13. Der Aufbruch in die Freiheit

Xodar lauschte mir voll ungläubigen Staunens, als ich ihm von den Vorfällen bei den Feierlichkeiten von Issus in der Arena berichtete. Auch wenn er bereits seine Zweifel hinsichtlich des heiligen Wesens von Issus’ geäußert hatte, konnte er es offensichtlich noch immer nicht so richtig fassen, daß man sie mit dem Schwert in der Hand bedrohen konnte, ohne von ihrem alleinigen Gotteszorn in tausend Stücke gerissen zu werden.

»Das ist der endgültige Beweis«, sagte er schließlich. »Mehr bedarf es nicht, um in mir den letzten Rest meiner abergläubischen Vorstellungen und des Glaubens von der Göttlichkeit Issus’ zu zerstören. Sie ist nur eine boshafte, alte Frau, die seit Jahrhunderten ihre starke Macht mißbraucht und in ihrem eigenen Volk sowie bei allen Bewohnern von Barsoom durch ihre Machenschaften einen unsinnigen Glauben nährt.«

»Dennoch ist sie hier noch immer allmächtig. So sollten wir bei der ersten besten Gelegenheit, die uns geeignet erscheint, die Flucht ergreifen«, entgegnete ich.

»Ich hoffe, du findest einen geeigneten Moment«, sagte er lachend, »denn ich kann mich nicht an einen einzigen Augenblick in meinem ganzen Leben erinnern, in dem den Erstgeborenen ein Gefangener hätte entkommen können.«

»Heute ist der Zeitpunkt genau so günstig wie an jedem anderen Tag«, erwiderte ich.

»Bald ist Nacht. Wie kann ich dir bei dem Unternehmen behilflich sein?« fragte Xodar.

»Kannst du schwimmen?« fragte ich.

»Kein schleimiger Silian aus den Tiefen von Korus fühlt sich mehr im Wasser zu Hause als Xodar«, antwortete er.

»Gut. Der rote Mensch kann es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, da es in all ihren Gebieten kaum genug Wasser gibt, um es mit dem winzigsten Boot zu befahren«, sagte ich. »Demzufolge wird ihn einer von uns durchs Meer zu dem Fahrzeug bringen müssen, das wir uns ausgesucht haben. Ich hatte gehofft, die gesamte Entfernung unter Wasser hinter uns zu bringen, doch ich fürchte, mit dem roten Jungen geht das nicht. Sogar die Allermutigsten von ihnen bekommen es bei dem bloßen Gedanken an tiefes Wasser mit der Angst, da es Jahrhunderte her ist, daß einer ihrer Vorfahren einen See, Fluß oder ein Meer zu Gesicht bekommen hat.«

»Der rote Junge wird uns begleiten?« fragte Xodar. »Ja.«

»Das ist gut. Drei Schwerter sind besser als zwei. Besonders, wenn der dritte so stark ist wie dieser Geselle. Ich habe ihm viele Male in der Arena bei den Feierlichkeiten von Issus beim Kampf zugeschaut. Bis ich euch kämpfen sah, hatte ich es nie zuvor erlebt, daß jemand sogar gegenüber einer großen Übermacht siegreich sein kann. Man könnte denken, ihr beide seid Meister und Lehrling oder Vater und Sohn. Selbst äußerlich besteht zwischen euch eine Ähnlichkeit. Besonders deutlich tritt diese beim Kampf zutage – ihr habt dasselbe grausame Lächeln auf den Lippen, in jeder eurer Bewegungen und in eurem Mienenspiel zeigt sich dieselbe unerträgliche Verachtung für euren Widersacher.«

»Sei es, wie es sei, Xodar, er kämpft großartig. Ich denke, wir werden zu dritt schwer zu besiegen sein, und wäre mein Freund, Tars Tarkas, der Jeddak von Thark, noch bei uns, könnten wir uns von einem zum anderen Ende von Barsoom durchkämpfen, und wenn die ganze Welt gegen uns ist.«

