10. Die Gefängnisinsel Shador

In den äußeren Gärten, zu denen mich die Wache brachte, fand ich Xodar, umgeben von einer Schar schwarzer Edelleute, die ihn beschimpften und Unflat über ihm ausschütteten. Die Männer versetzten ihm Schläge ins Gesicht, und die Frauen spuckten ihn an.

Als ich erschien, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf mich.

»Ah«, schrie einer. »Das also ist die Kreatur, die den großen Xodar mit bloßen Händen überwältigte. Laßt uns sehen, wie er das vollbracht hat.«

»Er soll Thurid in Fesseln legen«, schlug eine wunderschöne Frau vor. »Thurid ist ein berühmter Dator. Thurid soll diesem Hund zeigen, was es heißt, einem wirklichen Mann entgegenzutreten.«

»Ja, Thurid! Thurid!« ertönten dutzende Stimmen.

»Da kommt er«, rief ein anderer. Ich wandte mich in die Richtung, in die er wies, und erblickte einen riesigen Schwarzen, beladen mit prächtigen Verzierungen und Waffen, der sich uns mit vornehmen und protzigem Gebaren näherte.

»Was ist?« donnerte er. »Was wolltet ihr von Thurid?« Schnell erklärte man es ihm.

Thurid blickte zu Xodar, die Augen zu zwei bösen Schlitzen verengt. »Calot!« zischte er. »Ich habe schon immer gewußt, daß in deiner Brust das nichtswürdige Herz eines Soraks schlägt. Oft hast du mich im geheimen Rat von Issus ausgestochen, doch nun auf dem Feld der Ehre, wo sich Männer wahrhaft miteinander messen, hat dein niederträchtiges Herz aller Welt seine Schwächen kundgetan. Calot, ich verachte dich!« Mit diesen Worten schickte er sich an, Xodar einen Tritt zu versetzen.

Mein Blut raste. Seit Minuten war es in Wallung geraten, angesichts der unfairen Art und Weise, auf die sie mit ihrem einst machtvollen Kameraden umsprangen, nur weil er Issus’ Gunst verloren hatte. Mir war Xodar gleichgültig, doch ertrage ich es nicht, mitanzusehen, wie jemand ungerecht behandelt und beschimpft wird. Dann sehe ich Rot, als hinge mir ein blutiger Nebel vor den Augen, ich lasse mich dann mehr vom Impuls des Augenblickes lenken und handle, wie ich es wahrscheinlich nach reichlicher Überlegung niemals tun würde.

Ich stand dicht neben Xodar, als Thurid mit dem Fuß zu einem gemeinen Tritt ausholte. Der erniedrigte Xodar stand regungslos wie eine Statue. Er war auf alle möglichen Beleidigungen und Beschimpfungen seitens seiner früheren Gefährten gefaßt und nahm sie in männlicher Ruhe und Gelassenheit hin.

Doch gleich Thurid holte auch ich Schwung und versetzte diesem einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein, so daß Xodar diese zusätzliche Schande erspart blieb.

Einen Augenblick herrschte gespannte Stille, dann sprang mir Thurid mit wütendem Gebrüll an die Kehle, so, wie es Xodar an Deck des Kriegsschiffes getan hatte. Das Ergebnis war dasselbe. Ich duckte mich unter den ausgestreckten Armen, und als er an mir vorbeistürzte, verpaßte ich ihm mit der Rechten einen fürchterlichen Schlag gegen den Unterkiefer.

Der Hüne drehte sich wie ein Kreisel, die Knie gaben unter ihm nach, und er sank vor meinen Füßen zu Boden.

Die Schwarzen rissen die Augen vor Erstaunen weit auf und blickten erst auf die reglose Gestalt des stolzen Dators, der im rubinroten Staub des Weges lag, dann auf mich, als hielten sie so etwas nicht für möglich.

»Ihr habt mich gebeten, Thurid zu fesseln. Schaut her!« rief ich, kniete neben dem Liegenden nieder, zog ihm die Lederausrüstung vom Leib und band dem Mann damit Arme und Beine, so daß er sich nicht hätte befreien können.

