12. Zum Tode verurteilt

Einen Augenblick blieb ich stehen, bevor sie über mich herfielen, doch dann ließ mich ihr Ansturm ein, zwei Schritte zurückweichen. Mein Fuß tastete nach dem Boden, trat jedoch ins Leere. Ich befand mich an der Öffnung, in der Issus verschwunden war. Eine Sekunde lang hielt ich die Balance, dann zog es mich mit dem Jungen in den Armen rückwärts in den schwarzen Abgrund.

Wir landeten auf einer glatten Rinne und schossen nach unten. Die Klappe über uns schloß sich ebenso magisch, wie sie sich geöffnet hatte. Unversehrt gelangten wir in einem schwach beleuchteten Gemach tief unter der Arena an.

Das erste, was ich sah, als ich mich erhob, war die boshafte Miene von Issus, die mich durch die schweren Eisenstangen einer Gittertür auf der anderen Seite des Raumes anstarrte.

»Tollkühner Sterblicher!« kreischte sie. »Du sollst in dieser geheimen Zelle aufs schrecklichste für deine Gotteslästerungen bestraft werden. Hier sollst du allein dein Dasein neben dem verwesenden Leichnam deines Gefährten in der Dunkelheit fristen, bis du, durch Einsamkeit und Hunger wahnsinnig, dich von den Maden ernährst, die aus dem gekrochen kommen, was einst ein Mensch gewesen ist.«

Das war alles. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, und das Halbdunkel des Raumes wich einer pechschwarzen Finsternis.

»Nette alte Dame«, vernahm ich eine Stimme neben mir. »Wer spricht da?« fragte ich.

»Ich, dein Gefährte, der an diesem Tag die Ehre hatte, Seite an Seite mit dem größten Krieger zu kämpfen, der mit seinem Metall je auf Barsoom gekämpft hat.«

»Gott sei Dank, daß du nicht tot bist. Ich habe wegen dem schrecklichen Schlag, den man dir versetzt hat, schon das Schlimmste befürchtet«, entgegnete ich.

»Er hat mich nur ohnmächtig gemacht«, erwiderte er. »Es ist lediglich ein Kratzer.«

»Vielleicht wäre der andere Fall besser gewesen«, sagte ich. »Wir sitzen ganz schön in der Klemme und scheinen beste Aussichten zu haben, an Hunger und Durst zugrunde zu gehen.«

»Wo sind wir?«

»Unter der Arena«, entgegnete ich. »Wir sind in den Schacht gestürzt, in den sich Issus rettete, als wir sie schon beinahe hatten.«

Er lachte leise vor Freude und Erleichterung, tastete dann durch die pechschwarze Finsternis nach meiner Schulter und zog mich zu sich.

»Besser könnte es gar nicht sein«, flüsterte er mir ins Ohr. »Auch die Geheimnisse von Issus haben Geheimnisse, von denen Issus nicht einmal träumt.«

»Was meinst du?«

»Vor einem Jahr habe ich mit den anderen Sklaven hier am Ausbau dieser unterirdischen Gänge gearbeitet. Dabei stießen wir weiter unten auf ein uraltes System von Gängen und Gemächern, das seit Jahrhunderten fest verschlossen war. Die Schwarzen, die mit der Angelegenheit betraut worden waren, erforschten sie und nahmen einige von uns für eventuell anfallende Arbeiten mit. Ich kenne mich hier aus. Über Meilen hinweg führen Gänge unter den Gärten und sogar dem Tempel selbst entlang. Es gibt einen Weg nach unten, durch den man zu dem unterirdischen Wasserweg in Richtung Omean gelangt. Gelingt es uns, unentdeckt zum U-Boot zu kommen, könnten wir zum Meer fliehen, wo es viele Inseln gibt, die die Schwarzen niemals aufsuchen. Dort könnten wir eine Zeitlang leben, und wer weiß, vielleicht findet sich dort etwas, das uns auf der Flucht von Nutzen ist?«

Er hatte in leisem Flüsterton gesprochen, offenbar aus Furcht, daß man uns sogar hier noch belauschte, und so antwortete ich ebenso leise: »Bring mich zurück nach Shador, mein Freund. Xodar, der Schwarze ist noch dort. Wir wollten gemeinsam fliehen – ich kann ihn nicht im Stich lassen.«

»Nein, man kann einen Freund nicht im Stich lassen; dann heißt es schon lieber die Gefangenschaft in Kauf nehmen«, entgegnete der Junge.

