrenden Propeller des Riesen über uns zu. Gelang es mir, diese auch nur zu streifen, wäre der riesige Koloß für Stunden manövrierunfähig, und die Flucht läge wieder im Bereich des Möglichen.

Im selben Augenblick ging die Sonne über dem Horizont auf und eröffnete mir den Blick auf hundert grimmige, schwarze Gesichter, die über das Vorschiff des Kreuzers zu uns hinabschauten.

Als sie uns sahen, erhob sich wütendes Geschrei aus hundert Kehlen. Brüllend wurden Befehle erteilt. Doch es war zu spät, um die riesigen Propeller zu retten, und mit einem Krachen rammten wir sie.

Zeitgleich mit dem Aufprall drehte ich die Maschine zurück, doch mein Bug hatte sich in der Öffnung verkeilt, die er ins Heck des Kriegsschiffes gerissen hatte. Nur eine Sekunde hingen wir fest, bevor wir uns losmachen konnten, doch diese Sekunde genügte, und auf unserem Deck wimmelte es von den schwarzen Teufeln.

Zu einem Kampf kam es nicht. Zunächst, weil es keinen Platz dafür gab. Sie befanden sich einfach in der Überzahl. Als schließlich von allen Seiten Schwerter auf mich gerichtet waren, hielt Xodar seine Leute zurück.

»Bindet sie, doch verletzt sie nicht«, befahl er.

Einige Piraten hatten Xodar bereits von seinen Fesseln befreit. Er kümmerte sich nun persönlich darum, daß ich entwaffnet und gut gefesselt wurde. Zumindest glaubte er, daß die Stricke sicher seien. Bei einem Marsbewohner wäre das auch der Fall gewesen, doch angesichts der dünnen Stränge, die meine Hände zusammenhielten, mußte ich einfach lachen. Wenn die Zeit gekommen war, würde ich sie zerreißen wie Bindfäden.

Nachdem sie auch das Mädchen gefesselt hatten, banden sie uns aneinander. In der Zwischenzeit hatten sie unser Luftschiff längsseits an das beschädigte Kriegsschiff gebracht, und bald führte man uns an dessen Deck.

Reichlich tausend schwarze Männer bildeten die Mannschaft des großen Zerstörers. Die Decks waren überfüllt, da alle, soweit es die Disziplin erlaubte, einen Blick auf die Gefangenen werfen wollten.

Die Schönheit des Mädchens war Anlaß für viele brutale Bemerkungen und vulgäre Gesten. Es war offensichtlich, daß diese Menschen, die sich für vollkommen hielten, den roten Menschen von Barsoom hinsichtlich ihrer Manieren und ihres Edelmutes bei weitem unterlegen waren.

Mein kurzes schwarzes Haar und meine thernartige Hautfarbe wurden reichhaltig kommentiert. Als Xodar seinen Edelleuten von meinen kämpferischen Fähigkeiten und meiner seltsamen Herkunft berichtete, scharten sie sich mit unzähligen Fragen um mich.

Die Tatsache, daß ich die Ausrüstung und das Metall eines Therns trug, den ein Mitglied meiner Gruppe getötet hatte, überzeugte sie, daß ich ein Widersacher ihrer Erzfeinde war. Damit stieg ich offenbar in ihrer Wertschätzung.

Die Schwarzen waren ausnahmslos ansehnliche und gutgebaute Männer. Die Offiziere fielen durch die unglaubliche Pracht ihrer glänzenden Ausrüstung auf. Oftmals strotzte diese nur so von Gold, Platin, Silber und wertvollen Steinen, und das Leder darunter war gar nicht mehr zu sehen.