»Das wird eintreten, sobald sie herausfinden, woher du kommst«, sagte Xodar. »Auch das ist ein Teil des Aberglaubens, den Issus den Menschen mit Erfolg eingeredet hat. Dazu bedient sie sich der Heiligen Therns, die wie die Barsoomier der Außenwelt von ihrem wahrem Wesen nicht die geringste Ahnung haben. Die Therns erhalten ihre Erlässe auf einem seltsamen, mit Blut beschriebenen Pergament. Die armen, betrogenen Narren denken dann, daß ihnen von irgendeiner übernatürlichen Kraft die Offenbarungen einer Gottheit zugetragen werden, da sie diese Botschaften auf ihren bewachten Altaren vorfinden, zu denen niemand unbemerkt vordringen könnte. Ich selbst habe jahrelang diese Nachrichten von Issus hingebracht. Ein langer Tunnel führt vom Tempel von Issus zum Haupttempel von Matai Shang. Er wurde vor Jahrhunderten von den Sklaven der Erstgeborenen unter äußerster Geheimhaltung gegraben, so daß kein Thern jemals von seiner Existenz erfuhr.

Die Therns für ihren Teil besitzen überall in der zivilisierten Welt Tempel. Ihre Priester, die kein Mensch je zu Gesicht bekommt, verbreiten die Lehre vom geheimnisvollen Fluß Iss, dem Tal Dor und dem Verlorenen Meer Korus, um die armen, irregeleiteten Geschöpfe dazu zu bringen, freiwillig die Pilgerfahrt anzutreten, die den Reichtum der Heiligen Therns mehrt und die Anzahl ihrer Sklaven vergrößert. So besteht die Aufgabe der Therns hauptsächlich darin, die Schätze einzusammeln und Arbeitskräfte zu besorgen, die die Erstgeborenen ihnen dann je nach Bedarf wieder entreißen. Gelegentlich führen die Erstgeborenen selbst Überfälle auf die Außenwelt durch. Dabei rauben sie viele Frauen aus den Palästen der roten Menschen und nehmen die neuesten Kriegsschiffe sowie die ausgebildeten Mechaniker mit, die diese Schiffe gebaut haben, um das, was sie selbst nicht erfinden können, zu kopieren. Wir sind ein unproduktives Volk und sind auch noch stolz darauf. Es ist für einen Erstgeborenen ein Verbrechen, zu arbeiten oder etwas zu erfinden. Das steht den niederen Kreaturen zu, die lediglich deswegen existieren, damit die Erstgeborenen ein langes Leben von Luxus und Müßiggang führen können. Bei uns zählt nur das Kämpfen, ohne dies gäbe es mehr Erstgeborene, als alle anderen Geschöpfe auf Barsoom unterstützen könnten, denn soweit ich weiß, stirbt niemand von uns eines natürlichen Todes. Unsere Frauen würden ewig leben, wenn wir ihrer nicht mit der Zeit überdrüssig würden und uns ihrer entledigten, damit sie für andere Platz machen. Issus allein ist vor dem Tod gefeit. Sie lebt schon seit unzähligen Jahrhunderten.«

»Würden nicht die anderen Barsoomier ewig leben, wenn es nicht die Mär von der freiwilligen Pilgerfahrt gäbe, die sie in ihrem tausendsten Lebensjahr oder schon vorher an den Busen des Flusses Iss zieht?« fragte ich ihn.

»Daran bestehen meines Erachtens keine Zweifel. Ich denke, sie gehören derselben Rasse an wie die Erstgeborenen, und ich hoffe, noch lange genug zu leben, um im Kampf für sie jene Sünden wieder gutzumachen, die ich an ihnen als unwissender Anhänger einer seit Generationen weitergegebenen Irrlehre begangen habe.«

Als er verstummte, drang ein unheimlicher Schrei über das Meer Omean zu uns. Ich hatte ihn schon am vorigen Abend zur selben Zeit gehört und wußte, daß er das Ende des Tages verkündete, zu dem die Menschen von Omean ihre Seidentücher an den Decks der Kriegsschiffe und Kreuzer ausbreiteten und in den traumlosen Schlaf vom Mars fielen.

Unser Wachposten trat ein, um uns ein letztes Mal zu kontrollieren, bevor auf der Welt oben ein neuer Tag anbrach. Schnell war seine Pflicht erfüllt, und die schweren Gefängnistüren schlossen sich wieder hinter ihm – wir waren allein in der Nacht.