Er begann, den Boden der dunklen Kammer nach der Luke abzutasten, durch die man zu den darunter gelegenen Gängen gelangte. Schließlich rief er mich durch ein leises ›S-s-st‹ zu sich. Ich kroch seiner Stimme hinterher. Er kniete am Rand einer Öffnung.

»Hier geht es ungefähr zehn Fuß nach unten. Laß dich an den Händen hinunter, dann landest du unversehrt auf einem glatten, weichen Sandboden.«

Lautlos ließ ich mich von der finsteren Zelle über mir in die Dunkelheit unter mir hinab. Es war so düster, daß man die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Ich kann mich nicht entsinnen, je zuvor eine solche Finsternis erlebt zu haben wie in den Katakomben von Issus.

Einen Augenblick hing ich in der Luft. Das merkwürdige Gefühl, das man bei einem derartigen Unterfangen bekommt, ist ziemlich schwer zu beschreiben. Wenn sich unter den Füßen nur leere Luft befindet und man aufgrund der Dunkelheit den Boden nicht erkennen kann, dann ergreift einen so etwas wie Panik bei dem Gedanken, loszulassen und den Sprung in die unbekannte Tiefe zu wagen.

Obwohl der Junge mir mitgeteilt hatte, daß es nur zehn Fuß bis nach unten waren, schauderte mir ebenso, als hinge ich über einem unendlichen Abgrund. Dann ließ ich los und landete vier Fuß weiter unten auf einem weichen Sandkissen.

Der Junge folgte mir.

»Heb mich auf deine Schultern, ich werde die Klappe zurückschieben«, sagte er.

Gesagt – getan. Nun nahm er meine Hand und ging sehr langsam voran, tastete unsere Umgebung ab und blieb häufig stehen, um sich zu vergewissern, daß wir nicht aus Versehen in einen falschen Gang gerieten.

Schließlich schlugen wir einen steil abfallenden Weg ein.

»Bald wird es heller. In den unteren Schichten gibt es dieselben phosphoreszierenden Gesteinsbrocken wie in Omean«, sagte er.

Niemals werde ich den Marsch durch die Katakomben von Issus vergessen. Auch wenn er ohne Zwischenfälle verlief, war er für mich abenteuerlich und spannend, ich glaube, größtenteils wegen der unbekannten Geschichte dieser lang vergessenen Gänge. Jene Dinge, die ich aufgrund der pechschwarzen Finsternis nicht zu sehen bekam, können nicht halb so schön gewesen sein wie das, was mir meine Phantasie zeigte, in der die einstigen Bewohner dieser sterbenden Welt wieder auferstanden. Viele Rätsel waren mit ihnen verbunden. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Mühen, Intrigen und Grausamkeiten, unter denen sie sich auf das letzte Gefecht mit den heranstürmenden Horden der ausgetrockneten Meere vorbereiteten, von denen sie schließlich Schritt für Schritt in den entlegensten Teil der Welt zurückgetrieben wurden, wo sie sich hinter einer undurchdringlichen Mauer von Aberglauben verschanzten.

Neben den grünen Marsmenschen hatte es auf Barsoom drei große Völkergruppen gegeben: Schwarze, weiße und gelbe Menschen. Als der Wasservorrat des Planeten zur Neige ging und die Meere zusehends austrocketen, schwanden auch alle anderen Ressourcen, so daß das Leben auf dem Planeten zu einem ständigen Kampf ums Überleben wurde.

Die verschiedenen Rassen hatten sich über Jahrhunderte hinweg bekriegt, und die drei höherentwickelten Völker hätten die grünen Wilden der Meere mit Leichtigkeit besiegt, doch nun, da sie aufgrund der zurückweichenden Gewässer dazu gezwungen waren, die mit Festungswällen umgebenen Städte für immer zu verlassen und ein mehr oder weniger nomadenartiges Leben zu führen, in dessen Verlaufe sie sich in mehrere kleinere Gemeinschaften teilten, fielen sie bald den wilden Horden der grünen Marsmenschen zum Opfer. Das Ergebnis war eine teilweise Verschmelzung der schwarzen, weißen und gelben Menschen, den Vorfahren des edlen Volkes der roten Menschen.