So bestand die Ausrüstung des befehlshabenden Offiziers ausschließlich aus Diamanten. Gegen die tiefschwarze Haut gleißten diese besonders hell. Die ganze Szene war bezaubernd: Die wohlgestalteten Männer; die übermäßige Pracht der Rüstungen; das schimmernde Skeelholz des Decks; das wundervoll marmorierte Sorapusholz der Kabinen, die auf kunstvolle Weise mit unschätzbar wertvollen Juwelen und kostbaren Edelmetallen verziert waren; die polierten goldenen Geländer und das glänzende Metall der Schußwaffen.

Man brachte Phaidor und mich unter Deck und warf uns, noch immer gefesselt, in eine kleine Kabine mit nur einem Bullauge. Als unsere Bewacher uns verließen, verriegelten sie hinter sich die Tür.

Wir hörten die Männer, die an den zerbrochenen Propellern arbeiteten, und konnten vom Bullauge aus verfolgen, wie das Schiff langsam vor sich hin gen Süden driftetete.

Eine Zeitlang sprach keiner von uns beiden. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Mich für meinen Teil beschäftigte, was wohl aus Tars Tarkas und dem Mädchen Thuvia geworden sein mochte.

Sogar, wenn es ihnen gelang, den Verfolgern zu entgehen, würden sie letztlich entweder den roten oder grünen Menschen in die Hände fallen, und als Flüchtlinge aus dem Tal Dor hatten sie nur wenig anderes zu erwarten als einen schnellen und schrecklichen Tod.

Wie sehr wünschte ich, daß ich sie hätte begleiten können. Mir schien, daß es mir schon gelungen wäre, den intelligenten roten Menschen von Barsoom eindringlich den gemeinen Betrug klarzumachen, der sich hinter dem grausamen und unsinnigen Aberglauben verbarg.

Tardos Mors würde mir glauben, davon war ich überzeugt. Und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er den Mut besaß, entsprechend seiner Überzeugung zu handeln. Dejah Thoris würde mir ebenfalls glauben, da hatte ich nicht die geringsten Zweifel. Dann gab es noch Tausend von roten und grünen Kriegern, mit denen ich befreundet war und von denen ich wußte, daß sie um meinetwillen die ewige Verdammnis auf sich nehmen würden. Gleich Tars Tarkas würden sie mir folgen, wohin ich sie auch führte.

Die einzige Gefahr bestand darin, daß ich, wenn ich überhaupt jemals den schwarzen Piraten entkam, feindlich gesonnenen roten oder grünen Menschen in die Hände fiel. Sie würden kurzen Prozeß mit mir machen.

Doch diesbezüglich mußte ich mir im Moment wenig Sorgen machen, denn die Wahrscheinlichkeit, daß ich den Schwarzen jemals entkam, war äußerst gering.

Man hatte das Mädchen und mich so aneinander gefesselt, daß wir uns nur ungefähr drei oder vier Fuß voneinander fortbewegen konnten. Nachdem wir in das Abteil gekommen waren, hatten wir uns auf eine niedrige Bank aus Sorapusholz gesetzt, das einzige Möbelstück im Raum, das unter dem Bullauge stand. Der Boden, die Decke und die Wände bestanden aus einer Legierung aus Siliziumkarbid und Aluminium, einem leichten, undurchdringlichen Material, das bei der Konstruktion der Kriegsschiffe auf dem Mars in großem Maße Verwendung findet.

Während ich so dasaß und über die Zukunft nachdachte, hielt ich den Blick auf das Bullauge gerichtet, das sich in Augenhöhe befand. Plötzlich sah ich zu Phaidor. Sie schaute mich mit einem seltsamen Ausdruck an, den ich auf ihrem Antlitz noch nie gesehen hatte. In diesem Augenblick war sie sehr schön.

Sofort schlug sie die weißen Lider nieder, und ich glaubte eine leichte Röte wahrzunehmen, die ihre Wangen färbte. Offenbar ist es ihr peinlich, dabei ertappt worden zu sein, ein niederes Geschöpf so anzustarren, dachte ich.

»Findest du das Studium der niederen Geschöpfe interessant?« fragte ich lachend.