»Wie ihr mit Xodar verfahren seid, verfahrt nun auch mit Thurid. Bringt ihn zu Issus, gefesselt in seinem Lederzeug, damit sie mit eigenen Augen sieht, daß es unter euch jemanden gibt, der stärker ist als die Erstgeborenen.«

»Wer bist du?« flüsterte die Frau, die als erste vorgeschlagen hatte, daß ich Thurid fesselte.

»Ich bin ein Bürger zweier Welten, Hauptmann John Carter von Virginia und Prinz des Hauses von Tardos Mors, dem Jeddak von Helium. Bringt diesen Mann zu eurer Göttin, wie ich gesagt habe, und berichtet ihr auch, daß es so, wie es Xodar und Thurid ergangen ist, den mächtigsten ihrer Dators ergehen wird. Mit bloßen Händen, mit dem langen Schwert oder dem Kurzschwert fordere ich die Elite ihrer Soldaten zum Zweikampf.«

»Komm«, sagte der Offizier, der mich nach Shador bringen sollte. »Ich habe meine Befehle, sie dulden keinen Aufschub. Xodar, auch für dich nicht.«

Nur wenig Geringschätzung lag in dem Ton, in dem der Mann sowohl Xodar als auch mich ansprach. Es war offensichtlich, daß er den früheren Dator weniger verachtete, seit er miterlebt hatte, mit welcher Leichtigkeit ich mich des mächtigen Thurid entledigte.

Daß er mir mehr Achtung entgegenbrachte als einem Sklaven, zeigte sich darin, daß er fortan immer mit gezogenem Kurzschwert hinter mir stand oder ging.

Die Rückkehr zum Meer Omean verlief ohne Zwischenfälle. Der Fahrstuhl, der uns zuvor an die Oberfläche gebracht hatte, beförderte uns durch den gigantischen Schacht nach unten. Dann kletterten wir in das U-Boot, mit dem die lange Fahrt ins Marsinnere begann. Wir durchquerten den Tunnel und stiegen wieder zu dem Schwimmbecken auf, von wo aus wir zum ersten Mal die wundersame Reise von Omean zum Tempel von Issus angetreten hatten.

Von der Insel, auf der das Unterseeboot lag, begaben wir uns auf einem kleinen Kreuzer zur fernen Insel Shador. Dort fanden wir ein kleines Steingefängnis vor, das von einem halben Dutzend Schwarzer bewacht wurde. Man machte keine großen Umstände mit unserer Einkerkerung. Einer der Schwarzen öffnete mit einem großen Schlüssel die Gefängnistür, wir traten ein, die Tür schloß sich hinter uns, und das Schloß knirschte. Mit diesem Geräusch bemächtigte sich meiner wieder dasselbe schreckliche Gefühl der Hoffnungslosigkeit wie damals in der Kammer der Geheimnisse in den Goldenen Felsen unter den Gärten der Heiligen Therns.

Damals war Tars Tarkas bei mir gewesen, doch hier war ich, soweit es freundliche Gesellschaft betraf, völlig allein. Ich begann wieder, mir über das Schicksal des großen Thark und seiner schönen Gefährtin, dem Mädchen Thuvia, Gedanken zu machen. Sogar wenn sie durch irgendein Wunder entkommen waren und auf ein freundlich gesonnenes Volk gestoßen sind, das Gnade walten ließ, wie sehr durfte ich dann darauf hoffen, daß sie dieses davon zu überzeugen vermochten, auch mir zu Hilfe zu kommen? Und das würden die beiden mit Sicherheit wollen.

Hinsichtlich meines Verbleibs oder Schicksals konnten sie nicht einmal raten, denn keine Seele von ganz Barsoom würde sich auch nur vorstellen können, daß es einen solchen Ort wie diesen gab. Auch hätte es mir nicht viel genutzt, wenn sie gewußt hätten, wo man mich gefangen hielt, denn konnte ich darauf hoffen, daß es jemandem gab, der dieses verborgene Meer zu überqueren und der mächtigen Luftwaffe der Erstgeborenen zu trotzen vermochte? Nein. Mein Fall war hoffnungslos.

