7. Eine hübsche Göttin

Einen Augenblick blieben der schwarze Pirat und ich regungslos und starrten Auge in Auge. Dann zogen sich die hübschen Lippen über mir in einem bösen Lächeln auseinander, als sich eine ebenholzfarbene Hand langsam über den Rand schob und mir die kalte, hohle Mündung eines Revolvers mitten auf die Stirn setzte.

Im selben Moment, in dem meine freie Hand den schwarzen Hals packte, der sich gerade in Reichweite befand, bewegte sich der ebenholzfarbene Finger am Abzug. Mit halberstickter Stimme zischte der Pirat: »Stirb, verfluchter Thern«, denn meine Finger drückten ihm die Luft ab. Der Hahn fiel mit einem sinnlosen Klicken auf eine leere Kammer.

Bevor er wieder feuern konnte, hatte ich ihn soweit über den Rand gezogen, daß er gezwungen war, die Waffe fallenzulassen und sich mit beiden Händen festzuhalten.

Wegen meines Griffes konnte er nicht schreien, so rangen wir miteinander in eisiger Stille: Er, um sich aus meiner Umklammerung zu lösen, ich, um ihn über die Reling in den Tod zu reißen.

Sein Gesicht nahm bereits eine bläuliche Färbung an, und die Augen traten aus den Höhlen. Offenbar wurde ihm klar, daß er sterben mußte, wenn er nicht den stählernen Griff lösen konnte, der das Leben aus ihm preßte. Mit letzter Kraft warf er sich zurück in Richtung Deck, ließ dabei die Reling los und versuchte verzweifelt mit beiden Händen, meine Finger von seiner Gurgel zu bekommen.

Auf diese kurze Sekunde hatte ich gewartet. Mit einem Ruck zog ich ihn von Deck. Dabei hätte er mich beinahe mitgerissen und mit sich in die Untiefen des Meeres gezogen, denn der Halt mit nur einer freien Hand an der Ankerkette war sehr unsicher.

Dennoch ließ ich nicht los, denn ich wußte, daß, wenn ihm beim Sturz in den Tod in das stille Meer auch nur ein einziger Schrei über die Lippen kam, die anderen von oben zu seiner Rache herbeieilen würden.

So hielt ich ihn verbissen fest, drückte und drückte, während er sich verzweifelt wand und mich dabei immer weiter nach unten zum Ende der Ketten zog.

Schrittweise wurden seine Zuckungen krampfhaft und ebbten zusehends ab, bis sie schließlich ganz aufhörten. Dann erst ließ ich ihn los, und in Sekundenschnelle hatte ihn die Finsternis unten verschluckt.

Erneut kletterte ich zur Reling des Schiffes. Diesmal gelang es mir, einen Blick an Deck zu werfen und die gegenwärtige Situation sorgfältig in Augenschein zu nehmen, um zu wissen, womit ich rechnen mußte.

Der erste Mond war bereits hinter dem Horizont verschwunden, doch der klare Schein des zweiten Satelliten erhellte das Deck des Kreuzers und hob die Umrisse von sechs, acht Schläfern scharf hervor, die an Deck lagen.

Am Fuße eines Schnellfeuergewehres kauerte ein junges, hellhäutiges Mädchen, das man zuverlässig gefesselt hatte. Sie blickte mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zu mir und ließ mich, als ich über der Reling auftauchte, keinen Moment aus den Augen.

Als sie den geheimnisvollen Edelstein in der Mitte meines gestohlenen Kopfschmuckes entdeckte, trat unbeschreibliche Erleichterung in ihr Gesicht. Schweigend warnte sie mich mit einem Blick vor den Schlafenden um sie herum.

Lautlos zog ich mich an Deck. Mit einem Nicken bat mich das Mädchen zu sich. Als ich mich zu ihr neigte, flüsterte sie mir zu, ich möge sie doch befreien.

»Ich kann dir helfen, und du wirst jede erdenkliche Hilfe brauchen, wenn sie aufwachen«, sagte sie.

»Einige von ihnen werden in Korus aufwachen«, entgegnete ich lächelnd.

Sie verstand die Bedeutung meiner Worte; und das unbarmherzige Lächeln, mit dem sie meine Bemerkung erwiderte, erschreckte mich. Grausamkeit in einem brutalen Gesicht erstaunt einen nicht weiter. Sieht man sie hingegen auf dem Antlitz einer Göttin, deren feingemeißelte Züge mehr zur Darstellung von Liebe und Schönheit geschaffen sind, empfindet man das als entsetzlich.

