22. Sieg und Niederlage

»John Carter, John Carter«, schluchzte sie und druckte ihr liebes Köpfchen an meine Schulter. »Selbst jetzt kann ich kaum glauben, was meine Augen mir sagen. Als dieses Mädchen, Thuvia, mir sagte, du seist nach Barsoom zurückgekehrt, hörte ich es zwar, konnte es jedoch nicht verstehen, weil ich mir sagte, ein solches Glück sei unmöglich für jemanden, der all diese Jahre in der schweigenden Einsamkeit so gelitten hatte. Als ich schließlich erfaßte, daß es wahr war, und erfuhr, an welch schrecklichem Ort man mich gefangenhielt, zweifelte ich doch, daß selbst du mich hier erreichen könntest.

Als die Tage verstrichen und ein Mond nach dem anderen vorüberging, ohne daß mich auch nur die leiseste Kunde von dir erreichte, ergab ich mich in mein Schicksal Und nun, da du gekommen bist, kann ich es kaum glauben. Seit einer Stunde höre ich den Lärm einer Auseinandersetzung im Palast. Ich wußte nicht, was es bedeutete, doch ich hoffte gegen jede Vernunft, daß es die Männer von Helium seien, angeführt von meinem Prinzen.«

Und nun sage mir: »Wie geht es Carthoris, unserem Sohn?«

»Noch vor knapp einer Stunde waren wir zusammen, Dejah Thoris«, erwiderte ich. »Es müssen seine Männer gewesen sein, die du in den Räumen des Tempels hast kämpfen hören.«

»Wo ist Issus?« fragte ich plötzlich. Sie zuckte die Schultern.

»Sie schickte mich vor Ausbruch der Kampfe in den Tempelhallen unter Bewachung in diesen Raum und sagte mir, sie werde mich später holen lassen Sie schien sehr zornig zu sein und auch furchterfüllt. Ich habe sie nie so unsicher und fast verängstigt auftreten sehen. Nun weiß ich Sie hat gewiß erfahren, daß John Carter, Prinz von Helium, heranruckte, um sie für die Einkerkerung seiner Prinzessin zur Rechenschaft zu ziehen.«

Kampfeslärm, Waffengeklirr, Geschrei und die eiligen Schotte vieler Fuße erreichten uns aus verschiedenen Teilen des Tempels. Ich wußte, daß man mich dort brauchte, wagte jedoch nicht, Dejah Thoris zu verlassen, wollte sie wiederum auch nicht in den Aufruhr und die Gefahren des Kampfes mitnehmen.

Schließlich fielen mir die Gruben ein, aus denen ich soeben aufgetaucht war Warum sollte ich sie nicht dort verstecken, bis ich zurückkehrte und sie in Sicherheit und für immer von diesem gräßlichen Ort wegbringen konnte? Ich erläuterte ihr meinen Plan.

Sie klammerte sich einen Augenblick noch fester an mich.

»Ich kann es nicht ertragen, jetzt von dir getrennt zu werden, nicht einmal für eine kurze Zeit, John Carter«, sagte sie. »Ich schaudere bei dem Gedanken, wieder allein zu sein, wo diese gräßliche Kreatur mich finden konnte. Du kennst sie nicht. Niemand kann sich vorstellen, wie wild und grausam sie ist, der sie nicht über ein halbes Jahr bei ihren täglichen Verrichtungen beobachtet hat. Ich habe fast die ganze Zeit gebraucht, um selbst die Dinge richtig zu erfassen, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte.«

»Dann werde ich dich nicht verlassen, meine Prinzessin«, erwiderte ich.

Sie schwieg eine Weile, dann zog sie mein Gesicht zu ihrem und küßte mich.