Gut, ich würde das Beste daraus machen. Ich erhob mich, fegte alle düsteren Gedanken beiseite, die sich meiner bemächtigen wollten. In der Absicht, das Gefängnis zu erkunden, blickte ich mich um.

Xodar saß mit gesenktem Kopf auf einer flachen Steinbank, die fast in der Mitte des Raumes stand. Er hatte kein Wort gesprochen, seit Issus ihn seiner Ränge enthoben hatte.

Das Gebäude war nicht überdacht und besaß eine Höhe von etwa dreißig Fuß. Ein Stück oberhalb von uns befanden sich einige kleine, stark vergitterte Fenster. Der Bau wurde durch zwanzig Fuß hohe Zwischenwände in mehrere Räume geteilt. Bei uns in der Zelle wohnte außer uns niemand, doch zwei Türen zu den Nebenräumen standen offen. Ich ging in den ersten von ihnen und fand ihn leer. So durchquerte ich einen Raum nach dem anderen, bis ich im letzten einen jungen roten Marsmenschen vorfand, der auf der Steinbank, dem einzigen Möbelstück jeder Zelle, lag und schlief.

Der Junge war offensichtlich der einzige Gefangene außer uns. Da er schlief, beugte ich mich über ihn und betrachtete ihn. Etwas in seinem Gesicht kam mir merkwürdig bekannt vor, und doch konnte ich ihn nirgendwo einordnen. Seine Gesichtszüge waren sehr regelmäßig und gleich den wohlgestalteten Gliedmaßen und dem Körper äußerst ansehnlich. Für einen roten Menschen hatte er eine sehr helle Hautfarbe, doch in jeder anderen Hinsicht schien er ein typischer Angehöriger dieses gutaussehenden Volkes zu sein.

Ich ließ ihn schlafen, denn Schlaf ist im Gefängnis ein solcher Segen, daß ich es schon miterlebt habe, wie sich Männer in wütende Ungeheuer verwandelten, wenn sie ein Mitgefangener auch nur einiger weniger wertvoller Minuten davon beraubte.

Ich kehrte in meine Zelle zurück und fand Xodar in derselben Haltung vor, in der ich ihn zurückgelassen hatte.

»Mann! Es wird dir nichts bringen, wenn du Trübsal bläst!« rief ich. »Es ist keine Schande, von John Carter besiegt zu werden. Du hast gesehen, mit welcher Leichtigkeit ich Thurid überwältigt habe. Du wußtest es vorher, als du an Deck des Kreuzers mich drei deiner Leute hast bezwingen sehen.«

»Ich wünschte, du hättest mich gleich mit ihnen erledigt«, sagte er.

»Komm, komm!« rief ich. »Noch gibt es Hoffnung. Wir beide sind am Leben und großartige Kämpfer. Warum sollten wir uns nicht die Freiheit erkämpfen?«

Er blickte mich erstaunt an und entgegnete: »Du weißt nicht, was du da sagst. Issus ist allmächtig. Sie hört jedes der Worte, die du aussprichst. Sie kennt deine Gedanken. Es ist bereits ein Frevel, im Traum daran zu denken, ihren Befehlen zuwiderzuhandeln.«

»Unsinn, Xodar«, rief ich ungeduldig aus. Entsetzt sprang er auf.

»Der Fluch von Issus wird dich treffen«, rief er. »Im nächsten Augenblick wirst du dafür bestraft werden und dich in schrecklichen Todesqualen krümmen.«

»Glaubst du das, Xodar?« fragte ich.

»Natürlich, wer würde es wagen, daran zu zweifeln?«

»Ich zweifle daran, und alle weiteren Dinge stelle ich ganz und gar in Abrede«, sagte ich. »Xodar, du sagst mir, daß sie sogar meine Gedanken kennt. Die roten Menschen verfügen über diese wundervolle Fähigkeit schon seit Jahrhunderten.