Ich tat, wie mir geheißen, und befreite sie. Dann wandte ich mich einer unangenehmen Aufgabe zu. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für verfeinerte Gefühle wie Gewissensbisse oder Ritterlichkeit, die diese grausamen Teufel weder zu schätzen noch zu erwidern wußten.

Leise schlich ich zu dem nächsten Schläfer. Erwachend befand er sich bereits auf der Reise zu Korus’ Busen. Sein gellender Schrei, als er begriff, verhallte in den schwarzen Tiefen.

Der zweite schlug bei meiner Berührung die Augen auf, und obwohl es mir gelang, ihn von Deck des Kreuzers zu schleudern, brachte sein wilder Alarmschrei alle übrigen Piraten auf die Beine. Es waren fünf.

Als sie aufsprangen, ertönten mehrere abgehackte Schüsse aus dem Revolver des Mädchens, und einer sank für immer darnieder.

Die anderen stürmten mit gezogenen Schwertern wutschnaubend auf mich zu. Offensichtlich wagte das Mädchen nicht, zu schießen, um mich nicht zu verletzen, doch ich sah, wie sie sich leise wie eine Katze neben die Angreifer schlich. Diese waren nun auf mir.

Einige Minuten lang wurde ich in den heftigsten Kampf verwickelt, den ich jemals erlebt hatte. Das Deck war zu klein, als daß man irgendwohin hätte ausweichen können. So hieß es, den Boden zu verteidigen, auf dem man stand, auszuteilen und einzustecken. Zuerst steckte ich beträchtlich mehr ein, als ich austeilte, doch bald konnte ich einen der Schwarzen überwältigen und hatte die Befriedigung, ihn auf Deck zusammenbrechen zu sehen.

Die anderen verdoppelten ihre Bemühungen. Der Zusammenstoß unserer Klingen erzeugte einen schrecklichen Krach, der in der stillen Nacht meilenweit zu hören gewesen sein mußte. Funken sprangen, als Stahl auf Stahl traf. Dann war ein dumpfes und gräßliches Geräusch zu vernehmen, als die scharfe Klinge meines Marsschwertes durch einen Schulterknochen ging.

Nun standen mir noch drei gegenüber, doch das Mädchen arbeitete sich zu einer Stelle vor, die ihr es erlauben würde, die Anzahl der Gegner um mindestens einen zu reduzieren. Dann spielte sich alles in einer solch erstaunlichen Schnelligkeit ab, daß ich sogar jetzt noch nicht alles verstehen kann.

In der offenkundigen Absicht, mich die wenigen Schritte zurückzudrängen, die mich vom Sturz ins Nichts trennten, warfen sich die drei auf mich. Im selben Moment, als das Mädchen feuerte, vollführten meine Arm zwei Bewegungen. Ein Mann sank mit einem Kopfschuß zu Boden, ein Schwert flog klappernd über das Deck und rutschte über den Rand – ich hatte einen meiner Gegner entwaffnet – und dem dritten stieß ich die Klinge bis zum Heft in die Brust, so daß sie auf der anderen Seite drei Fuß heraustrat. Er sank zu Boden und riß mein Schwert mit sich.

Da ich mich somit selbst entwaffnet hatte, stand ich nun mit bloßen Händen dem letzten gegenüber, dessen eigenes Schwert irgendwo tausend Fuß unter uns auf dem Grund des Verlorenen Meeres lag.

Die neuen Bedingungen schienen meinen Widersacher zu erfreuen, denn er entblößte mit zufriedenem Lächeln die strahlenden Zähne, während er ohne jede Waffe auf mich zustürmte. Seine kräftigen, runden Muskeln unter der glatten, schwarzen Haut gaben ihm offensichtlich die Gewißheit, daß ich für ihn leichte Beute sein würde und der Anstrengung nicht wert, den Dolch aus seiner Ausrüstung zu ziehen.

Ich ließ ihn dicht an mich herankommen. Dann duckte ich mich unter den ausgestreckten Armen und wich nach rechts aus. Ich drehte mich um meine Achse, holte Schwung und versetzte ihm mit der rechten einen schrecklichen Schlag gegen den Unterkiefer, so daß er auf der Stelle wie ein gefällter Ochse zu Boden sank.

Ein leises, silbernes Lachen erklang hinter mir.