Ich gab ihm Zeit, zu seinem Quartier zurückzukehren, denn das würde er nach Xodars Ansicht aller Wahrscheinlichkeit nach tun, sprang zum Fenstergitter hoch und blickte auf das nahegelegene Wasser. Ein Stück vor der Insel, vielleicht eine Viertelmeile vom Strand entfernt, lag ein riesiges Kriegsschiff. Zwischen ihm und dem Ufer ankerten noch viele kleine Kreuzer und einsitzige Aufklärer. Nur auf dem Kriegsschiff befand sich ein Wachposten. Ich konnte ihn deutlich zwischen den Aufbauten des Schiffes erkennen, und als ich ihn beobachtete, sah ich, wie er seine Bettücher auf dem winzigen Flecken seiner Stellung ausbreitete und sich bald darauf auf seinem Lager ausstreckte. Tatsächlich nahm man es auf Omean mit der Disziplin nicht so genau. Doch darüber muß man sich nicht wundern, denn niemand auf Barsoom wußte von der Existenz einer solchen Flotte, von den Erstgeborenen oder dem Meer Omean. Warum sollten sie dann eine Wache aufstellen?

Bald ließ ich mich wieder zu Xodar hinunter und schilderte ihm, welche unterschiedlichen Fahrzeuge ich gesehen hatte.

»Eines davon ist mein persönliches Eigentum. Es kann fünf Mann tragen und ist eines der schnellsten Flugboote, die es so gibt. Könnten wir uns an sein Deck begeben, so würde man sich unseres Wettrennes um die Freiheit zumindest noch lange entsinnen.« Dann beschrieb er mir die Ausstattung, die Maschinen und alles, dem das Fahrzeug seine Eigenschaften zu verdanken hatte.

Bei seiner Beschreibung erkannte ich eine Schaltweise, die mich Kantos Kan gelehrt hatte, als wir unter falschem Namen in der Marine und Luftwaffe von Zodanga unter Sab Than, seinem Prinzen, gedient hatten. Mit einemmal war mir klar, daß die Erstgeborenen dieses Schiff aus Helium gestohlen hatten, denn nur deren Fahrzeuge werden auf diese Weise in Gang gesetzt. Ebenso wußte ich, daß Xodar die Wahrheit sagte, als er die Geschwindigkeit seines kleinen Fliegers pries, denn keines der Flugzeuge, die die dünnen Lüfte vom Mars durchqueren, kann auch nur annähernd die Geschwindigkeit der Maschinen von Helium erreichen.

Wir beschlossen, mindestens eine Stunde zu warten, bis alle Nachzügler ihre seidenen Nachtlager aufgesucht hatten. In der Zwischenzeit würde ich den roten Jungen in unsere Zelle holen, um dann zügig in die Freiheit aufbrechen zu können.

Ich sprang nach oben und zog mich auf die Trennwand. Sie war oben glatt und ungefähr einen Fuß breit. Darauf lief ich entlang, bis ich die Zelle des Jungen erreichte. Ich sah ihn auf seiner Bank sitzen, er hatte sich zurückgelehnt und blickte nach oben in die schimmernde Kuppel über Omean. Als er mich auf der Trennwand über sich entlangbalancieren sah, riß er vor Erstaunen die Augen auf. Dann breitete sich ein verstehendes und anerkennendes Grinsen über seinem Gesicht aus.

Als ich mich bückte, um zu ihm auf den Boden zu springen, hieß er mich warten, trat an mich heran und flüsterte: »Reich mir deine Hand, ich komme fast allein auf diese Wand. Ich habe es oft versucht, und jeden Tag springe ich ein bißchen höher. Eines Tages sollte es mir gelingen.«

Ich legte mich auf den Bauch und hielt ihm meine Hand entgegen. Mit einem kleinen Anlauf von der Mitte der Zelle sprang er, so daß ich seine ausgestreckte Hand fassen konnte. Dann zog ich ihn neben mich auf die Wand.

»Du bist der erste Springer, den ich bei den roten Menschen auf Barsoom kennenlerne«, sagte ich.

Er lächelte. »Daran ist nicht Außergewöhnliches. Wenn wir mehr Zeit haben, erzähle ich dir, wie es dazu kommt.«

Gemeinsam kehrten wir zu Xodars Zelle zurück, ließen uns zu ihm hinab, um uns zu unterhalten, bis die Stunde verstrichen war.