Mit einem nervösen, doch erleichterten kurzen Lachen blickte sie wieder auf und entgegnete: »Oh, sehr, besonders, wenn sie ein solch erlesenes Profil besitzen.«

Nun hätte eigentlich ich erröten müssen, doch tat ich es nicht. Ich spürte, daß sie sich über mich lustig machte, und da ich eine Seele bewundere, die noch auf dem Weg in den Tod zu scherzen vermag, fiel ich in ihr Gelächter ein.

»Weißt du, wohin es geht?« fragte sie.

»Ich kann mir vorstellen, daß wir das Geheimnis des ewigen Lebens im Jenseits kennenlernen kennenlernen«, entgegnete ich.

»Mir steht ein schlimmeres Schicksal bevor als jenes«, sagte sie leicht erschaudernd.

»Was meinst du?«

»Ich kann es nur ahnen, da keine Frau des Thernvolkes von all den Millionen, die von den schwarzen Piraten im Laufe der seit Jahrhunderten andauernden Überfälle auf unsere Gebiete geraubt worden sind, je zurückgekehrt ist und davon berichtet hat, wie es ihr ergangen ist«, erwiderte sie. »Da sie niemals einen Mann gefangennehmen, kann man annehmen, daß das Schicksal der geraubten Mädchen schlimmer als der Tod ist.«

»Ist das nicht eine gerechte Strafe?« kam ich nicht umhin zu fragen.

»Was meinst du damit?«

»Verfahren nicht die Therns selbst mit den armen Geschöpfen ebenso, die freiwillig die Pilgerfahrt entlang des Flusses der Geheimnisse antreten? Diente nicht Thuvia fünfzehn Jahre lang als Spielzeug und Sklavin? Ist es nicht mehr als gerecht, daß du genauso leidest, wie du andere hast leiden lassen?«

»Du verstehst nicht«, entgegnete sie. »Wir Therns sind ein heiliges Volk. Es ist einer niederen Kreatur eine Ehre, bei uns Sklave zu sein. Wenn wir nicht gelegentlich einige der armen Geschöpfe retteten, die sich unsinnigerweise von einem unerforschten Fluß zu einem unbekannten Ende treiben lassen, würden sie alle den Pflanzenmenschen und den Affen in die Hände fallen.«

»Doch versucht ihr nicht mit allen Mitteln, den Aberglauben bei den Bewohnern der Außenwelt noch zu fördern?« argumentierte ich. »Das ist die gemeinste eurer Handlungen. Kannst du mir sagen, warum ihr diesen grausamen Betrug noch unterstützt?«

»Alles Leben auf Barsoom wird nur um der heiligen Rasse der Therns willen geschaffen«, sagte sie. »Wie sonst könnten wir leben, wenn die Außenwelt uns nicht Arbeitskräfte und Nahrung zur Verfügung stellte? Glaubst du, ein Thern würde sich selbst dadurch erniedrigen, zu arbeiten?«

»Ist es dann wahr, daß ihr Menschenfleisch eßt?« fragte ich entsetzt.

Voll Mitleid ob meiner Unwissenheit blickte sie mich an.

»Natürlich essen wir das Fleisch der niederen Ordnungen. Ihr nicht auch?«

»Das Fleisch von Tieren wohl, doch nicht das des Menschen«, entgegnete ich.

»Wie der Mensch das Fleisch von Tieren essen kann, so können Götter Menschenfleisch essen. Die Heiligen Therns sind die Götter von Barsoom.«

Ich war angewidert, und ich glaube, ich zeigte das auch.