»Du bist kein Thern«, sagte meine Gefährtin mit holder Stimme. »Trotz all der goldenen Locken und der Ausrüstung von Sator Throg. Auf ganz Barsoom hat niemals jemand gelebt, der so kämpfen konnte wie du in dieser Nacht. Wer bist du?«

»Ich bin John Carter, Prinz des Hauses von Tardos Mors, dem Jeddak von Helium«, entgegnete ich. »Und wem hatte ich die Ehre zu Diensten sein zu dürfen?«

Sie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete, und fragte schließlich: »Du bist kein Thern. Bist du ein Feind der Therns?«

»Anderthalb Tage halte ich mich nun schon im Land der Therns auf. Seitdem befindet sich mein Leben in ständiger Gefahr. Man hat mich belästigt und verfolgt. Bewaffnete Männer und wilde Tiere wurden auf mich angesetzt. Ich hatte zuvor keinen Streit mit den Therns. Erstaunt es dich, wenn ich ihnen nun keine allzu große Zuneigung entgegenbringe? Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Sie sah mich einige Minuten aufmerksam an, bevor sie etwas erwiderte. Es schien, als versuche sie mit diesem langen, prüfenden Blick in meinem Innern zu lesen, um meinen Charakter und meine Wertvorstellungen einzuschätzen.

Offenbar befriedigten sie die Resultate.

»Ich bin Phaidor, die Tochter von Matai Shang, dem Heiligen Hekkador der Heiligen Therns, dem Vater der Therns, Herr des Lebens und Todes auf Barsoom, Bruder von Issus, Prinzessin des Ewigen Lebens.«

In diesem Augenblick bemerkte ich, daß der Schwarze, den ich mit meiner Faust zu Boden gebracht hatte, kurz davor war, wieder zu sich zu kommen. Ich sprang zu ihm, entledigte ihn seiner Ausrüstung, band ihm die Hände fest auf dem Rücken und fesselte ihn an das Untergestell eines schweren Geschützes, nachdem ich seine Füße auf ähnliche Weise gebunden hatte.

»Warum nicht den einfacheren Weg?« fragte Phaidor.

»Ich verstehe nicht. Welchen ›einfacheren‹ Weg?« erwiderte ich.

Sie zuckte leicht die hübschen Schultern und vollführte mit den Händen eine Geste, als würfe sie etwas über Bord.

»Ich bin kein Mörder, sondern töte nur in Notwehr«, sagte ich.

Sie musterte mich eingehend, runzelte die göttlichen Brauen und schüttelte den Kopf. Das ging offensichtlich über ihr Vorstellungsvermögen hinaus.

Genauso wenig war meine Dejah Thoris in der Lage gewesen, unseren ihr dumm und gefährlich erscheinenden Umgang mit Feinden zu verstehen. Auf Barsoom gewährt man weder Gnade, ebensowenig wird sie einem gewährt. Jeder Tote bedeutet, daß es für die anderen mehr von den schwindenden Ressourcen dieses untergehenden Planeten aufzuteilen gibt.

Doch hier schien es einen kleinen Unterschied zu geben, in der Art, in der das Mädchen die Vernichtung eines Feindes sah, und dem mitfühlenden Bedauern, das meine Prinzessin gegenüber dieser bitteren Notwendigkeit empfand.

Ich denke, Phaidor ging es mehr um die Spannung, die ihr das Schauspiel geboten hätte, als um den Fakt, daß wegen meiner Entscheidung ein Feind am Leben blieb, der uns zu einer Bedrohung werden konnte.

Der Mann war nun wieder voll bei Bewußtsein und musterte uns aufmerksam von Deck aus, wo er gefesselt dalag. Er war ansehnlich und kräftig, mit wohlgeformten Gliedmaßen, einem intelligenten, feingemeißelten Gesicht, dessen erlesene Züge sogar Adonis vor Neid zum Erblassen gebracht hätten.

Das Luftschiff war führerlos langsam über das Tal gedriftet, doch nun dachte ich, daß es an der Zeit war, das Steuer zu übernehmen und den Kurs zu bestimmen. Ich konnte nur ungefähr sagen, in welchem Teil vom Mars das Tal Dor lag: Weit südlich vom Äquator. Das wurde am Stand der Sterne deutlich. Doch reichten meine astronomischen Kenntnisse vom Mars nur für eine grobe Schätzung, ohne die genauen Karten und empfindlichen Instrumente, mit denen ich als Offizier der Luftwaffe von Helium früher die Positionen der von mir geführten Luftschiffe hatte genau bestimmen können.