»Geh, John Carter«, sagte sie. »Unser Sohn ist dort mit seinen Soldaten, sie kämpfen um die Prinzessin von Helium. Wo sie sind, solltest auch du sein. Ich darf jetzt nicht an mich denken, sondern nur an sie und die Pflichten meines Gatten. Dem darf ich nicht im Wege stehen. Versteck mich in den Gruben und geh.«

Ich führte sie zu der Tür, durch welche ich den Raum von unten betreten konnte. Dort drückte ich sie zärtlich an mich, geleitete sie über die Schwelle, küßte sie abermals und schloß die Tür hinter ihr, wenngleich es mir das Herz zerriß und mich mit den dunkelsten Schatten schrecklicher Vorahnungen erfüllte.

Ohne langer zu zögern, eilte ich von dem Gemach in Richtung des größten Lärms davon. Ich hatte kaum ein halbes Dutzend Räume durchquert, als ich auf den Schauplatz eines furchtbaren Kampfes geriet. Die Schwarzen drängten sich in Massen am Eingang zu einem großen Saal, wo sie versuchten, das weitere Vordringen einer Gruppe roter Menschen in die inneren geheiligten Räume des Tempels zu verhindern.

Da ich von innen kam, fand ich mich hinter den Schwarzen, und ohne zu warten oder auch ihre Anzahl beziehungsweise die Torheit meines Vorgehens einzukalkulieren, griff ich schnell durch den Raum an und überfiel sie von hinten mit meinem Langschwert.

Als ich den ersten Schlag führte, rief ich laut »Für Helium!«. Dann ließ ich Hieb auf Hieb auf die überraschten Krieger niederprasseln, während die Roten draußen beim Klang meiner Stimme Mut faßten und mit dem Ruf »John Carter! John Carter!« ihre Anstrengungen so wirksam verdoppelten, daß die Reihen der Schwarzen aufgebrochen waren, ehe diese sich von ihrer zeitweiligen Verwirrung erholen konnten, und die roten Menschen in den Raum fluteten.

Der Kampf in diesem Gemach wäre als ein historisches Denkmal des grimmigen Ungestüms seines kriegerischen Volkes in die Annalen von Barsoom eingegangen, wäre nur ein fähiger Chronist zur Stelle gewesen. Fünfhundert Mann kämpften dort an diesem Tag, die schwarzen Männer gegen die roten. Niemand bat um Gnade oder gab Pardon. Sie kämpften wie in stillem Übereinkommen, als wollten sie ein für allemal ihr Recht auf Leben behaupten entsprechend dem Wolfsgesetz des Sieges des Stärkeren.

Ich glaube, wir alle wußten, daß das Verhältnis dieser zwei Rassen für immer vom Ausgang dieses Kampfes abhing. Es war eine Auseinandersetzung zwischen dem Alten und dem Neuen, doch ich zweifelte nicht im geringsten am Endergebnis. Mit Carthoris an meiner Seite stritt ich für die roten Menschen von Barsoom und für ihre völlige Befreiung aus dem Würgegriff ihres gräßlichen Aberglaubens.

Wir wogten kämpfend im Raum hin und her und versanken schließlich knöcheltief im Blut. Die Toten lagen so dicht, daß wir während des Gefechts die halbe Zeit auf ihnen standen. Als wir zu den großen Fenstern drängten, die auf die Gärten von Issus blickten, bot sich mir ein Anblick, daß mich eine Woge der Glückseligkeit durchlief.

»Schaut hin!« sagte ich. »Männer der Erstgeborenen, schaut hin!«

Der Kampf hörte eine Weile auf, weil jeder in die Richtung blickte, in die ich wies. Kein Mann der Erstgeborenen hätte sich träumen lassen, jemals zu sehen, was sich dort abspielte.

Quer durch die Gärten zog sich von einer Seite zur anderen eine wankende Linie schwarzer Krieger, während hinter ihnen eine gewaltige Horde grüner Krieger auf ihren mächtigen Thoats sie zurückdrängten. Während wir noch zuschauten, ritt einer von ihnen, der noch grimmiger und furchteinflößender blickte als seine Kampfgenossen, von weiter hinten nach vorn und rief seiner grauenerregenden Legion einen wilden Befehl zu.