»Jetzt bist du noch ein Ungläubiger«, fuhr sie sanft fort, »doch wenn es uns gelingen sollte, uns aus den Klauen der schwarzen Piraten zu befreien und zurück an den Hof von Matai Shang zu kommen, denke ich, werden wir ein Argument finden, dich von dem Irrtum deines Denkens zu überzeugen. Und – « Sie zögerte. »Vielleicht finden wir einen Weg, dich als einen von uns zu behalten.«

Wieder senkte sie den Blick, und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Ich verstand den Grund dafür nicht, auch in der nächsten Zeit nicht. Dejah Thoris pflegte zu sagen, daß ich in mancher Hinsicht ein echter Einfaltspinsel bin, und ich nehme an, sie hatte recht damit.

»Ich fürchte, ich werde deinem Vater seine Gastfreundschaft schlecht vergelten«, antwortete ich. »Das erste, was ich als Thern tun würde, ist, eine bewaffnete Wache an der Mündung des Flusses Iss zu postieren, um die armen betrogenen Pilger zurück zur Außenwelt zu geleiten. Auch würde ich mein Leben der Ausrottung der schrecklichen Pflanzenmenschen und ihrer grauenerregenden Gefährten widmen, den großen weißen Affen.«

Von echtem Entsetzen gepackt, blickte sie mich an.

»Nein, nein, du darfst solche unerhörten Gotteslästerungen nicht äußern – so etwas darfst du nicht einmal denken. Sollten sie, falls wir je in die Tempel der Therns zurückkehren, jemals dahinterkommen, daß du derart fürchterliche Gedanken hegst, würden sie dich auf grauenvolle Weise sterben lassen. Nicht einmal mein – « Erneut errötete sie, und sprach dann weiter. »Nicht einmal ich könnte dich retten.«

Ich sagte nichts mehr. Offenbar war es sinnlos. Sie war dem Aberglauben noch mehr verfallen als die Marsmenschen der Außenwelt. Deren Kult bestand in der wunderschönen Hoffnung, ein Leben im Jenseits voller Liebe, Frieden und Glückseligkeit zu führen. Die Therns beteten die entsetzlichen Pflanzenmenschen und die Affen an, oder zumindest verehrten sie diese, da sie die Seelen ihrer eigenen Toten beherbergten.

An dieser Stelle öffnete sich die Tür unseres Gefängnisses, und Xodar trat ein.

Er lächelte mich freundlich an, und dabei zeigte sein Gesichtsausdruck Güte – alles andere als Grausamkeit und Rachsucht.

»Da du sowieso nicht fliehen kannst, sehe ich keine Notwendigkeit, dich unter Deck gefesselt zu halten«, sagte er. »Ich werde deine Fesseln durchschneiden, und du kannst mit nach oben kommen. Du wirst etwas sehr Interessantes miterleben, und da du niemals zur Außenwelt zurückkehrst, kann es nicht schaden. Du wirst etwas zu Gesicht bekommen, von dessen Existenz nur die Erstgeborenen und ihre Sklaven wissen – den unterirdischen Eingang ins Heilige Land, dem wirklichen Paradies von Barsoom. Es wird eine ausgezeichnete Lehrstunde für diese Tochter der Therns sein«, fügte er hinzu. »Sie wird den Tempel von Issus erblicken, und vielleicht auch wird Issus sie in ihre Arme schließen.«

Phaidor reckte das Kinn nach oben.

»Was für eine Gotteslästerung ist das, Hund von einem Piraten?« rief sie. »Issus würde eure gesamte Brut auslöschen, wenn ihr jemals ihrem Tempel zu nahe kämet.«

»Dann hast du noch viel zu lernen, Thern«, entgegnete Xodar mit einem häßlichen Lächeln. »Auch beneide ich dich nicht um die Art und Weise, wie du es lernen wirst.«

Als wir oben anlangten, sah ich zu meiner Überraschung, daß das Luftschiff eine riesige Einöde von Eis und Schnee überquerte. Soweit das Auge blicken konnte, war nirgendwo etwas anderes zu sehen.