Und sie vermögen noch etwas anderes zu tun. Sie können ihre Gedanken so verschließen, daß sie niemandem zugänglich sind. Ich habe das Lesen von Gedanken vor Jahren gelernt. Das andere hatte ich nicht erst zu lernen, da es auf ganz Barsoom niemanden gibt, der in die innersten Kammern meines Gehirns vordringen kann. Deine Göttin kann meine Gedanken nicht lesen und auch deine nicht, wenn sie dich nicht sieht. Sie kann es nur dann, wenn du ihr gegenüberstehst. Hätte sie meine lesen können, dann hätte ihr Stolz einen ziemlich ernsthaften Schaden genommen, fürchte ich, als ich ihrem Befehl Folge leistete und mich umwandte, um das heilige ›Traumbild ihrer blendenden Schönheit‹ in Augenschein zu nehmen.«

»Was willst du damit sagen?« flüsterte er mit erschreckter Stimme, so leise, daß ich ihn kaum hören konnte.

»Ich meine, daß ich sie für die abstoßendste und gemeinhin entsetzlichste Kreatur halte, die mir jemals zu Gesicht gekommen ist.«

Einen Augenblick lang sah er mich entsetzt an und sprang dann mit dem Schrei ›Gotteslästerer!‹ auf mich zu.

Ich wollte ihn nicht wieder schlagen, ferner war es unnötig, denn er war unbewaffnet und deswegen nicht weiter gefährlich für mich.

Als er kam, packte ich mit meiner Linken sein linkes Handgelenk, fuhr mit dem rechten Arm über seine linke Schulter, klemmte ihm den Ellenbogen unters Kinn und drückte ihn rückwärts über meinen Schenkel.

Dort hing er für einen Augenblick hilflos und starrte mich in ohnmächtiger Wut an.

»Xodar«, sagte ich. »Laß uns Freunde sein. Wir müssen vielleicht hier in diesem winzigen Raum ein Jahr zusammen verbringen. Es tut mir leid, dich gekränkt zu haben, doch habe ich es mir nicht träumen lassen, daß jemand, mit dem Issus auf eine so grausame und ungerechte Weise verfahren ist, noch an ihre Göttlichkeit zu glauben vermag. Ich werde noch einige wenige Worte sagen, Xodar, ohne deine Gefühle weiter verletzen zu wollen, sondern damit du auch darüber nachdenkst, daß wir, solange wir leben, unser Schicksal in größerem Maße bestimmen als jeder Gott. Wie du siehst, hat Issus mich nicht tot zu Boden sinken lassen. Auch wird sie ihren treuen Xodar nicht aus den Klauen des Ungläubigen befreien, der ihre Schönheit geschmäht hat. Nein, Xodar, deine Issus ist eine sterbliche alte Frau. Bist du ihr einmal entkommen, kann sie dir nicht schaden. Mit deinem Wissen über dieses seltsame Land und meinen Kenntnissen von der Außenwelt sollten zwei solche Kämpfer, wie wir beide es sind, in der Lage sein, sich den Weg in die Freiheit zu bahnen. Auch wenn wir bei dem Versuch stürben, hätte man uns nicht in besserer Erinnerung, als verharrten wir in unterwürfiger Furcht, um von einer grausamen und ungerechten Tyrannin dahingeschlachtet zu werden – nenne sie Göttin oder Sterbliche, wie du willst.«

Als ich geendet hatte, stellte ich Xodar auf die Füße und ließ ihn los. Er versuchte kein weiteres Mal, mich anzugreifen, und sagte kein Wort. Statt dessen ging er zur Bank, sank darnieder und blieb stundenlang, seinen Gedanken nachhängend, darauf sitzen.

Nach langer Zeit drang ein leises Geräusch von einer der Türen der Nebenräume zu mir. Ich blickte auf und sah den roten Marsjungen, der uns forschend anschaute.

»Kaor«, rief ich den Gruß der roten Marsmenschen. »Kaor«, entgegnete er. »Was macht ihr hier?«

»Auf den Tod warten, nehme ich an«, erwiderte ich mit einem gequälten Lächeln.