Da ein nördlicher Kurs mich am ehesten in die dichter besiedelten Gebiete des Planeten bringen würde, entschied ich mich für diese Richtung. Anmutig schwang der Richtungsanzeiger unter meiner Hand herum. Ein Druck auf den Knopf, der die Antriebsstrahlen steuert, beförderte uns nach oben in die Lüfte.

Den Schalthebel für die Geschwindigkeit am Anschlag, rasten wir gen Norden und erhoben uns immer weiter über das schreckliche Tal des Todes.

Als wir in schwindelerregender Höhe über dem schmalen Landstrich der Therns hinwegflogen, legte das Aufblitzen von Explosionen weit unter uns auf stumme Weise von der unbändigen Schlacht Zeugnis ab, die entlang der grausamen Grenze noch immer tobte. Kein Laut war von unten zu vernehmen, denn bis in diese Schicht der Atmosphäre drang kein Geräusch durch, alles wurde bereits von der dünnen Luftschicht unter uns zerstreut.

Es wurde schrecklich kalt, und das Atmen wurde immer schwerer. Das Mädchen, Phaidor, und der schwarze Pirat blickten mich unablässig an. Schließlich sprach das Mädchen.

»In dieser Höhe kommt die Bewußtlosigkeit schnell. Wenn ihr uns nicht alle umbringen wollt, müßt ihr hinuntergehen, und zwar schnell«, sagte sie ruhig.

In ihrer Stimme war keine Furcht. Es war, als sagte jemand: »Du solltest besser einen Schirm mitnehmen. Es wird regnen.«

Ich ging schnell tiefer, und das nicht zu früh. Das Mädchen war bereits ohnmächtig geworden.

Auch der Schwarze war bewußtlos, während ich meine Sinne nur dank schieren Willens beibehielt. Derjenige, auf dessen Schultern die gesamte Verantwortung liegt, hält wahrscheinlich das meiste aus.

Wir schwebten flach über dem Vorgebirge von Otz hinweg. Es war verhältnismäßig warm, und für unsere gequälten Lungen gab es genügend Luft, so daß ich nicht überrascht war, zuerst den Schwarzen und einen Augenblick später auch das Mädchen die Augen öffnen zu sehen.

»Das war knapp«, sagte sie.

»Dennoch hat es mich zwei Dinge gelehrt«, entgegnete ich.

»Welche?«

»Daß sogar Phaidor, die Tochter des Herren des Lebens und Todes, sterblich ist«, sagte ich lächelnd.

»Nur in Issus gibt es Unsterblichkeit. Und Issus steht allein der Rasse der Therns zu. Demzufolge bin ich unsterblich«, erwiderte sie.

Ich bemerkte, wie bei ihren Worten ein flüchtiges Lächeln über das Gesicht des Schwarzen ging. Damals verstand ich nicht, warum. Später sollte es mir und auch ihr auf die entsetzlichste Weise klar werden.

»Wenn die zweite Erkenntnis zu ebenso falschen Schlußfolgerungen führt wie die erste, bist du nur um ein weniges klüger als zuvor«, fuhr sie fort.

»Die zweite Erkenntnis ist, daß unser dunkler Freund hier nicht vom ersten Mond stammt – er war kurz davor, einige tausend Fuß über Barsoom zu sterben. Hätten wir noch weitere fünftausend Meilen zwischen Thuria und dem Planeten zurückgelegt, wäre er nur noch das gefrorene Abbild eines Mannes gewesen«, entgegnete ich.

Sichtlich erstaunt blickte Phaidor zu dem Schwarzen und fragte: »Wenn du nicht von Thuria bist, woher kommst du dann?«

Er zuckte die Schultern, blickte woandershin und schwieg.

Entschieden stampfte das Mädchen mit dem kleinen Fuß auf. »Die Tochter von Matai Shang ist es nicht gewohnt, daß ihre Fragen unbeantwortet bleiben«, sagte sie. »Ein niederes Wesen sollte sich geehrt fühlen, daß ein Mitglied der heiligen Rasse, das geboren wurde, um das ewige Leben zu erlangen, sich überhaupt dazu herabläßt, es zu bemerken.«

Wieder zeigte der Schwarze sein böses, wissendes Lächeln.