Dafür konnte es nur eine Lösung geben: Wir befanden uns über dem Gletscher am Südpol. Auf dem Mars gibt es nur an den Polen Eis und Schnee. Unter uns war kein Leben auszumachen. Offenbar befanden wir uns sogar für die großen Pelztiere zu weit südlich, die die Marsmenschen so gern jagen.

Xodar stand neben mir, als ich über die Reling des Schiffes blickte. »Auf welchem Kurs befinden wir uns?« fragte ich ihn.

»Südsüdwest«, entgegnete er. »Du wirst direkt das Tal Otz sehen, wir werden einige hundert Meilen an ihm entlangfliegen.«

»Das Tal Otz!« rief ich aus. »Aber – liegt dort nicht das Land der Therns, von denen ich gerade erst entkommen bin?«

»Ja, du hast in der letzten Nacht dieses Eisland überquert, als wir dir hinterhergejagt sind. Das Tal Otz liegt in einer riesigen Senke am Südpol, tausend Fuß tiefer als das übrige Land, es ähnelt einem gigantischen, runden Kessel. Einige hundert Meilen von seinem nördlichen Rand erhebt sich das Gebirge Otz, das das Tal Dor einschließt. In dessen Mitte wiederum liegt das Verlorene Meer Korus. Am Ufer dieses Meeres steht der Goldene Tempel von Issus, im Land der Erstgeborenen. Dorthin führt uns unser Weg.«

Als ich umherblickte, begann mir zu dämmern, warum in all den Jahrhunderten nur einem einzigen die Flucht aus dem Tal Dor gelungen war. Eher fand ich es erstaunlich, daß überhaupt jemand Erfolg dabei haben konnte. Es war unmöglich, dieses gefrorene, windgepeitschte, riesige Ödland allein und zu Fuß zu überqueren.

»Nur mit einem Flugzeug konnte man ein solches Unternehmen wagen«, führte ich meine Gedanken laut zuende.

»So ist auch jener einzige den Therns vor langen, langen Zeiten entkommen. Niemandem außer ihm gelang jemals die Flucht aus dem Reich der Erstgeborenen«, sagte Xodar, mit einem Hauch von Stolz in der Stimme.

Inzwischen hatten wir den südlichsten Ausläufer der mächtigen Eisdecke erreicht. Sie endete jählings an einem tausend Fuß hohen Eiswall, dem sich flaches Land anschloß. Dort erhoben sich hier und da niedrige Hügel, man sah Baumgruppen sowie winzige Flüsse, die sich am Fuße der Eisbarriere durch Schmelzwasser gebildet hatten.

Einmal überquerten wir eine tiefe Gebirgsspalte, sie führte von der nun nördlich gelegenen Eiswand quer durch das Tal. Man konnte nicht sehen, wo sie schließlich endete. »Das ist der Fluß Iss«, erklärte Xodar. »Er fließt unter der Eisdecke und tief unter dem Tal Otz entlang, hier jedoch liegt das Flußbett offen.«

Bald darauf entdeckte ich etwas – ich hielt es für ein Dorf. Ich wies darauf und fragte Xodar, was es sei.

»Es ist ein Dorf von verlorenen Seelen«, entgegnete er lachend. »Dieser Streifen zwischen der Eisgrenze und dem Gebirge gilt als neutraler Boden. Einige Pilger brechen die freiwillige Wallfahrt entlang des Iss ab, erklimmen die furchteinflößenden Hänge der Schlucht unter uns und bleiben dann hier. Auch flieht ab und zu ein Sklave von den Therns hierher. Man bemüht sich nicht, diese Flüchtlinge wieder einzufangen, da es aus diesem äußeren Tal kein Entkommen gibt. Außerdem fürchten die Therns die Kreuzer der Erstgeborenen, die das Gebiet überwachen, viel zu sehr, als daß sie sich aus ihrem Land wagen. Auch wir lassen die armseligen Bewohner dieses äußeren Tales in Ruhe, denn sie haben nichts, was wir brauchen, auch sind sie zahlenmäßig nicht stark genug, um uns ein interessantes Gefecht zu liefern – so kümmern wir uns nicht um sie. Von diesen Dörfern gibt es mehrere, doch ist ihre Zahl in den vielen Jahren nur wenig angewachsen, da sie sich ständig bekriegen.«

