4. Thuvia

Kampfeslärm brachte mich in die Gegenwart zurück. Einen Augenblick lang wußte ich nicht, wo ich war und woher die Geräusche kamen, die mich wieder zu Bewußtsein kommen ließen. Dann vernahm ich hinter der kahlen Wand neben mir Schritte, grimmiges Knurren, metallisches Waffengeklirr und den schweren Atem eines Mannes.

Ich stand auf und sah mich schnell an diesem Ort um, wo man mir soeben einen solch herzlichen Empfang bereitet hatte. Die Gefangenen und die wilden Tiere, die an der gegenüberliegenden Wand angekettet waren, bedachten mich mit unterschiedlichen Blicken voller Neugier, Verdruß, Überraschung oder Hoffnung.

Letztere zeichnete sich deutlich auf dem hübschen und intelligenten Gesicht der jungen, roten Marsfrau ab, die mir mit ihrer Warnung das Leben gerettet hatte.

Gleich allen Angehörigen ihres bemerkenswerten Volkes war sie von vollendeter Schönheit. Diese hochentwickelte Rasse der Marsmenschen entspricht äußerlich in jeder Hinsicht dem Idealbild des Erdenmenschen, bis auf die Tatsache, daß ihre Haut hell kupferfarben ist. Da das Mädchen keinen Schmuck trug, vermochte ich ihr Alter nicht zu schätzen. Man konnte annehmen, daß es unter den gegebenen Umständen entweder eine Gefangene oder eine Sklavin war.

Nach einigen Sekunden dämmerte mir, was die Geräusche nebenan zu bedeuten hatten. Es war Tars Tarkas, der sich offenbar verzweifelt gegen wilde Tiere oder Männer zur Wehr setzte.

Mit einem ermutigenden Schrei warf ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Geheimtür, hätte mir indes genauso vornehmen können, die Felsen selbst einreißen zu wollen. Daraufhin versuchte ich, das Geheimnis des drehbaren Wandstückes herauszufinden. Doch meine Mühe blieb unbelohnt. Schon wollte ich das lange Schwert gegen das düstere Gold erheben, als mir die junge Gefangene zurief: »Schone dein Schwert, mächtiger Krieger, denn du wirst es noch für andere Zwecke brauchen – zerschmettere es nicht an diesem gefühllosen Metall, wo der Wissende durch eine leichte Berührung weitaus mehr auszurichten vermag.«

»Dann kennst du das Geheimnis?« fragte ich.

»Ja, befreie mich, und ich verschaffe dir Zugang zu dem grauenhaften Nebenraum, so du es wünschst. Doch warum möchtest du erneut dem wilden Banth oder irgendeiner anderen zerstörungswütigen Kreatur entgegentreten, die sie in diese fürchterliche Falle gelassen haben?«

»Weil dort mein Freund mutterseelenallein um sein Leben kämpft«, antwortete ich, während ich eilig den Leichnam des Hüters dieser düsteren Schreckenskammer nach dem Schlüsselbund abtastete und dies schließlich auch fand.

An dem ovalen Ring befanden sich viele Schlüssel, doch das hübsche Marsmädchen zeigte mir schnell denjenigen, mit dem sich das große Schloß an ihrer Taille öffnen ließ, und als sie frei war, eilte sie zu der geheimen Wandtafel.

Sie griff zu einem anderen Schlüssel, diesmal einem schlanken, nadelartigen Teil, das sie in ein beinahe unsichtbares Loch in der Wand schob. Sofort begann sich die Drehtür in Bewegung zu setzen, und das Bodenteil, auf dem ich stand, brachte mich zu Tars Tarkas in den Nebenraum.

Der große Thark lehnte mit dem Rücken in einer Ecke, während ihm gegenüber im Halbkreis ein halbes Dutzend riesiger Monster sprungbereit auf eine günstige Gelegenheit warteten. Ihre blutüberströmten Köpfe und Schultern erklärten ihre Vorsicht und legten Zeugnis von der Schwertkunst des grünen Kriegers ab, dessen glänzende Haut wiederum auf dieselbe stumme und beredte Weise von den ungestümen Angriffen berichtete, denen er bisher widerstanden hatte.

Scharfe Krallen und grausame Fänge hatten seine Arme, Beine und Brust buchstäblich in Streifen gerissen. Die unablässige Anstrengung und der Blutverlust hatten ihm jede Kraft genommen, und ich bezweifelte, daß er ohne Stütze noch aufrecht stehen konnte. Doch mit der seinem Volk eigenen Hartnäckigkeit und unendlichen Tapferkeit bot er noch immer den grausamen und unnachgiebigen Widersachern die Stirn –wie es das uralte Sprichwort seines Volkes sagte: »Laß einem Thark den Kopf und eine Hand, und noch ist sein Kampf nicht verloren.«

Als er mich sah, verzog sich sein grausamer Mund zu einem grausamen Lächeln. Doch ob dies aus Erleichterung geschah oder ob ihn lediglich mein Zustand erheiterte – denn ich war blutüberströmt und sah übel zugerichtet aus – weiß ich nicht.