Das war Tars Tarkas, Jeddak von Thark, und als er seine riesige, vierzig Fuß lange, eisenbeschlagene Lanze einlegte, sahen wir seine Krieger dasselbe tun. Nun erkannten wir, was er befohlen hatte. Zwanzig Yards trennten jetzt die grünen Männer von der schwarzen Linie. Auf ein weiteres Wort des großen Thark griffen die grünen Krieger mit einem wilden, grauenerregenden Schlachtruf an. Die schwarze Linie hielt einen Augenblick stand, doch nur kurz – dann preschten die schaudererregenden Tiere mit ihren gleichermaßen fürchterlichen Reitern durch sie hindurch.

Ihnen folgte ein Utan der roten Männer hinter dem anderen. Die grüne Horde zerbrach und umringte den Tempel. Die roten Männer stürmten ins Innere, und nun wandten wir uns um, um den unterbrochenen Kampf fortzusetzen, doch unsere Feinde waren verschwunden.

Mein nächster Gedanke galt Dejah Thoris. Ich rief Carthoris zu, ich hätte seine Mutter gefunden, und machte mich eilends auf den Weg zu dem Gemach, wo ich sie verlassen hatte, wobei mein Junge mir dichtauf folgte. Hinter uns kam die kleine Streitmacht, die die blutige Auseinandersetzung überlebt hatte.

Als ich den Raum betrat, erkannte ich sofort, daß jemand hier gewesen war, seit ich ihn verlassen hatte. Ein Seidentuch lag auf dem Fußboden. Vorher war es nicht dort gewesen. Auch lagen ringsum ein Dolch und mehrere Stücke Metallschmuck verstreut, als habe jemand sie dem Träger im Kampf abgerissen. Das Schlimmste war jedoch, daß die Tür zu den Gruben, wo ich meine Prinzessin verborgen hatte, offen stand.

Mit einem Satz war ich dort. Ich stieß sie weiter auf und stürmte hinein. Dejah Thoris war verschwunden. Ich rief immer wieder laut ihren Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Ich glaube, in dem Moment stand ich am Rande des Wahnsinns. Zwar erinnere ich mich nicht, was ich sagte oder tat, doch ich weiß, daß mich einen Augenblick lang tollwütige Raserei erfaßte.

»Issus!« rief ich. »Issus! Wo ist Issus! Durchsucht den Tempel, doch niemand soll ihr ein Haar krümmen außer John Carter. Carthoris, wo befinden sich die Gemächer von Issus?«

»Hier entlang«, sagte der Junge. Ohne sich zu überzeugen, daß ich ihn gehört hatte, stürmte er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit weiter ins Innere des Tempels. Wie schnell er auch lief, ich war dennoch neben ihm und drängte ihn zu noch größerem Tempo.

Schließlich gelangten wir an eine große, mit Schnitzwerk versehene Tür. Carthoris rannte einen Fuß vor mir hinein. Hier bot sich uns ein Anblick, wie ich ihn schon einmal im Tempel vor Augen gehabt hatte – der Thron von Issus mit den halb liegenden Sklaven, und ringsherum die Reihen der Soldaten.

Wir gaben den Männern nicht einmal eine Chance, das Schwert zu ziehen, so schnell fielen wir über sie her. Mit einem einzigen Hieb streckte ich zwei in der vordersten Reihe zu Boden. Dann stürmte ich durch das bloße Gewicht und den Schwung meines Körpers durch die restlichen zwei Reihen und sprang auf das Podest neben den geschnitzten Sorapusthron.

Die widerliche Kreatur, die angsterfüllt dort hockte, versuchte, mir zu entrinnen und durch die Falltür hinter ihr zu verschwinden. Diesmal fiel ich jedoch nicht auf diese List herein. Noch ehe sie sich halb erhoben hatte, packte ich sie beim Arm, und als ich sah, daß die Wache Anstalten machte, von allen Seiten über mich herzufallen, zückte ich den Dolch, hielt ihn dem Scheusal an die Brust und gebot ihnen, stehenzubleiben.