Nun schlugen wir einen nordnordwestlichen Kurs ein und verließen das Tal der verlorenen Seelen. Bald darauf entdeckte ich auf der Steuerbordseite einen schwarzen Berg, der aus der trostlosen Eiswüste aufragte. Er war nicht hoch und, soweit ich das sehen konnte, oben abgeflacht.

Xodar hatte uns allein gelassen, da er an Bord einer Pflicht nachzugehen hatte. Phaidor und ich standen an der Reling. Das Mädchen hatte kein Wort gesprochen, seit man uns an Deck gebracht hatte.

»Ist das wahr, was er mir erzählt hat?« fragte ich sie.

»Teilweise ja«, entgegnete sie. »Das von dem äußeren Tal ist wahr, doch was er hinsichtlich des Tempels von Issus gesagt hat, daß dieser sich in der Mitte seines Landes befindet, stimmt nicht. Falls es stimmte – «, sie zögerte. »Oh, es kann nicht stimmen, nein. Denn wenn, dann hätte sich mein Volk seit Jahrhunderten in die Hände seiner grausamen Feinde begeben, um dort gefoltert zu werden und auf erniedrigende Weise umzukommen, als das wunderschöne. Ewige Leben zu führen, von dem man uns zu glauben gelehrt hat, daß es uns bei Issus erwartet.«

»So, wie die niederen Barsoomier der Außenwelt von euch in das schreckliche Tal Dor gelockt werden, kann es doch sein, daß die Erstgeborenen mit den Therns auf ähnlich entsetzliche Weise verfahren«, erwiderte ich. »Es wäre eine finstere und grauenvolle Vergeltung, Phaidor, indes eine gerechte.«

»Das kann ich nicht glauben«, sagte sie.

»Wir werden sehen«, antwortete ich. Dann schwiegen wir wieder, denn wir näherten uns zusehends dem schwarzen Berg, der auf irgendeine unklare Weise die Antwort auf unsere Fragen bereitzuhalten schien.

Als wir uns dem dunklen, stumpfen Kegel näherten, verminderte das Luftschiff die Geschwindigkeit, bis es sich kaum noch bewegte. Dann erklomm es den Gipfel, und ich sah, daß unter uns ein riesiger, runder Krater gähnte, dessen Grund in der vorherrschenden pechschwarzen Finsternis nicht mehr zu erkennen war.

Der Durchmesser dieser gigantischen Öffnung maß reichlich eintausend Fuß. Die Wände waren glatt und schienen aus einem schwarzen Basaltgestein zu bestehen.

Einen Augenblick lang verharrte das Luftschiff direkt über dem gähnenden Nichts und begann dann langsam in die schwarze Kluft hinabzutauchen. Immer tiefer ging es. Als uns die Dunkelheit aufgenommen hatte, wurden die Scheinwerfer eingeschaltet, und in deren trübem Schein sank das ungeheure Schlachtschiff immer weiter nach unten, offenbar in das Innere von Barsoom selbst.

Eine halbe Stunde lang ging es abwärts, dann endete der Schacht jählings in einem riesigen, unterirdischen Gewölbe. Unter uns hoben und senkten sich die Wogen eines verborgenen Meeres. Ein phosphoriszierendes Licht erhellte die Umgebung. Auf dem Meer wimmelte es von Schiffen. Hier und da tauchten kleine Inseln auf und bildeten einen Halt für die fremdartige und farblose Vegetation dieser seltsamen Welt.