»Üblicherweise erteilt Xodar, Dator der Erstgeborenen von Barsoom, Befehle und nimmt nicht welche entgegen«, sagte der Pirat schließlich. Dann wandte er sich an mich: »Was gedenkt ihr, mit mir zu tun?«

»Ich beabsichtige, euch beide mit nach Helium zu nehmen«, erwiderte ich. »Euch wird nichts Böses geschehen. Ihr werdet sehen, daß die roten Menschen von Helium ein freundliches und edelmütiges Volk sind. Doch wenn sie mir zuhören, wird keiner mehr die freiwillige Pilgerfahrt entlang des Flusses Iss antreten, und die unmögliche Hoffnung, die sie seit Jahrhunderten in sich tragen, wird in tausend Stücke zerbrechen.«

»Seid ihr aus Helium?« fragte er.

»Ich bin ein Prinz des Hauses von Tardos Mors, dem Jeddak von Helium. Doch stamme ich nicht von Barsoom, sondern aus einer anderen Welt«, antwortete ich.

Xodar blickte mich eine Zeitlang aufmerksam an und sagte schließlich: »Ich kann sehr wohl glauben, daß ihr nicht aus Barsoom kommt. Niemand von dieser Welt hätte allein acht der Erstgeborenen besiegen können. Wie kommt es jedoch, daß ihr das goldene Haar und den edelsteinbesetzten Stirnreif eines Heiligen Therns tragt?« Er betonte das Wort ›heilig‹ leicht ironisch. »Das habe ich ganz vergessen. Sie sind Beutestücke aus einem Kampf«, entgegnete ich und zog mir mit einem Griff die Perücke vom Kopf.

Als der Schwarze mein kurzgeschnittenes, schwarzes Haar erblickte, riß er die Augen vor Erstaunen weit auf. Offenbar hatte er den kahlen Schädel eines Therns erwartet.

»Ihr stammt wirklich aus einer anderen Welt«, sagte er mit einem Hauch Ehrfurcht in der Stimme. »Mit der Haut eines Therns, dem schwarzen Haar eines Erstgeborenen und den Muskeln von einem Dutzend Dators ist es nicht einmal für Xodar eine Schande, eure Überlegenheit anzuerkennen. Eine Sache, die er niemals tun würde, wäret ihr von Barsoom«, fügte er hinzu.

»Du bist mir ein bißchen zu schnell, mein Freund«, unterbrach ich ihn. »Ich verstehe, daß dein Name Xodar ist, doch wer, um Himmels Willen, sind die Erstgeborenen, was ist ein Dator, und warum könntest du, wenn dich ein Barsoomier besiegte, seine Überlegenheit nicht anerkennen?«

»Die Erstgeborenen von Barsoom sind das Volk der schwarzen Männer, in dem ich den Rang eines Dator bekleide, oder, wie die niederen Barsoomier sagen würden, den eines Prinzen. Meine Rasse ist die älteste des Planeten. Unsere Abstammung läßt sich ohne Unterbrechung direkt bis zum Baum des Lebens zurückverfolgen, der vor dreiundzwanzig Millionen Jahren in der Mitte des Tales Dor blühte«, erklärte er.

»Unzählige Jahrhunderte machten die Früchte dieses Baumes eine Evolution durch und entwickelten sich von einer reinen Pflanze zu einer Kombination von Pflanze und Tier. In den ersten Stadien vermochten die Früchte lediglich unabhängige Muskelbewegungen auszuführen, während der Stengel mit dem Elterngewächs verbunden blieb. Später bildete sich in der Frucht das Hirn heraus, so daß sie, während sie an ihren langen Stengeln hingen, wie individuelle Wesen denken und sich bewegen konnten.

Mit Entwicklung der Empfindungen kam es zu deren Vergleich. Ansichten wurden aufgestellt und miteinander verglichen – so entfalteten sich auf Barsoom der Verstand und die Fähigkeit zu denken.

Jahrhunderte vergingen. Viele Lebensformen an dem Baum kamen und gingen, doch noch immer waren sie durch verschieden länge Stengel mit dem elterlichen Gewächs verbunden. Schließlich bestand die Frucht des Baumes in winzigen Pflanzenmenschen, wie wir sie nun in solch riesigen Ausmaßen im Tal Dor reproduziert sehen. Sie hingen noch immer an den Ästen und Zweigen des Baumes, an Stengeln, die aus der Mitte ihrer Köpfe wuchsen.

Die Knospen, aus denen die Pflanzenmenschen schlüpften, ähnelten großen Nüssen von einem Fuß Durchmesser, die durch doppelte Trennwände in vier Abschnitte geteilt wurden. In einem davon wuchs der Pflanzenmensch, im nächsten ein sechzehnfüßiger Wurm, im dritten der Vorfahr des weißen Affen und im vierten der schwarze Urmensch von Barsoom.