Auch er zeigte ein mutiges und gewinnendes Lächeln. »Ich auch«, sagte er. »Meiner kommt bald. Ich habe die blendende Schönheit von Issus schon vor fast einem Jahr erblickt. Wenn ich daran denke, erstaunt es mich immer wieder außerordentlich, daß ich nicht beim ersten Blick auf dieses entsetzliche Gesicht tot umgefallen bin. Und der Leib erst! Bei meinem ersten Ahnen, nie zuvor habe ich auf der ganzen Welt eine solche lächerliche Gestalt gesehen. Daß jemand so etwas mit ›Göttin des Ewigen Lebens‹, ›Göttin des Todes‹, ›Mutter des Nächsten Mondes‹ und mit fünfzig anderen gleichartig unmöglichen Titeln bezeichnen kann, geht über meinen Horizont.«

»Wie bist du hierher gekommen?« fragte ich.

»Das ist sehr einfach. Ich befand mich mit einem einsitzigen Aufklärungsflugzeug weit im Süden, als mir die brilliante Idee kam, das Verlorene Meer Korus zu suchen, das sich dem Hörensagen nach in der Nähe des Südpoles befinden soll. Ich muß von meinem Vater eine unbändige Abenteuerlust geerbt haben sowie eine Leere an der Stelle, wo meine Respektgefühle sitzen sollen. Mir gelang es, bis zum Gebiet des ewigen Eises vorzudringen, als mein Propeller blockierte. Ich landete, um die Reparatur auszuführen. Bevor ich mich versah, war der Himmel schwarz von Fliegern, und Hunderte dieser teuflischen Erstgeborenen setzten neben mir auf. Die Schwerter gezückt, warfen sie sich auf mich, doch bevor ich unter ihnen zu Boden ging, bekamen sie den Stahl von meines Vaters Schwert zu spüren, und ich legte ein solches Zeugnis von mir ab, daß mein Vater hocherfreut gewesen wäre, wenn er es noch hätte miterleben können.«

»Dein Vater ist tot?« fragte ich.

»Er starb, bevor die Schale zerbrach, um mich in eine Welt treten zu lassen, die sehr gut zu mir war. Doch abgesehen von dem Kummer, daß ich nie die Ehre hatte, meinen Vater kennenzulernen, war ich sehr glücklich. Das einzige, was mich jetzt bedrückt, ist, daß meine Mutter mich nun ebenso beweinen muß wie zuvor zehn lange Jahre meinen Vater.«

»Wer war dein Vater?« fragte ich.

Er hub an, um zu antworten, als sich die Außentür unseres Gefängnisses öffnete, ein stämmiger Wachposten eintrat, ihm befahl, sich des Nachts in sein eigenes Quartier zu begeben, ihn in die entferntere Zelle brachte und hinter ihm die Tür versperrte.

»Es ist Issus’ Wunsch, euch beide im selben Raum zu halten«, sagte der Wachposten, als er wieder bei uns angelangt war. »Dieser feige Sklave von einem Sklaven soll dir zu Diensten sein«, fügte er hinzu und wies mit einer Handbewegung auf Xodar. »Wenn er nicht gehorcht, sollst du ihn schlagen, bis er sich unterwirft. Issus wünscht, daß du ihn auf jede erdenkliche Weise beschämst und erniedrigst.«

Mit diesen Worten verließ er uns.

Xodar saß noch immer da, die Hände vors Gesicht geschlagen. Ich trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Xodar«, sagte ich. »Du hast Issus’ Befehle vernommen, doch du brauchst nicht zu fürchten, daß ich ihnen Folge leisten werde. Du bist ein mutiger Mann, Xodar. Du mußt selbst entscheiden, ob du verfolgt und erniedrigt werden willst, doch wenn ich du wäre, würde ich mich wieder als ein Mann erweisen und meinen Feinden entgegentreten.«