»Zurück!« sagte ich. »Zurück! Sobald einer von euch Schwarzen auch nur den Fuß auf diesen Podest setzt, fährt mein Dolch Issus ins Herz.«

Sie zögerten einen Augenblick. Dann rief ein Offizier sie zurück, während vom Korridor draußen, meiner kleinen Schar Überlebender auf den Fersen folgend, volle eintausend rote Männer unter Kantos Kan, Hor Vastus und Xodar in den Thronsaal stürmten.

»Wo ist Dejah Thoris?« fragte ich die Kreatur in meiner Hand.

Einen Augenblick rollten ihre Augen wild umher und erfaßten die Szene unter ihr. Ich glaube, es brauchte eine Weile, ehe sie die wirkliche Lage richtig erfaßte – zuerst konnte sie gar nicht wahrhaben, daß der Tempel unter dem Ansturm der Männer der Außenwelt gefallen war. Als sie dies erkannte, dämmerte ihr wohl auch die schreckliche Ahnung dessen, was dies für sie bedeutete – den Verlust der Macht, Demütigung und Bloßstellen ihres betrügerischen Verhaltens und des Schwindels, den sie so lange ihrem eigenen Volk gegenüber aufrechterhalten hatte.

Es bedurfte nur noch einer Sache, um die Realität des Bildes zu vollenden, das sie vor sich sah, und diese wurde durch den höchsten Edlen ihres Reiches – den Hohenpriester ihrer Religion, den Premierminister ihrer Regierung geliefert.

»Issus, Göttin des Todes und des Ewigen Lebens, erhebe dich in der Macht deines gerechten Zorns und streckte deine gotteslästerlichen Feinde mit einer einzigen Bewegung deiner allmächtigen Hand zu Boden!« sagte er. »Laß keinen entkommen, Issus, dein Volk verläßt sich auf dich! Tochter des Kleineren Mondes, nur du bist allmächtig.«

»Du als Einzige kannst dein Volk retten. Ich habe zu Ende gesprochen. Wir erwarten deinen Willen. Schlage zu!«

Da verfiel sie in Wahnsinn. Eine schreiende, geifernde Irre wand sich in meinem Griff. Sie biß und kratzte in ohnmächtiger Wut. Dann stieß sie ein unheimliches und grauenvolles Gelächter aus, daß einem das Blut in den Adern erstarrte. Die Sklavinnen auf dem Podest schrien auf und duckten sich. Die widerliche Kreatur sprang zu ihnen, knirschte mit den Zähnen und spie sie mit schaumbedeckten Lippen an. Mein Gott, was für ein entsetzlicher Anblick!

Schließlich schüttelte ich sie in der Hoffnung, sie für einen Augenblick zu klarem Denken zu bringen.

»Wo ist Dejah Thoris?« fragte ich abermals.

Das gräßliche Geschöpf murmelte undeutlich etwas vor sich hin, dann trat auf einmal ein tückischer Glanz in die häßlichen, engstehenden Augen.

»Dejah Thoris? Dejah Thoris?« Dann schlug uns wieder ihr schrilles, unnatürliches Lachen ins Ohr.

»Ja, Dejah Thoris – ich weiß. Und Thuvia, und Phaidor, Tochter des Matai Shang. Sie alle lieben John Carter. Haha! Das ist schon spaßig. Ein Jahr lang werden sie zusammen im Tempel der Sonne meditieren, doch noch ehe das Jahr vergangen ist, wird es keine Nahrung mehr für sie geben. Hoho! Welch göttliche Zerstreuung.« Damit leckte sie sich den Schaum von den grausamen Lippen. »Es wird keine Nahrung mehr geben – außer einander. Haha! Haha!«

Die grauenhafte Offenbarung lähmte mich nahezu. Zu diesem Schicksal hatte die Kreatur, die in meiner Macht war, meine Prinzessin verurteilt. Ich zitterte vor unbändiger Wut. Wie ein Hund eine Ratte schüttelt, so verfuhr ich mit Issus, der Göttin des Ewigen Lebens.