Langsam und mit majestätischer Anmut sank das Kriegsschiff weiter nach unten, bis es schließlich auf dem Wasser aufsetzte. Während des Abstieges in den Krater waren die großen Propeller eingezogen und geborgen worden, an ihre Stelle waren die kleineren, indes leistungsstärkeren Wasserpropeller getreten. Als sie sich zu drehen begannen, nahm das Schiff seine Reise wieder auf. Es bewegte sich in diesem neuen Element ebenso lebhaft und sicher wie zuvor in der Luft.

Phaidor und ich waren sprachlos. Keiner von uns hatte je von der Existenz einer solchen Welt im Inneren von Barsoom gehört noch davon geträumt.

Fast alle Schiffe, die wir sahen, dienten kriegerischen Zwecken. Es gab einige wenige leichte Lastkähne, doch keines von den großen Handelsschiffen, wie sie zwischen den Städten der Außenwelt verkehren.

»Hier befindet sich der Hafen der Kriegsmarine der Erstgeborenen«, ließ sich eine Stimme hinter uns vernehmen.

Als wir uns umsahen, erblickten wir Xodar, der uns mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen beobachtete.

»Dieses Meer ist größer als Korus«, fuhr er fort. »Es erhält das Wasser von dem kleineren Meer oben. Um zu verhindern, daß es über eine bestimmte Höhe ansteigt, haben wir vier große Pumpstationen, die das überschüssige Wasser zurück in die Speicher oben im Norden leiten, von denen die roten Menschen das Wasser zur Bewässerung der Ländereien beziehen.«

Bei dieser Erklärung ging mir ein Licht auf. Die roten Menschen hatten es immer einem Wunder zugeschrieben, das die Wassermassen aus dem festen Gestein der Seitenwände ihrer Staubecken strömen ließ und den Vorrat an dem wertvollen Naß vergrößerte, das in der Außenwelt des Mars so knapp ist.

Nie vermochten ihre Weisen das Geheimnis zu ergründen, woher diese Unmassen an Wasser stammten. Im Laufe der Jahrhunderte hatten sie dann einfach begonnen, es als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren und hatten aufgehört, nach den Ursachen zu forschen.

Wir kamen an mehreren Inseln vorbei, auf denen man seltsam geformte Rundbauten sehen konnte. Sie hatten offenbar keine Dächer, und dicke Gitter befanden sich vor den kleinen Fenstern, die die Wände in der Mitte zwischen Boden und Gebäudespitze durchbrachen. Dem Aussehen nach mußten es Gefängnisse sein: Bewaffnete Posten, die vor den Gebäuden auf flachen Bänken hockten, verliehen dieser Annahme weiteren Nachdruck.

Wenige dieser Inseln waren größer als ein Morgen Land, doch bald sichteten wir vor uns eine wesentlich größere. Dorthin sollte uns auch unsere Reise führen, und bald darauf wurde das große Schiff an einem steilen Ufer festgemacht.

Xodar hieß uns ihm folgen. Mit einem halben Dutzend Offiziere und Mannschaften gingen wir von Bord und näherten uns einem riesigen, ovalen Bauwerk einige hundert Yards vom Strand entfernt.

»Bald sollst du Issus sehen«, sagte Xodar zu Phaidor. »Wir führen ihr die wenigen Gefangenen vor, die wir machten. Gelegentlich sucht sie sich einige von ihnen als Sklaven aus, um ihre Dienerschaft aufzufüllen. Niemand dient Issus länger als ein einziges Jahr.« Auf den Lippen des Schwarzen zeigte sich ein böses Lächeln, das dieser einfachen Erklärung eine grausame und unheilvolle Bedeutung verlieh.

Obwohl sich Phaidor weigerte, zu glauben, daß Issus derartige Verbündete besaß, hatten sich ihrer Zweifel und Ängste bemächtigt. Sie klammerte sich fest an mich und war nicht länger die stolze Tochter der Herren des Lebens und Todes auf Barsoom, sondern ein junges und erschrecktes Mädchen, das sich in der Gewalt erbarmungsloser Feinde befand.