Dort schmiedeten wir die Pläne für unsere unmittelbare Zukunft und gelobten uns durch einen feierlichen Eid, im Kampf unsere Leben füreinander zu geben, welche Feinde uns auch immer gegenübertraten, denn ich wußte, daß, auch wenn wir den Erstgeborenen entkommen sollten, wir noch eine ganze Welt gegen uns hatten – die Macht religiösen Aberglaubens kennt keine Grenzen.

Es wurde beschlossen, daß ich das Fahrzeug steuern würde, wenn wir erst einmal an Bord waren, und daß wir, sollte es uns gelingen, in die Außenwelt zu gelangen, ohne Halt bis Helium weiterfliegen würden.

»Warum Helium?« fragte der rote Junge.

»Ich bin ein Prinz von Helium«, entgegnete ich.

Er blickte mich eigentümlich an, sagte jedoch nichts weiter dazu. Damals fragte ich mich, was sein Gesichtsausdruck zu bedeuten hatte, doch angesichts dringenderer Dinge vergaß ich es bald und hatte auch später keine Gelegenheit dazu, darüber nachzudenken.

»Kommt«, sagte ich schließlich. »Jetzt ist der günstigste Zeitpunkt gekommen.«

Im nächsten Augenblick hockten der Junge und ich auf der Trennwand. Ich schnallte mein Lederzeug auf und knüpfte daraus einen langen Riemen, den ich dem wartenden Xodar hinunterließ. Er packte das Ende und saß bald neben uns.

»Wie einfach«, lachte er.

»Der Rest sollte sogar noch einfacher sein«, erwiderte ich. Als nächstes zog ich mich an der Außenwand des Gefängnisses hoch, um einen Blick nach draußen zu werfen und festzustellen, wo sich der Wachposten im Moment gerade aufhielt. Nach etwa fünf Minuten kam er in Sicht, wie er in schneckenartigem Tempo seine Runde um das Bauwerk zog.

Ich wartete, bis er hinter dem Gebäude abgebogen war und die Stelle nicht mehr sehen konnte, an der wir den Ausbruch wagen wollten. Kaum war seine Gestalt verschwunden, griff ich Xodar und zog ihn zu mir auf die Mauer hoch. Dann ließ ich ihn mit Hilfe des Ledergurtes schnell auf die andere Seite hinab. Dann packte der Junge den Gurt und gesellte sich zu Xodar.

Entsprechend unserer Übereinkunft warteten sie nicht auf mich, sondern begaben sich langsam in Richtung des Wassers, ein Weg von etwa einhundert Yard, der an dem Wachgebäude voll mit schlafenden Soldaten vorbeiführte.

Sie hatten kaum zwölf Schritte getan, als auch ich mich zum Boden hinabließ und ihnen im gemächlichen Tempo folgte. Als ich an dem Wachhaus vorbeikam, dachte ich an all die scharfen Klingen, die sich darin befanden, und blieb stehen, denn wenn jemals Männer Schwerter brauchten, waren es meine Gefährten und ich bei diesem gefahrvollen Unternehmen, das wir in Angriff genommen hatten.

Ich blickte zu Xodar und dem Jungen und sah, daß sie über den Rand des Kais geschlüpft waren. Wie abgemacht, sollten sie im Wasser auf mich warten und sich an den Metallringen festhalten, mit denen das betonartige Material in Höhe des Wasserspiegels beschlagen war, so daß sich nur ihre Gesichter über Wasser befanden.

Die Versuchung mit den Schwertern im Wachhaus war stark, und ich zögerte einen Augenblick, halb geneigt, es zu riskieren und die wenigen Waffen, die wir benötigten, mitzunehmen. In dieser Hinsicht bestätigte sich das Wort, daß ein Zweifler unbeständig ist auf allen seinen Wegen, denn im nächsten Augenblick kroch ich vorsichtig auf die Tür des Wachhauses zu.