»Widerrufe deine Befehle!« sagte ich. »Ruf die Verurteilten zurück. Beeile dich, oder du stirbst!«

»Es ist zu spät. Haha! Haha!« Damit begann sie wieder zu schnattern und zu schreien.

Wie aus eigenem Antrieb schnellte mein Dolch über das Herz dieses widerlichen Wesens. Etwas ließ meine Hand jedoch verharren, und ich bin jetzt froh, daß es so war. Es wäre eine furchtbare Sache gewesen, eine Frau mit eigenen Händen zu töten. Da fiel mir ein angemesseneres Schicksal für diese falsche Göttin ein.

»Erstgeborene«, rief ich, an diejenigen gewandt, die sich mit im Raum befanden. »Ihr habt heute die Ohnmacht von Issus mit angesehen – die Götter sind allmächtig, Issus ist keine Göttin. Sie ist eine grausame und böse alte Frau, die euch jahrhundertelang getäuscht und mit euch gespielt hat. Nehmt sie. John Carter, Prinz von Helium, möchte seine Hände nicht mit ihrem Blut beflecken.« Damit stieß ich die wütende Bestie, die noch vor einer knappen halben Stunde von der ganzen Welt als göttlich verehrt worden war, von dem Podest ihres Thrones in die lauernden Krallen ihres verratenen und rachedurstigen Volkes.

Ich entdeckte Xodar unter den Offizieren der roten Männer und bat ihn, mich schnell zum Tempel der Sonne zu führen. Ohne zu warten, um in Erfahrung zu bringen, welches Schicksal die Erstgeborenen ihrer Göttin zuteil werden ließen, verließ ich eilends mit Xodar, Carthoris, Hor Vastus, Kantos Kan und einer Schar anderer roter Edler den Raum.

Der Schwarze führte uns rasch durch die inneren Gemächer des Tempels, bis wir auf dem zentralen Hof standen – einer großen, kreisrunden Fläche, die mit durchsichtigem Marmor von ausgesuchtem Weiß gepflastert war. Vor uns erhob sich ein goldener Tempel, der mit höchst wunderbaren und phantasiereichen Mustern verziert war. Sie waren mit Diamanten, Rubinen, Saphiren, Türkisen, Smaragden und den tausend anderen namenlosen Edelsteinen des Mars versehen, welche die meisten Edelsteine der Erde an Pracht und Reinheit übertreffen.

»Hierhin«, sagte Xodar und führte uns zum Eingang in einen Tunnel, der in den Hof neben dem Tempel mündete. Gerade als wir im Begriff waren, hinabzusteigen, hörten wir ein tiefes Dröhnen aus dem Tempel von Issus aufsteigen, den wir soeben verlassen hatten, und dann kam ein roter Mann, Djor Kantos, Padwar des fünften Utan, aus einem Tor in der Näher herbeigestürzt und rief uns zu, wir sollten umkehren.

»Die Schwarzen haben den Tempel in Brand gesetzt. Er brennt an tausend Stellen. Eilt in die äußeren Gärten, oder ihr seid verloren.«

Noch während er redete, sahen wir Rauch aus mehreren Fenstern aufsteigen, die in den Hof des Tempels der Sonne blickten, und hoch über dem höchsten Minarett von Issus hing eine ständig größer werdende Rauchwolke.

»Zurück! Zurück!« rief ich denen zu, die mich begleitet hatten. »Weise mir den Weg, Xodar. Weise mir den Weg und verlaß mich. Noch kann ich meine Prinzessin erreichen.«

»Folge mir, John Carter«, erwiderte Xodar und stürmte in den Tunnel zu unserer Rechten, ohne auf meine Antwort zu warten. Ihm dicht auf den Fersen stürmte ich durch ein halbes Dutzend Reihen von Galerien, bis er mich schließlich über einen Gang entlangführte, an dessen Ende ich ein kleines Zimmer sah.