»Ich habe sehr lange nachgedacht, John Carter«, erwiderte er. »Über all jene neuen Gedanken, die du mir gegenüber vor einigen Stunden geäußert hast. Stück für Stück habe ich die Sachen, die du gesagt hast und die mir zuerst als Gotteslästerungen erschienen sind, mit den Dingen in Zusammenhang gebracht, die ich in meinem bisherigen Leben erlebt habe und über die ich nicht gewagt habe, nachzudenken, aus Angst, den Zorn von Issus auf mich zu ziehen. Ich glaube nun, daß sie eine Betrügerin ist, nicht weniger sterblich als du oder ich. Noch mehr bin ich bereit, zuzugeben, daß die Erstgeborenen nicht heiliger als die Heiligen Therns sind und auch daß die Heiligen Therns nicht heiliger als die roten Menschen sind. Unsere gesamte Religion beruht auf lügnerischem Aberglauben, den uns unsere Herrscher über Jahrhunderte hinweg einredeten, da es zu ihrem persönlichem Nutzen geschah und ihrer Macht förderlich war, wenn wir weiter an diesem Glauben festhielten. Ich bin bereit, mich von den Banden zu befreien, die mich festgehalten haben. Auch würde ich Issus selbst herausfordern. Doch was wird es uns bringen? Mögen die Erstgeborenen nun Götter oder Sterbliche sein, sie sind ein mächtiges Volk und haben uns so fest in ihrer Gewalt, daß unser Tod so gut wie sicher ist. Es gibt kein Entkommen.«

»Mein Freund, ich habe mich in der Vergangenheit schon oft aus einer mißlichen Lage befreit«, entgegnete ich. »Solange Leben in mir ist, werde ich den Gedanken nicht aufgeben, von der Insel Shador im Meer Omean zu fliehen.«

»Wir können nicht einmal aus diesen vier Wänden entkommen«, versuchte mich Xodar zu überzeugen. »Befühle dieses harte Material!« rief er und klopfte gegen das feste Felsgestein unseres Gefängnisses. »Sieh, diese glatte Oberfläche, niemand könnte daran nach oben klettern.«

Ich lächelte.

»Das ist die geringste von unseren Sorgen, Xodar«, entgegnete ich. »Ich bürge dafür, daß ich die Wand erklimmen und dich mit mir nehmen kann, wenn du mir mit deinem Wissen um die vorherrschenden Gepflogenheiten verrätst, um welche Zeit es am günstigsten ist, und wenn du mich zu dem Schacht bringst, der von dem Gewölbe über dieser unergründlichen See zu dem Tageslicht und der reinen Luft Gottes führt.«

»Nachts ist es am besten, dann bietet sich die einzige winzige Chance, die wir haben, denn dann schlafen die Menschen, und nur in den Ausgucken der Kriegsschiffe träumen einige Wachposten vor sich hin. Auf den Kreuzern und den kleineren Fahrzeugen bleibt niemand zurück. Die Posten auf den größeren Schiffen wachen über alles. Jetzt ist Nacht.«

»Aber es ist doch gar nicht dunkel«, rief ich aus. »Wie kann es denn Nacht sein?«

Lächelnd entgegnete er: »Du vergißt, daß wir uns weit unten befinden. Das Sonnenlicht dringt niemals bis hierhin vor. Es gibt keine Monde und Sterne, die sich auf der Oberfläche von Omean widerspiegeln. Das phosphoreszierende Licht, das du jetzt in diesem riesigen, unterirdische Gewölbe siehst, kommt aus den Felsen, die seine Kuppel bilden. Das Licht scheint immer über Omean, so wie die Wogen des Meeres immer gleich sind, so, wie du sie jetzt siehst – sie heben und senken sich ständig trotz Windstille. In einer bestimmten Stunde der Welt über uns legen sich die Menschen zur Ruhe, die hier ihren Pflichten nachgehen, doch das Licht bleibt immer dasselbe.«

»Das wird uns die Flucht erschweren«, sagte ich. Dann zuckte ich die Schultern, denn ist es nicht reizvoller, sich einer komplizierten Angelegenheit zu stellen?

»Laß uns heute nacht darüber schlafen. Wenn wir erwachen, fällt uns vielleicht etwas ein«, sagte Xodar.

So legten wir uns auf dem harten Stein unseres Gefängnisses nieder und schliefen den Schlaf müder Männer.

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