Sanft schob ich sie einen Spaltbreit auf und sah ein Dutzend Schwarze, die in tiefem Schlummer auf ihren Seidentüchern ausgestreckt dalagen. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich ein Waffenregal mit den Schwertern und Feuerwaffen der Männer. Behutsam stieß ich die Tür weit genug auf, um mich durchzulassen. Eine Türangel gab ein verärgertes Stöhnen von sich. Einer der Männer regte sich, und mein Herz setzte einen Moment aus. Ich verfluchte mich für meine Dummheit, auf diese Weise unsere Flucht zu gefährden, doch nun mußte ich den einmal betretenen Weg zuende gehen.

Mit der Schnelligkeit und Lautlosigkeit eines Tigers setzte ich zu dem Soldaten, der sich bewegt hatte. Meine Hände schwebten über ihm, bereit, ihm an die Kehle zu fahren, sobald er die Augen aufschlug. Das Warten kam meinen angespannten Nerven wie eine Ewigkeit vor. Schließlich drehte sich der Mann auf die Seite und nahm die gleichmäßigen Atemzüge eines tief Schlafenden wieder auf.

Vorsichtig tastete ich mich zwischen den Soldaten entlang und über sie hinweg, bis ich am Waffenregal auf der anderen Seite angekommen war. Hier wandte ich mich um und warf einen Blick auf die Schläfer. Niemand regte sich. Ihr regelmäßiger Atem hob und senkte sich in einem beruhigendem Rhythmus. Es war meinen Ohren die süßeste Musik, die ich jemals vernommen hatte.

Behutsam nahm ich eines der langen Schwerter aus dem Regal. Mit einem Geräusch, als wenn man Gußeisen mit einer großen Raspel bearbeitet, stieß die Scheide gegen die Halterung, als ich die Hand zurückzog. Schon sah ich alle Wachposten aufspringen und mich angreifen. Doch nichts geschah.

Mit dem zweiten Schwert hatte ich mehr Glück, doch das dritte klirrte mit schrecklichem Getöse in der Scheide. Ich wußte, daß es mindestens einige der Männer aufwecken würde, und wollte schon ihrem Angriff durch einen schnellen Sprung zur Tür zuvorkommen, als sich zu meinem äußersten Erstaunen wieder keiner der Schwarzen bewegte. Entweder sie waren begnadet tiefe Schläfer, oder der von mir verursachte Lärm war in Wirklichkeit viel leiser, als er mir vorgekommen war.

Ich wollte gerade das Regal verlassen, als mein Blick auf die Revolver fiel. Mir war klar, daß ich nicht mehr als einen mitnehmen konnte, da ich bereits zu schwer beladen war, um mich lautlos und schnell bewegen zu können. Als ich einen von ihnen aus seiner Halterung holte, sah ich zum ersten Mal, daß sich neben dem Regal ein offenes Fenster befand. Es bot einen ausgezeichneten Fluchtweg, denn es blickte direkt auf das Dock, und das Wasser war keine zwanzig Fuß von mir entfernt.

Als ich mir bereits gratulierte, öffnete sich die Tür mir gegenüber, und in ihr stand der Offizier der Wache und blickte mir geradewegs in die Augen. Offensichtlich erfaßte er die Lage mit einem Blick und schätzte auch ihre Ernsthaftigkeit ebenso schnell ein wie ich, denn unsere Revolver fuhren gleichzeitig nach oben, und es gab nur einen Knall, als wir gleichzeitig am Abzug drückten und die Geschosse explodierten.

Ich spürte den Luftzug, als die Kugel an meinem Ohr vorbeipfiff, und sah meinen Gegner zu Boden gehen. Wo ich ihn getroffen hatte, oder ob ich ihn gar tötete, weiß ich nicht, denn kaum begann er zu taumeln, hechtete ich durch das Fenster hinter mir. In der nächsten Sekunde schlossen sich die Wogen von Omean über meinem Kopf, und wir drei strebten auf den kleinen Flieger einhundert Yards vor uns zu.

Xodar trug den Jungen und ich die drei langen Schwerter. Den Revolver hatte ich fallengelassen, und obwohl wir beide gute Schwimmer waren, schien mir, als kämen wir kaum voran. Ich schwamm unter Wasser, doch Xodar mußte oft nach oben, um den Jungen Luft holen zu lassen. Es war ein Wunder, daß wir nicht eher entdeckt wurden, als es schließlich der Fall war.

