Wieder im Palast, zog ich Sola zum Speisesaal, und nachdem sie ihren Vater in der Art und Weise der grünen Menschen begrüßt hatte, begann sie von der Pilgerfahrt und Gefangennahme von Dejah Thoris zu berichten.
»Vor sieben Tagen ertappte ich Dejah Thoris nach ihrer Audienz mit Zat Arrras mitten in der Nacht dabei, wie sie sich aus dem Palast stehlen wollte. Obwohl ich nicht wußte, wie ihr Gespräch mit Zat Arrras verlaufen war, ahnte ich, daß etwas vorgefallen war, das ihr große seelische Pein verschaffte, und als ich sie erblickte, mußte mir nicht gesagt werden, was sie vorhatte. Ich weckte schnell ein Dutzend ihrer treuesten Wachposten und legte ihnen meine Befürchtungen dar. Einmütig erklärten sich alle bereit, die geliebte Prinzessin auf ihrem Weg zu begleiten, auch wenn dieser zur Heiligen Iss oder ins Tal Dor führte. Ein kurzes Stück hinter dem Palast holten wir sie ein. Nur Woola, der treue Hund, war bei ihr. Als sie uns erblickte, wurde sie wütend und befahl uns, zum Palast zurückzukehren. Doch dieses eine Mal gehorchten wir nicht. Als sie sah, daß wir sie nicht allein auf die letzte Pilgerfahrt gehen lassen würden, brach sie in Tränen aus, umarmte uns, und gemeinsam marschierten wir durch die Nacht gen Süden. Am nächsten Tag stießen wir auf eine Herde von kleinen Thoats, saßen auf und kamen fortan schnell voran, so daß wir uns bereits tief im Süden befanden, als wir am Morgen des fünften Tages eine große, in nördlicher Richtung segelnde Kriegsflotte auf uns zukommen sahen. Sie erblickten uns, bevor wir uns verbergen konnten, und bald waren wir von einer Horde schwarzer Männer umzingelt. Die Soldaten der Prinzessin kämpften tapfer bis zuletzt, wurden jedoch schnell überwältigt. Nur Dejah Thoris und ich blieben am Leben. Als der Prinzessin klar wurde, daß sie den schwarzen Piraten in die Hände gefallen war, versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Doch einer der Schwarzen entriß ihr den Dolch, und dann fesselten sie uns, so daß wir nicht einmal die Hände bewegen konnten. Nach unserer Gefangennahme setzte die Flotte ihren Weg nach Norden fort. Alles in allem waren es ungefähr zwanzig große Kriegsschiffe, abgesehen von einigen kleineren schnellen Kreuzern. An diesem Abend kehrte eines der kleineren Flugzeuge, das der Flotte weit vorausgeeilt war, mit einer Gefangenen zurück – einer jungen roten Frau, die man in einem Gebirge aufgegriffen hatte, direkt vor der Nase einer aus drei Kriegsschiffen bestehenden Flotte roter Marsmenschen. Gesprächsfetzen, die wir aufschnappten, entnahmen wir, daß die schwarzen Piraten nach einer Gruppe von Flüchtlingen suchten, die ihnen einige Tage zuvor entwischt war. Daß die Gefangennahme der jungen roten Frau für sie wichtig war, sah man daran, daß der Flottenkapitän ein langes, ernstes Gespräch mit ihr führte. Später wurde sie gefesselt zu Dejah Thoris und mir in die Kabine gebracht. Die neue Gefangene war sehr hübsch. Sie erzählte Dejah Thoris, daß sie vor vielen Jahren die freiwillige Pilgerfahrt vom Hofe ihres Vaters, dem Jeddak von Ptarth, angetreten hatte. Sie hieß Thuvia und war die Prinzessin von Ptarth. Dann fragte sie Dejah Thoris nach ihrem Namen, und als sie diesen vernahm, kniete sie nieder, küßte Dejah Thoris’ gefesselte Hände und erzählte ihr, daß sie noch an eben jenem Morgen mit John Carter, Prinz von Helium, und Carthoris, ihren Sohn, zusammen gewesen war.