Massive Stangen verwehrten uns das weitere Vorankommen, doch dahinter erblickte ich sie – meine unvergleichliche Prinzessin. Thuvia und Phaidor waren bei ihr. Als sie mich sah, stürzte sie zu dem Gitter, das uns trennte. Der Raum hatte sich auf seinem langsamem Weg schon so weit gedreht, daß nur noch ein Teil der Öffnung in der Tempelwand sich gegenüber dem vergitterten Ende des Korridors befand. Langsam schloß sich die Öffnung, und bald würde nur noch ein winziger Spalt klaffen, dann würde auch dieser geschlossen werden. Der Raum würde sich dann gemächlich ein langes Barsoomisches Jahr lang drehen, bis die Öffnung in der Wand wieder einen kurzen Tag lang am Ende des Ganges vorüberglitt.

Doch was für grauenvolle Dinge würden inzwischen in diesem Raum vor sich gehen!

»Xodar! Kann keine Macht dieses gräßliche, sich drehende Monster zum Halten bringen?« fragte ich. »Gibt es niemanden, der das Geheimnis dieses schrecklichen Gitters kennt?«

»Ich fürchte, niemanden, den wir noch rechtzeitig herholen könnten. Dennoch werde ich gehen und es versuchen. Warte hier auf mich.«

Nachdem er gegangen war, sprach ich mit Dejah Thoris, und sie streckte mir ihre liebe Hand durch die gnadenlosen Gitterstäbe, damit ich sie bis zum letzten Augenblick halten konnte.

Thuvia und Phaidor traten ebenfalls näher, aber als Thuvia sah, daß wir allein sein wollten, zog sie sich zur anderen Seite des Raumes zurück. Nicht so die Tochter von Matai Shang.

»John Carter, dies ist das letzte Mal, daß du eine von uns erblickst«, sagte sie. »Sage mir, daß du mich liebst, damit ich glücklich sterben kann.«

»Ich liebe nur die Prinzessin von Helium«, erwiderte ich ruhig. »Es tut mir leid, Phaidor, aber es ist so, wie ich dir von Anfang an gesagt habe.«

Sie biß sich auf die Lippen und wandte sich ab. Doch vorher sah ich, wie sie Dejah Thoris einen finsteren, feindseligen Blick zuwarf. Nun stand sie etwas entfernt, doch nicht so weit weg, wie ich es mir gewünscht hätte, denn ich hatte der langvermißten Geliebten viele kleine Vertraulichkeiten zuzuraunen.

Wir unterhielten uns einige Minuten leise. Die Öffnung wurde immer kleiner. Bald würde sie zu schmal sein, als daß die schlanke Gestalt meiner Prinzessin hätte hindurchgleiten können. Warum beeilte sich Xodar nur nicht? Über uns konnten wir den schwachen Widerhall eines großen Tumults hören.

Unzählige schwarze, rote und grüne Männer kämpften sich durch das Feuer des lodernden Tempels von Issus.

Ein Luftzug von oben trug uns den Geruch von Rauch zu. Während wir auf Xodar warteten, wurde der Rauch immer dicker. Da hörten wir Rufe am fernen Ende des Ganges und eilige Schritte.

»Komm zurück, John Carter, komm zurück!« rief eine Stimme. »Jetzt brennen sogar die Gruben.«

Einen Augenblick später brachen ein Dutzend Männer durch den nun jede Sicht nehmenden Rauch und kamen zu mir. Das waren Carthoris, Kantos Kan, Hor Vastus und Xodar mit einigen wenigen, die mir in den Tempelhof gefolgt waren.