Tatsächlich sah uns die Wache des Kriegsschiffes, durch die Schüsse alarmiert, erst als wir uns bereits an Bord befanden. Dann gab man vom Gewehr am Bug des Schiffes Warnschüsse ab, deren tiefes Dröhnen mit ohrenbetäubender Lautstärke im felsigen Himmelsgewölbe von Omean widerhallte.

Augenblicklich waren Tausende auf den Beinen. Auf den Decks unzähliger riesiger Fahrzeuge wimmelte es von Kriegern, denn ein Alarm war auf Omean eine nicht alltägliche Angelegenheit.

Wir machten bereits Fahrt, als der Widerhall der ersten Schüsse verklungen war, und stiegen in der nächsten Sekunde schnell vom Meer auf. Ich lag in voller Länge auf Deck, die Schalthebel und Steuerknöpfe vor mir. Xodar und der Junge hatten sich bäuchlings hinter mir ausgestreckt, um der Luft so wenig Widerstand wie möglich zu bieten.

»Geh weit nach oben«, flüsterte Xodar. »Sie trauen sich nicht, ihre schweren Geschütze in Richtung der Kuppel abzufeuern, da ihre eigenen Schiffe sonst von den herabfallenden Bruchstücken getroffen werden. Vor Gewehrfeuer schützen uns dann unsere Kielplatten, wenn wir hoch genug sind.«

Ich tat wie mir geheißen. Unter uns konnte ich sehen, wie sich die Männer zu Hunderten in das Wasser warfen, um sich an Deck der kleinen Kreuzer und einsitzigen Fahrzeuge zu begeben, die um die großen Schiffe herum vertäut waren. Die größeren Fahrzeuge machten schon Fahrt, sie folgten uns schnell, ohne jedoch von der Wasseroberfläche aufzusteigen.

»Ein Stück zu deiner Rechten«, rief Xodar. Auf Omean gibt es keine Kompaßeinteilung, denn es kann nur nach Norden gehen.

Unter uns war ein ohrenbetäubendes Höllenspektakel ausgebrochen. Gewehrschüsse ertönten, Offiziere erteilten schreiend Befehle, Männer im Wasser und auf den Decks der unzähligen Boote brüllten einander Anweisungen zu, während all das vom Schwirren unzähliger Propeller durchdrungen wurde, die Luft und Wasser aufwirbelten.

Ich hatte nicht gewagt, den Hebel für die Geschwindigkeit weiter nach oben zu stellen, in der Befürchtung, die Mündung des Schachtes zu verpassen, der Omean mit der Außenwelt verband. Doch nichtsdestoweniger hatten wir ein Tempo eingeschlagen, von dem ich zweifle, daß es auf der windstillen See schon einmal erreicht worden ist.

Die kleineren Flieger begannen sich in unsere Richtung zu erheben, als Xodar rief: »Der Schacht! Der Schacht! Direkt vor uns!« Ich erblickte die schwarze Öffnung, die sich mit einemmal in der schimmernden Kuppel dieser Unterwelt auftat.

Ein Kreuzer mit zehn Mann Besatzung erhob sich direkt vor uns, um unsere Flucht zu verhindern. Nur dieses einzige Gefährt stand uns im Weg, doch bei seiner Geschwindigkeit hätte es sich ohne Schwierigkeiten rechtzeitig zwischen uns und den Schacht begeben und unsere Pläne durchkreuzen können.

Im Winkel von fünfundvierzig Grad stieg es vor uns auf, mit der offenkundigen Absicht, uns mit Enterhaken von oben abzukämmen, während es langsam über unserem Deck hinwegflog.

Wir hatten nur eine winzige Chance, und auf diese setzte ich. Es hatte keinen Zweck, zu versuchen, über dem Schiff hinwegzugehen, denn das hätte es ihnen ermöglicht, uns gegen das felsige Gewölbe zu drängen, und diesem waren wir schon nahe genug. Beim Versuch, unter ihnen hinwegzutauchen, wären wir ihnen vollkommen ausgeliefert gewesen, und genau dorthin wollten sie uns haben. Von allen Seiten schwirrten Hunderte von Fliegern auf uns zu. Die Alternative barg lauter Risiken in sich – eigentlich stellte sie selbst ein einziges Risiko dar, doch bot sie auch eine geringe Chance auf Erfolg.