Dejah Thoris glaubte ihr zuerst nicht, doch schließlich, als die junge Frau all die seltsamen Abenteuer geschildert hatte, die ihr zugestoßen waren, seit sie John Carter getroffen hatte, sowie die Dinge, die John Carter, Carthoris und Xodar von ihrem Aufenthalt im Land der Erstgeborenen berichtet hatten, wußte Dejah Thoris, daß es niemand anders sein konnte als der Prinz von Helium. ›Denn wer auf ganz Barsoom, wenn nicht John Carter, hätte all die Taten vollbringen können, von denen du erzählt hast‹, sagte sie. Und als Thuvia Dejah Thoris von ihrer Liebe für John Carter berichtet hatte, seiner Treue und Untergebenheit für die von ihm erwählte Prinzessin, brach Dejah Thoris zusammen und weinte – verfluchte Zat Arrras und das grausame Schicksal, das sie aus Helium vertrieben hatte.«
»Ich nehme dir nicht übel, daß du ihn liebst, Thuvia«, sagte sie. »Dein aufrichtiges Bekenntnis zeigt mir, daß dein Gefühl für ihn rein und ehrlich ist.«
Die Flotte setzte den Weg nach Norden fort und kam fast bis Helium, doch letzte Nacht wurde den Piraten offensichtlich klar, daß John Carter ihnen tatsächlich entkommen war, und so gingen sie wieder auf Kurs nach Süden. Kurz danach betrat ein Wachposten unser Abteil und zerrte mich an Deck.
»Für eine grüne ist kein Platz im Land der Erstgeborenen«, sagte er und versetzte mir bei diesen Worten einen fürchterlichen Stoß, der mich über Bord gehen ließ. Offensichtlich schien ihm das der einfachste Weg zu sein, das Fahrzeug von meiner Anwesenheit zu befreien und mich gleichzeitig zu töten. Doch das Schicksal meinte es gut mit mir, und wie durch ein Wunder überlebte ich, nur leicht verletzt. Das Schiff flog zu diesem Zeitpunkt sehr langsam, und als ich vom Deck in die Dunkelheit stürzte, erschauderte ich angesichts des schrecklichen Endes, das mir, so glaubte ich, bevorstand, denn den ganzen Tag hatte sich die Flotte in eintausend Fuß Höhe befunden. Doch zu meiner großen Überraschung landete ich keine zwanzig Fuß weiter unten auf einer weichen Pflanzendecke. Eigentlich hätte der Kiel des Schiffes zu dieser Zeit den Boden streifen müssen. Ich blieb die ganze Nacht dort liegen, wo ich aufgekommen war, und der nächste Morgen erklärte mir, welchem Glücksumstand ich mein Leben zu verdanken hatte. Bei Sonnenaufgang bot sich mir weit unten der Ausblick auf einen schier endlosen Meeresgrund. In der Ferne sah ich ein Gebirge. Ich befand mich auf dem höchsten Gipfel einer Gebirgskette. Die Flotte hatte den Bergkamm in der nächtlichen Finsternis beinahe gestreift, und in der kurzen Zeit, in der sie dicht darüber hinweggeflogen war, hatte der schwarze Wachposten mich hinausgeworfen, seines Glaubens in den Tod. Einige Meilen westlich von mir erblickte ich eine große Wasserstraße. Als ich sie erreichte, stellte ich zu meiner Freude fest, daß sie Helium gehörte. Hier beschaffte man mir ein Thoat – und den Rest kennt ihr.
Einige Minuten herrschte Stille. Dejah Thoris in den Händen der Erstgeborenen! Ich erschauderte bei dem Gedanken, doch plötzlich flackerte in mir wieder mein altes grenzenloses Selbstvertrauen auf. Ich sprang auf und gelobte mit entschlossener Haltung und erhobenem Schwert feierlich, mich auf den Weg zu meiner Prinzessin zu machen, sie zu befreien und zu rächen.
Einhundert Schwerter fuhren aus einhundert Scheiden, und einhundert Kriegsmänner sprangen zum Kopfende der Tafel und versprachen mir, mich mit ihrem Leben und Vermögen bei der Expedition zu unterstützen. Meine Pläne standen bereits fest. Ich dankte einem jeden meiner treuen Freunde, und zog mich, Carthoris leistete ihnen weiter Gesellschaft, mit Kantos Kan, Tars Tarkas, Xodar und Hor Vastus in mein Audienzzimmer zurück.
Hier besprachen wir bis tief in die Nacht die Einzelheiten unseres Vorgehens. Xodar war davon überzeugt, daß Issus sowohl Dejah Thoris als auch Thuvia für ein Jahr als Dienerinnen zu sich holen würde.
»So lange werden sie zumindest verhältnismäßig sicher sein, und wir wissen, wo wir nach ihnen suchen müssen«, sagte er.
Die Einzelheiten der Ausrüstung der Flotte, mit der wir uns nach Omean begeben würden, wurden Kantos Kan und Xodar überlassen. Ersterer erklärte sich bereit, so schnell wie möglich solche Fahrzeuge, wie wir sie benötigten, ins Dock zu nehmen, wo Xodar ihre Ausrüstung mit Wasserpropellern leiten würde.