»Es besteht keine Hoffnung, John Carter«, sagte Xodar. »Der Schlüsselbewahrer ist tot, die Schlüssel sind nicht an seinem Körper zu finden. Unsere einzige Hoffnung besteht darin, die Feuersbrunst zu löschen und dem Schicksal zu vertrauen, daß deine Prinzessin nach einem Jahr noch lebendig und unversehrt ist. Ich habe genügend Nahrung mitgebracht, daß sie damit auskommen. Wenn dieser Spalt geschlossen ist, kann der Rauch nicht zu ihnen dringen, und wenn wir die Flammen schnell löschen, glaube ich, daß sie sicher sind.«

»Dann geh und nimm die anderen mit«, erwiderte ich. »Ich werde hier bei meiner Prinzessin bleiben, bis ein gnadenvoller Tod mich von meiner Trauer erlöst. Mir liegt nichts mehr am Leben.«

Während meiner Worte hatte Xodar eine große Menge kleiner Konservenbüchsen in die Gefängniszelle geworfen. Einen Augenblick später war der Spalt nicht mehr als ein Zoll breit. Dejah Thoris stand so dicht wie möglich dahinter und flüsterte mir Worte der Hoffnung und der Ermutigung zu. Sie drängte mich, an die eigene Rettung zu denken.

Plötzlich erblickte ich hinter ihr das schöne Antlitz Phaidors von haßerfüllter Bosheit verzerrt. Als ich ihrem Blick begegnete, sagte sie: »Glaube nicht, daß du die Liebe von Phaidor, der Tochter des Matai Shang, so leichtfertig verschmähen kannst. Und hoffe auch nicht, deine Dejah Thoris je wieder in den Armen zu halten. Warte du nur dieses lange, lange Jahr. Doch wisse: Wenn das Jahr vorüber ist, werden es Phaidors Arme sein, die dich willkommen heißen – nicht die der Prinzessin von Helium. Sieh hier, sie stirbt!«

Als sie geendet hatte, sah ich, wie sie einen Dolch hob, und dann sah ich noch eine andere Gestalt. Es war die von Thuvia. Als der Dolch auf die ungeschützt Brust meiner Geliebten niederstieß, befand sich Thuvia fast zwischen ihnen. Eine Rauchwolke versperrte mir die Sicht und verbarg die Tragödie in dieser schrecklichen Zelle – ein Schrei ertönte, ein einziger Schrei, als der Dolch herab stieß.

Nachdem sich der Rauch verzogen hatten, blickten wir auf eine kahle Wand. Der letzte Spalt hatte sich geschlossen, und nun würde die grauenvolle Kammer ihr Geheimnis ein ganzes Jahr lang vor den Blicken der Menschen verbergen.

Sie drängten mich, wegzugehen.

»In wenigen Augenblicken ist es zu spät«, sagte Zodar. »Es gibt ohnedies nur noch eine geringe Chance, daß wir je lebendig zu den Außengärten gelangen. Ich habe befohlen, daß die Pumpen angeworfen werden, und in fünf Minuten werden die Gruben überflutet sein. Wollen wir nicht wie Ratten in einer Falle ertrinken, müssen wir nach oben eilen und uns durch den brennenden Tempel in Sicherheit bringen.«

»Geht«, drängte ich sie. »Laßt mich hier neben meiner Prinzessin sterben – für mich gibt es nirgends noch Hoffnung oder Glück. Wenn sie die heißgeliebte Tote in einem Jahr von diesem entsetzlichen Ort wegbringen, sollen sie den Körper ihres Gatten hier vorfinden, der auf sie wartet.«

Von den darauffolgenden Ereignissen habe ich nur eine unklare Erinnerung. Mir war, als kämpfte ich mit vielen Männern, dann wurde ich vom Boden aufgehoben und weggetragen. Ich weiß nichts mehr, ich habe niemals gefragt. Auch hat niemanden von denen, die an diesem Tag dort waren, meinem Schmerz erneut aufgewühlt und mir die Geschehnisse vor Augen geführt, von denen sie wußten, daß sie nur die schreckliche Wunde in meinem Herzen aufreißen würden. Ach, wüßte ich nur das eine – welche Bürde der Ungewißheit würde von meinen Schultern genommen! Doch ob der Dolch der Mörderin die Brust meiner Geliebten oder die der anderen erreicht hatte, würde nur die Zeit enthüllen.

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