Als wir dem Kreuzer näherkamen, tat ich, als wolle ich über ihm hinweggehen, damit er, in der Absicht, mich weiter nach oben zu drängen, einen steileren Winkel einschlug. Es gelang. Als wir den Kreuzer fast vor uns hatten, schrie ich meinen Begleitern zu, sich festzuhalten, schlug Höchstgeschwindigkeit ein, richtete die Nase wieder nach unten, bis wir uns erneut in der Horizontalen befanden und in halsbrecherischem Tempo auf den Kiel des Kreuzers zusteuerten.

Dem Kapitän wird mein Vorhaben in diesem Moment klargeworden sein, doch es war zu spät. Kurz vor dem Aufprall zog ich die Nase nach oben, und mit einem splitternden Ruck kam es zur Kollision. Was ich gehofft hatte, trat nun ein. Der Kreuzer, der bereits einen gefährlichen Winkel eingenommen hatte, wurde durch den Aufprall meines kleineren Fahrzeuges rückwärts um die eigene Achse geschleudert. Zappelnd und schreiend stürzten die Mannschaftsmitglieder ins tiefe Wasser, während der Kreuzer, dessen Propeller noch immer wie irrsinnig kreiselten, ihnen kopfüber binnen kürzester Zeit auf den Meeresgrund von Omean folgte.

Durch den Zusammenprall zerbrach unser stählerner Bug, und trotz all unserer Bemühungen fegte es uns beinahe vom Deck. Schließlich landeten wir als wild um sich greifender Haufen am Heck unseres Fliegers, wo es Xodar und mir gelang, an der Reling Halt zu finden. Der Junge wäre jedoch über Bord gegangen, hätte ich ihn nicht glücklicherweise im letzten Moment am Fußgelenk zu fassen bekommen.

Ungesteuert tanzte unser Schiff wild umher und kam den Felsen über uns immer näher. Jedoch befand ich mich nach einer Schrecksekunde, als die Felsen keine fünfzig Fuß mehr von uns entfernt waren, wieder an den Steuerhebeln, richtete die Nase des Schiffes ein weiteres Mal in die Horizontale und steuerte erneut in Richtung der schwarzen Mündung des Schachtes.

Durch den Zusammenstoß hatte sich unser Vorsprung verkleinert, und Hunderte der schnellen Aufklärer waren uns schon sehr nahe gekommen. Xodar hatte mir gesagt, daß, wenn wir uns während des Aufstiegs nur die Auftriebsstrahlen einsetzen würden, unsere Feinde die größten Chancen hatten uns einzuholen, da unsere Propeller dann stillstanden und unsere Verfolger eine höhere Geschwindigkeit als wir zu erreichen vermochten. Die schnelleren Flieger werden selten mit großen Speichern für Auftriebsstrahlen ausgerüstet, weil deren zusätzliches Gewicht die Geschwindigkeit beeinträchtigt.

Viele Boote befanden sich in unserer Nähe, so war es fast sicher, daß wir bald eingeholt und kurz darauf gefangen genommen oder getötet wurden.

Für mich gibt es immer einen Weg, um auf die andere Seite einer Barriere zu gelangen. Kommt man nicht darüber, darunter hindurch oder daran vorbei, besteht nur eine Möglichkeit: Man muß mitten hindurch. Ich konnte mich der Tatsache nicht entziehen, daß viele der Boote wegen ihres größeren Auftriebes schneller aufzusteigen vermochten als wir. Nichtsdestoweniger war ich jedoch entschlossen, die Außenwelt weit vor ihnen zu erreichen oder bei dem Versuch auf eine von mir gewählte Art zugrundezugehen.

»Zurück!« rief Xodar hinter mir. »Um der Liebe unseres ersten Ahnen willen, zurück. Wir sind am Schacht!«

»Festhalten!« rief ich als Antwort. »Greif dir den Jungen, und haltet euch fest – wir gehen schnurstracks den Schacht nach oben.«

Die Worte waren kaum ausgesprochen, als wir unter die pechschwarze Öffnung fegten. Ich richtete die Nase des Fahrzeugs scharf nach oben, stellte die Geschwindigkeit auf die höchste Stufe, hielt mich mit der einen Hand an einer Deckstütze fest, griff mit der anderen ans Steuerrad, klammerte mich verbissen daran und schrieb meine Seele bereits ihrem Schöpfer zu.