Jahrelang war der Schwarze dafür verantwortlich gewesen, die geraubten Fahrzeuge so umzubauen, daß sie Omean beschiffen konnten. Demzufolge war er bestens mit der Bauart der benötigten Propeller, der Unterkünfte und der zusätzlichen Getriebe vertraut.
Unsere Vorbereitungen würden schätzungsweise etwa sechs Monate in Anspruch nehmen, angesichts der Tatsache, daß das Projekt vor Zat Arrras absolut geheimgehalten werden mußte. Kantos Kan war überzeugt, daß der Ehrgeiz des Mannes erwacht war und er sich mit nichts Geringerem als dem Rang des Jeddaks von Helium zufrieden geben würde.
»Ich zweifle sogar daran, daß er Dejah Thoris’ Rückkehr begrüßen würde, denn dann gäbe es jemanden, der dem Thron näher stünde als er. Wärest du und Carthoris ihm nicht mehr im Weg, so hielte ihn nur wenig davon ab, den Titel des Jeddaks anzunehmen, und du kannst davon ausgehen, daß ihr beide nicht sicher seid, so lange er hier an der Macht ist.«
»Es gibt einen Weg, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, und zwar einen endgültigen«, rief Hor Vastus.
»Welchen?« fragte ich.
Er lächelte. »Ich werde es hier nur flüstern, doch eines Tages werde ich es vom Dach des Tempels der Vergeltung den jubelnden Massen verkünden.«
»Und was?« fragte Kantos Kan.
»John Carter, Jeddak von Helium«, sagte Hor Vastus leise.
Die Augen meiner Freunde leuchteten auf, und ein freudiges und hoffnungsvolles Lächeln trat in ihre finsteren Gesichter. Sie blickten mich fragend an. Doch ich schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: »Nein, meine Freunde, ich danke euch, doch es kann nicht sein. Zumindest noch nicht. Wenn wir erfahren, daß Tardos Mors und Mors Kajak nie wieder zurückkehren, werde ich, sollte ich hier sein, mich zu euch gesellen und dabei zusehen, wie das Volk von Helium von seinem Recht Gebrauch macht, seinen nächsten Jeddak zu wählen. Wen, das mag von der Treue meines Schwertes abhängen, doch werde ich diese Ehre nicht für mich suchen. Bis dahin ist Tardos Mors der Jeddak von Helium und Zat Arrras sein Vertreter.«
»Wie du meinst, John Carter«, sagte Hor Vastus, »Doch – was war das?« flüsterte er und wies auf das Fenster zum Garten.
Die Worte waren kaum aus seinem Munde, als er schon hinaus auf den Balkon eilte.
»Dort läuft er!« rief er aufgeregt. »Wachen! Dort unten! Wachen!«
Wir standen dicht hinter ihm und sahen einen Mann über ein kleines Rasenstück rennen und dahinter im Gebüsch verschwinden.
»Er war auf dem Balkon, als ich ihn erblickte. Schnell, hinterher!« rief Hor Vastus.
Wir stürmten in den Garten, doch obwohl wir die Anlage stundenlang mit der ganzen Wache absuchten, war keine Spur des nächtlichen Eindringlings zu finden.
»Was hältst du davon, Kantos Kan?« fragte Tars Tarkas.
»Ein Spion von Zat Arrras. Das war schon immer seine Art«, entgegnete dieser.
»Dann wird er seinem Herren etwas sehr Interessantes zu berichten haben«, lachte Hor Vastus.
»Ich hoffe, er hat nur unsere Anspielungen auf einen neuen Jeddak vernommen«, sagte ich. »Sollte er unsere Pläne zur Befreiung Dejah Thoris’ mitangehört haben, bedeutet das Bürgerkrieg, denn dann wird er versuchen, uns daran zu hindern, und das lasse ich mir nicht gefallen. Dabei würde ich mich gegen Tardos Mors selbst wenden, wenn das nötig wäre. Ich werde weitermachen, um meiner Prinzessin zu dienen. Nichts außer dem Tod soll mich davon abhalten. Sollte ich sterben, meine Freunde, schwört ihr mir, daß ihr die Suche nach ihr fortsetzt und sie unbeschadet an den Hof ihres Großvaters zurückbringt?«
Bei der Klinge seines Schwertes gelobte ein jeder, zu tun, wie ich gebeten.