Ich war immer der Annahme gewesen, daß alle Spuren der ursprünglichen Rassen von der Marsoberfläche verschwunden waren, doch hatte ich in den vergangenen vier Tagen sowohl die weißen als auch die schwarzen Menschen in großer Anzahl kennengelernt. Vielleicht lebten dann auch in irgendeinem entlegenen Landstrich des Planeten auch noch Angehörige der uralten Rasse der gelben Menschen?

Meinen Träumereien wurde von einem leisen Ausruf des Jungen ein Ende gesetzt.

»Endlich, der helle Weg«, rief er. Als ich aufblickte, sah ich weit vor uns ein schwaches Strahlen.

Beim Näherkommen wurde das Licht stärker, bis wir uns schließlich in gut beleuchteten Gängen wiederfanden. Von da an kamen wir schnell voran und standen plötzlich am Ende eines Ganges vor dem Wasserbecken mit dem U-Boot.

Das Fahrzeug befand sich am Liegeplatz, die Einstiegsluke geöffnet. Der Junge legte den Finger an die Lippen, tippte bedeutungsvoll an sein Schwert und kroch lautlos auf das Gefährt zu. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen.

Leise kletterten wir auf das menschenleere Deck und krochen auf allen vieren in Richtung der Luke. Ein kurzer Blick nach unten zeigte uns, daß weit und breit kein Wachposten zu sehen war. Schnell und lautlos wie Katzen ließen wir uns in den Hauptraum des Unterseebootes fallen. Selbst hier befand sich keine Menschenseele. Schnell schlossen und sicherten wir die Luke.

Der Junge trat in den Steuerraum, drückte auf einen Knopf, und das Boot tauchte senkrecht durch das strudelnde Wasser in Richtung Grund. Auch dann ließen sich keine eiligen Schritte vernehmen, wie wir es eigentlich erwartet hatten. Während der Junge zurückblieb, um das Boot zu steuern, schlich ich auf der Suche nach Mitgliedern der Besatzung von Kabine zu Kabine. Ohne Ergebnis. Das Boot war menschenleer. Ein solches Glück schien fast unglaublich.

Als ich in den Steuerraum zurückkehrte, um meinem Gefährten die gute Neuigkeit mitzuteilen, reichte er mir ein Blatt Papier mit den Worten: »Das erklärt die Abwesenheit der Mannschaft.«

Es war eine Funknachricht an den Kapitän des Unterseebootes:

›Die Sklaven haben sich gegen uns erhoben. Kommt mit allen Männern, die ihr habt und die ihr unterwegs sammeln könnt. Es ist zu spät, um von Omean Hilfe anzufordern. Sie richten im Amphitheater ein Massaker an. Issus ist in Gefahr! Beeilt euch!‹

Zithad‹

»Zithad ist Dator der Garden von Issus«, erklärte der Junge. »Wir haben ihnen einen tüchtigen Schrecken eingejagt – den werden sie nicht so schnell vergessen.«

»Hoffen wir, daß das der Anfang vom Ende von Issus ist«, sagte ich.

»Das weiß nur unser erster Ahne«, entgegnete er.

Unbehelligt erreichten wir die Anlegestelle in Omean. Hier erwogen wir, ob es ratsam war, das Gefährt nach unserem Verlassen zu versenken. Schließlich entschieden wir uns jedoch dagegen, da dies unserem Entkommen auch nicht weiter nützen würde. Falls man uns sah, würden genügend Schwarze aus Omean unsere Flucht zu vereiteln suchen, und es spielte dann keine weitere Rolle, wieviel dann noch aus den Tempeln und Gärten von Issus hinzukommen würden.

Wir befanden uns nun in der Verlegenheit, an den Wachposten vorbei zu müssen, die die Insel, auf der sich die Anlegestelle befand, überwachten. Schließlich fiel mir etwas ein.

»Wie sind Name und Titel des diensthabenden Offiziers dieser Wachen?« fragte ich den Jungen.