Ich vernahm einen kurzen und überraschten Ausruf von Xodar, daraufhin grimmiges Gelächter. Auch der Junge lachte und machte eine Bemerkung, jedoch drang sie nicht bis zu mir, da man bei dem irrsinnigen Tempo sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.

In der Hoffnung, Sterne zu erblicken, nach denen ich unseren Kurs bestimmen und das Fahrzeug, das uns in rasendem Tempo mitten durch den Schacht trug, ausrichten konnte, sah ich über mich. Streiften wir bei dieser Geschwindigkeit eine Seite, so hätte das zweifellos unseren sofortigen Tod zur Folge. Doch kein Stern zeigte sich – vor uns herrschte eine undurchdringliche Finsternis.

Dann schaute ich unter mich und sah einen zusehends kleiner werdenden Lichtkreis: Der Eingang zu dem durch phosphoreszierende Strahlen erhellten Gewölbe über Omean.

Daran orientierte ich mich, versuchte, das Lichtpünktchen direkt unter mir zu halten. Bestenfalls war es nur ein dünner Faden, der uns vor dem Untergang bewahrte, und ich glaube, in dieser Nacht mehr durch Intuition und blindes Vertrauen geleitet worden zu sein als durch Können und Verstand.

Der Aufstieg im Schacht war von kurzer Dauer. Wahrscheinlich rettete uns gerade das enorme Tempo, und offensichtlich hatten wir die richtige Richtung eingeschlagen, denn wir waren so schnell wieder draußen, daß wir keine Zeit mehr fanden, den Kurs zu ändern. Omean liegt vielleicht zwei Meilen unter der Marsoberfläche. Wir mußten uns mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zweihundert Meilen in der Stunde bewegt haben – Marsflugzeuge sind schnell – so daß wir allerhöchstens nicht länger als vierzig Sekunden im Schacht zugebracht haben mußten.

Erst einige Sekunden nach Verlassen des Schachtes wurde mir bewußt, das Unmögliche vollbracht zu haben. Um uns herum herrschte pechschwarze Finsternis. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen. Nie zuvor hatte ich so etwas auf dem Mars erlebt, und einen Augenblick lang war ich verwirrt. Dann fiel mir es mir wie Schuppen von den Augen. Am Südpol herrschte Sommer. Die Eisdecke schmolz, und Wolken, jene Wettererscheinungen, die in den meisten Gebieten vom Mars unbekannt sind, verdeckten in diesem Teil des Planeten das Himmelslicht.

Das war in der Tat Glück für uns, und ich verstand schnell, welche Vorteile wir Flüchtlinge daraus ziehen konnten. Ich hielt die Nase des Flugzeuges im steilen Winkel nach oben und raste auf den undurchdringlichen Vorhang zu, in den die Natur diese sterbende Welt gehüllt hatte, um uns vor unseren feindlichen Verfolgern zu verbergen.

Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, drangen wir in den kalten, feuchten Nebel ein und tauchten einen Augenblick später in das herrliche Licht der beiden Monde und einer Million Sterne. Ich brachte das Flugzeug in die Horizontale und schlug die Nordrichtung ein. Unsere Feinde waren eine gute halbe Stunde hinter uns, ohne eine Ahnung von unserem Verbleib zu haben. Wir hatten das Wunder vollbracht und waren unversehrt tausend Gefahren entronnen – wir waren aus dem Land der Erstgeborenen geflohen. Keinem anderen Gefangenen war dies in all den Jahrhunderten von Barsoom gelungen, und nun, wenn ich daran zurückdachte, schien es überhaupt nicht so schwierig gewesen zu sein.

Über die Schulter hinweg tat ich meine Ansicht Xodar kund.

»Es ist ein Wunder, und dennoch hätte es kein anderer als John Carter vollbringen können«, entgegnete er.

Als der Junge diese Worte vernahm, sprang er auf und rief: »John Carter! John Carter! Wie denn, Mann, John Carter, der Prinz von Helium, ist seit Jahren tot. Ich bin sein Sohn.«

Загрузка...