Als die Knospe aufbrach, blieb der Pflanzenmensch am Stengel hängen, doch die drei anderen Teile fielen zu Boden, wo die Befreiungsversuche ihrer Bewohner sie in alle Richtungen hüpfen ließen.

Als die Zeit verging, war die Oberfläche von ganz Barsoom von diesen eingekapselten Geschöpfen bedeckt. Unzählige Jahrhunderte führten sie ihre langen Leben in den harten Schalen, hüpften und sprangen auf dem ganzen Planeten umher, stürzten in Flüsse, Seen und Meere, um sich noch weiter über diese neue Welt auszubreiten.

Milliarden von ihnen starben, bis der erste schwarze Mensch seine Gefängniswände durchbrach und das Tageslicht erblickte. Die Neugierde ließ ihn die anderen Schalen öffnen, und so begann sich Barsoom zu bevölkern.

Das reine Blut dieses ersten schwarzen Menschen entging der Vermischung mit dem Blut anderer Kreaturen und blieb in jener Rasse erhalten, der ich angehöre. Aus dem sechzehnfüßigen Wurm, dem ersten Affen und abtrünnigen Schwarzen entwickelten sich jedoch alle anderen Tierarten, die heute auf Barsoom anzutreffen sind.

Die Therns sind nur Nachfahren des echten weißen Affen der Vorzeit, ein Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklung.« Bei diesen Worten zeigte er ein böses Lächeln. »Sie sind noch immer eine niedere Ordnung. Es gibt lediglich eine Rasse von reinen und unsterblichen Menschen auf Barsoom – die der schwarzen Menschen. Der Baum des Lebens ist tot, doch bevor er einging, lernten die Pflanzenmenschen sich von ihm zu lösen und streifen nun mit den anderen Kindern der ersten Eltern durch ganz Barsoom.

Ihre Zweigeschlechtlichkeit erlaubt ihnen, sich wie richtige Pflanzen zu vermehren. In jeder anderen Hinsicht haben sie sich jedoch in all den Jahrhunderten ihres Daseins wenig verändert. Ihre Handlungen und Bewegungen werden größtenteils vom Instinkt bestimmt, weniger vom Verstand, da das Hirn eines Pflanzenmenschen nur ein weniges größer ist als die Kuppe eures kleinsten Fingers. Sie ernähren sich von Pflanzen und dem Blut von Tieren. Ihr Hirn reicht gerade dafür aus, ihre Bewegungen in Richtung der Nahrung zu steuern und das Signal zur Nahrungsaufnahme zu verstehen, das ihnen von den Augen und Ohren zugetragen wird. Da sie über keinen Selbsterhaltungstrieb verfügen, haben sie keine Angst vor Gefahr. Deswegen sind sie im Kampf solch schreckliche Gegner.«

Mich wunderte, warum der schwarze Mann sich vor seinen Feinden derart ausführlich über die Entstehung des Lebens auf Barsoom ausließ. Es war ein seltsam unpassender Moment, daß ein stolzer Angehöriger einer stolzen Rasse mit seinem Widersacher eine solch alltägliche Unterhaltung führen sollte. Besonders angesichts der Tatsache, daß der Schwarze noch immer sorgfältig gefesselt an Deck lag.

Den Bruchteil einer Sekunde schweifte sein Blick hinter mich und erklärte mir sein Motiv, meine Aufmerksamkeit auf diese wirklich fesselnde Geschichte zu lenken.

Er lag vor mir, einige Schritte vor den Schalthebeln, wo ich noch immer stand, und sah beim Reden in Richtung Heck. Am Ende seiner Beschreibung der Pflanzenmenschen bemerkte ich, daß seine Augen für kurze Zeit hinter mich starrten. Auch war der schnelle, triumphierende Schimmer untrüglich, der in diesen dunklen Augen für einen Moment aufleuchtete.

Kurz zuvor hatte ich die Geschwindigkeit verringert, denn wir hatten das Tal Dor viele Meilen hinter uns gelassen, und ich fühlte mich recht sicher. Ahnungsvoll warf ich einen Blick hinter mich, und das, was ich zu Gesicht bekam, nahm mir mit einem Schlag die erst kürzlich erwachte Hoffnung.

Ein großes Schlachtschiff, still und düster durch die dunkle Nacht segelnd, ragte dicht hinter unserem Heck auf.

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