Wir beschlossen, die Kriegsschiffe, die umgebaut werden sollten, nach Hastor zu beordern, einer heliumitischen Stadt weit im Südwesten. Kantos Kan glaubte, die dortigen Docks könnten sich zusätzlich zu ihrer üblichen Arbeit noch auf jeweils mindestens sechs Kriegsschiffe einstellen. Als oberster Befehlshaber der Marine war es ihm ein Leichtes, die Fahrzeuge dorthin zu befehlen und danach die umgebaute Flotte in abgelegenen Gebieten des Reiches vor Anker gehen zu lassen, bis wir bereit waren, sie zum Sturm auf Omean zusammenzurufen.
Es war spät am Abend, als sich unsere Versammlung auflöste, doch jedem der Männer waren fest umrissene Pflichten zugeteilt worden, und jede Einzelheit des Planes war geklärt.
Kantos Kan und Xodar sollten sich um den Umbau der Schiffe kümmern. Tars Tarkas wollte mit den Thark in Verbindung treten und herausfinden, wie das Volk seine Rückkehr aus Dor aufnahm. Waren sie dieser wohlgesonnen, sollte er sich augenblicklich nach Thark begeben und die Zeit nutzen, eine große Horde grüner Krieger zusammenzuziehen, die unserem Plan nach mit Transportflugzeugen direkt zum Tal Dor und dem Tempel Issus gebracht werden sollten, während die Flotte in Omean eindringen und die Fahrzeuge der Erstgeborenen zerstören sollte.
Auf Hor Vastus’ Schultern ruhte die heikle Aufgabe, eine geheime Gruppe von Soldaten zu organisieren, die schwören mußten, John Carter zu folgen, wohin auch immer das sein mochte. Da wir schätzten, daß über eine Million Mann vonnöten waren, um die tausend großen Kriegsschiffe zu bemannen, die wir für Omean planten, die Transporflugzeuge für die grünen Menschen, als auch die Begleitschiffe, war es keine einfache Angelegenheit, die Hor Vastus zu bewältigen hatte.
Nach ihrem Aufbruch wünschte ich Carthoris eine gute Nacht, denn ich war sehr müde, begab mich in meine Gemächer, nahm ein Bad und legte mich auf meinen seidenen Schlaftüchern und Fellen zur ersten ruhigen Nacht seit meiner Rückkehr nach Barsoom nieder. Doch sogar jetzt sollte meine Hoffnung enttäuscht werden.
Wie lange ich schlief, weiß ich nicht. Unerwartet fand ich ein halbes Dutzend starke Männer über mir, ein Knebel steckte mir bereits im Mund. Einen Augenblick später hatten sie meine Arme und Beine gefesselt. Sie gingen so schnell und geschickt zu Werke, daß ich absolut nicht in der Lage war, mich zu befreien, als ich wieder bei vollem Bewußtsein war.
Nicht ein Wort fiel zwischen ihnen, und der Knebel hielt mich sehr wirkungsvoll vom Sprechen ab. Schweigend hoben sie mich auf und trugen mich hinaus. Als sie an dem Fenster vorbeikamen, durch das die hellen Strahlen des zweiten Mondes fielen, sah ich, daß jeder von ihnen das Gesicht mit Seidentüchern verhüllt hatte – ich erkannte nicht einen von ihnen.
Auf dem Korridor wandten sie sich dann in Richtung einer Geheimtür in der Wandtäfelung, von wo ein Gang zu den Gewölben unter dem Palast führte. Ich hatte meine Zweifel daran, daß irgendein Außenstehender von diesem Geheimgang wußte. Doch der Anführer der Gruppe zögerte nicht eine Sekunde. Er trat direkt auf die Täfelung zu, berührte den verborgenen Knopf, und als die Tür aufschwang, blieb er stehen und ließ erst seine Leute mit mir hineingehen. Dann folgte er uns, nachdem er die Geheimtür wieder hinter sich geschlossen hatte.
Es ging in Richtung der Gewölbe, durch sich windende Gänge, die ich selbst nie zuvor erforscht hatte, immer weiter, bis wir nach meiner Überzeugung das Palastgelände schon weit hinter uns gelassen haben mußten. Dann stieg der Weg wieder an.
Schließlich blieb die Gruppe vor einer weißen Wand stehen. Der Anführer klopfte mit dem Griff seines Schwertes dagegen –er tat drei kurze und deutliche Schläge, hielt dann inne, tat noch einmal drei weitere, wartete wieder und klopfte dann zweimal. Eine Sekunde später glitt die Wand nach innen, und ich wurde in ein hell erleuchtetes Gemach gestoßen, in dem drei reich geschmückte Männer saßen.
Einer von ihnen wandte sich um, ein böses Lächeln auf den dünnen, unbarmherzigen Lippen – es war Zat Arrras.