»Ein Mann namens Torith hatte Dienst, als wir an diesem Morgen hier eintrafen«, entgegnete er.

»Gut. Und wie heißt der Kapitän des Unterseebootes?« »Yersted.«

Ich fand eine leere Depesche in der Kajüte und schrieb darauf folgenden Befehl:

›Dator Torith: Bring diese beiden Sklaven sofort nach Shador zurück!

Yersted‹

»Damit wird der Rückweg einfacher«, sagte ich lächelnd, als ich dem Jungen den gefälschten Befehl überreichte. »Komm, wir werden sehen, wie es funktioniert.«

»Aber unsere Schwerter!« rief er aus. »Wie sollen wir erklären, daß wir bewaffnet sind?«

»Da wir das nicht erklären können, sollten wir sie hinter uns zurücklassen«, erwiderte ich.

»Ist es nicht zu vermessen, uns allein und unbewaffnet wieder in die Hände der Erstgeborenen zu begeben?«

»Es ist der einzige Weg«, antwortete ich. »Du kannst mir glauben, daß ich einen Weg aus dem Gefängnis von Shador finde, und ich denke, wenn wir erst einmal draußen sind, werden wir uns mühelos wieder bewaffnen können, in diesem Land, in dem es von bewaffneten Männern nur so wimmelt.«

»Wie du meinst«, entgegnete er mit einem Achselzucken. »Du hast mein vollstes Vertrauen, ich würde niemand anderem folgen. Komm, laß uns ausprobieren, ob deine List funktioniert.«

Die Schwerter hinter uns zurücklassend, kletterten wir unerschrocken aus der Luke des Bootes und schritten zum Hauptausgang, wo ein Posten stand und wo sich das Gemach des Dators der Wachmannschaft befand.

Bei unserem Anblick sprangen die Wachposten überrascht auf und hießen uns, die Gewehre auf uns gerichtet, stehenbleiben. Ich hielt einem von ihnen die Botschaft entgegen. Er nahm sie, sah, an wen sie gerichtet war, wandte sich um und überreichte sie Torith, der aus seinem Gemach kam, um nach dem Grund des Tumults zu sehen.

Der Schwarze las den Befehl und sah uns einen Augenblick in offenkundigem Argwohn an.

»Wo ist Dator Yersted?« fragte er. Ich bekam einen Heidenschreck und schalt mich innerlich einen Dummkopf, das Unterseeboot nicht versenkt zu haben. Das hätte die Lüge bekräftigt, die ich auf den Lippen hatte.

»Sein Befehl lautete, sofort wieder zur Anlegestelle des Tempels zurückzukehren«, entgegnete ich.

Torith machte einen halben Schritt in Richtung des Eingangs zur Anlegestelle, als ob er sich von der Wahrheit meiner Geschichte vergewissern wollte. Einen Augenblick lang hing alles am seidenen Faden, denn hätte er gesehen, daß das leere Unterseeboot noch an seiner Stelle lag, wäre die ganze Lügengeschichte aufgeflogen, die ich ausgeheckt hatte. Offenbar gelangte er jedoch schließlich zu der Überzeugung, daß der Befehl echt war. In der Tat bestand wenig Grund zum Zweifel, da er es nie für möglich halten würde, daß zwei Sklaven sich freiwillig auf solche Weise in die Gefangenschaft begeben würden. Der Plan gelang aufgrund seiner Aberwitzigkeit.

»Wart ihr an dem Sklavenaufstand beteiligt?« fragte Torith. »Wir haben lediglich kümmerliche Berichte über ein solches Ereignis erhalten.«

»Alle waren beteiligt«, entgegnete ich. »Doch ist nur wenig herausgekommen. Die Wachen waren in der Übermacht und haben die Mehrheit von uns getötet.«

Diese Antwort schien ihn zufriedenzustellen. »Bringt sie auf Shador«, befahl er einem seiner Untergebenen. Wir begaben uns an Deck eines kleinen Bootes bei der Insel und legten nach wenigen Minuten in Richtung Shador ab. Hier geleitete man uns in unsere jeweiligen Zellen zurück, mich zu Xodar, und den Jungen in die seine, die Türen wurden verriegelt und wieder waren wir Gefangene der Erstgeborenen.

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