Das Gebäude, das wir nun betraten, war nicht überdacht. In der Mitte befand sich ein langes Wasserbecken, das wie im Schwimmbad in den Boden eingelassen worden war. Darin schwamm ein schwarzer Gegenstand von merkwürdigem Aussehen. Ob es ein fremdartiges Monster war, das aus diesen unterirdischen Gewässern stammte, oder ein seltsames Floß, konnte ich nicht gleich erkennen.

Dennoch sollten wir das bald erfahren, denn als wir am Rand des Beckens neben dem Gegenstand standen, rief Xodar einige Worte in einer fremden Sprache. Augenblicklich öffnete sich oben eine Luke, und ein schwarzer Seemann sprang aus dem Inneren des seltsamen Gefährtes.

Xodar sprach den Matrosen an: »Übergib deinem Offizier Dator Xodars Befehle. Teile ihm mit, daß Dator Xodar mit Offizieren und Mannschaften zwei Gefangene begleitet, die in die Gärten von Issus beim Goldenen Tempel gebracht werden sollen.«

»Gesegnet sei die Schale deines ersten Ahnen, edelster Dator«, entgegnete der Mann. »Es soll genauso geschehen, wie du gesagt.« Er hob beide Hände mit den Handflächen nach hinten über den Kopf, so wie sich alle Völker auf Barsoom zu begrüßen pflegen, und verschwand erneut im Inneren seines Schiffes.

Einen Augenblick später erschien ein Offizier in einer seinem Range gemäßen prächtigen Ausrüstung an Deck und hieß Xodar auf das Schiff kommen. Wir kletterten hinter ihm an Bord und begaben uns nach unten.

Die Kajüte, in der wir uns wiederfanden, war so breit wie das Fahrzeug selbst und hatte zu beiden Seiten unterhalb des Wasserspiegels Bullaugen. Kaum waren alle unten, wurden einige Befehle gegeben, in deren Folge auch die Luke verschlossen und gesichert wurde, und das Boot begann unter dem rhythmischen Schnurren der Maschinen zu vibrieren.

»Wohin kann es in einem solch winzigen Wasserbecken gehen?« fragte Phaidor.

»Nicht nach oben«, entgegnete ich. »Denn mir ist aufgefallen, daß das Gebäude anstelle eines Daches ein starkes Metallgitter hat.«

»Wohin dann?« fragte sie wieder.

»Dem Aussehen des Fahrzeuges nach geht es abwärts«, antwortete ich.

Phaidor erschauderte. Seit solch unzähligen Jahrhunderten kennen die Barsoomier die Marsmeere nur noch aus Überlieferungen, so daß sogar diese Tochter der Therns sich ebenso vor dem tiefen Wasser fürchtete wie alle anderen Marsmenschen, obwohl sie in Sichtweite des letzten Mars-Meeres geboren worden war.

Bald daraufspürten wir sehr deutlich, daß wir sanken. Schnell ging es immer weiter in die Tiefe. Nun konnten wir das Wasser an den Bullaugen rauschen hören, und im trüben Licht, das durch sie einfiel, konnte man deutlich sehen, wie sich Strudel bildeten.

Phaidor ergriff meinen Arm.

»Rette mich«, flüsterte sie. »Rette mich, und jeder deiner Wünsche soll dir gewährt werden. Alles, was dir die Heiligen Therns zu geben vermögen, wird dein sein. Phaidor – « Hier stotterte sie ein bißchen, dann wurde sie sehr leise. »Phaidor ist bereits dein.«

Mich ergriff Mitleid für das arme Kind, und ich legte meine Hand auf die ihre. Ich vermute, meine Motive wurden mißverstanden, denn nachdem sie sich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte, daß wir allein waren, warf sie mir die Arme um den Hals und zog mein Gesicht an das ihre.

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