Ich wollte ihm gerade mit dem scharfen Schwert zu Hilfe eilen, als sich mir eine leichte Hand auf die Schulter legte. Ich wandte mich um und stellte zu meiner Überraschung fest, daß die junge Frau mir gefolgt war. »Warte, überlaß sie mir«, flüsterte sie, schob mich beiseite und trat wehrlos und unbewaffnet auf die knurrenden Banths zu.

Als sie dicht vor ihnen stand, sprach sie mit leiser, doch gebieterischer Stimme ein einziges Marswort. Blitzschnell fuhren die großen Biester zu ihr herum, und ich sah das Mädchen bereits in Stücke gerissen, da krochen sie auf sie zu, wie Welpen in Erwartung einer verdienten Bestrafung.

Erneut redete sie, doch so leise, daß ich die Worte nicht verstehen konnte. Daraufhin begab sie sich zur anderen Seite des Raumes, wobei sich die sechs riesigen Monster an ihre Fersen hefteten. Dann schickte sie einen nach dem anderen durch die Geheimtür in den Nebenraum, und als der letzte aus der Kammer verschwunden war, in der wir vor Staunen starr dastanden, lächelte sie uns an und verließ uns ebenfalls.

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann sagte Tars Tarkas: »Nachdem du durch die Geheimtür gesprungen bist, habe ich den Kampf hinter der Wand mit angehört. Doch ich begann mir erst Sorgen um dich zu machen, als ich den Schuß vernahm. Ich war mir sicher, daß es auf ganz Barsoom niemanden gibt, der deiner blanken Klinge entgegentritt und am Leben bleibt, doch bei dem Knall verlor ich die Hoffnung, da ich wußte, daß du keine Schußwaffe bei dir trugst. Was ist geschehen?«

Nachdem ich ihm alles erzählt hatte, suchten wir gemeinsam nach dem unsichtbaren Wandteil, durch das ich soeben in die Felskammer gelangt war und durch das das Mädchen ihre wilden Gefährten geführt hatte.

Zu unserer Enttäuschung war das Geheimschloß trotz aller Bemühungen nicht aufzufinden. Wir fühlten, daß sich uns, waren wir erst einmal diesen Wänden entkommen, mit Sicherheit ein Weg in die Außenwelt eröffnen würde, zumindest konnten wir darauf hoffen.

Die Tatsache, daß die Gefangenen angekettet waren, deutete auf einen Fluchtweg von diesem unsäglichen Ort, wo die schrecklichen Kreaturen hausten.

Immer wieder gingen wir von einer Tür zur anderen, von der abweisenden, goldenen Wandfläche auf der einen Seite der Kammer zum Gegenstück auf der anderen Seite, das ebenso uneinnehmbar aussah.

Wir hatten schon beinahe alle Hoffnung aufgegeben, als sich eine der Drehtüren plötzlich lautlos in Bewegung setzte und die junge Frau, die die Banths hinweggeführt hatte, wieder bei uns stand. »Wer seid ihr?« fragte sie. »Was ist euer Auftrag, daß ihr die Kühnheit besitzt, aus dem Tal Dor fliehen zu wollen, vor dem Tod, den ihr gewählt habt?«

»Ich habe den Tod nicht gewählt, Mädchen«, entgegnete ich. »Ich bin kein Barsoomier, auch habe ich noch nicht die freiwillige Pilgerfahrt entlang des Flusses Iss angetreten. Mein Freund ist der Jeddak der Thark, und obwohl er noch nicht den Wunsch ausgesprochen hat, zu den Lebenden zurückzukehren, werde ich das Lügengespinst zerschlagen, das ihn zu diesem entsetzlichen Ort lockte. Ich stamme aus einer anderen Welt. Mein Name ist John Carter, ich bin der Prinz des Hauses von Tardos Mors, dem Jeddak von Helium. Vielleicht habt ihr in dieser Hölle auch schon von mir gehört.«

Sie erwiderte lächelnd: »Ja. Nichts von dem, was in der Außenwelt vor sich geht, bleibt hier unbekannt. Man hat mir vor vielen Jahren von euch erzählt. Die Therns fragten sich oft, wohin ihr geflohen seid, da ihr weder die Wallfahrt auf euch genommen habt noch auf Barsoom gefunden wurdet.«

»Sag mir, wer bist du, und warum bist du eine Gefangene, wenn du über die wilden Tiere dieses Ortes zu befehlen vermagst?« fragte ich. »Eine solche Vertrautheit und Autorität geht weit über das hinaus, was von einem Gefangenen oder Sklaven erwartet wird.«

»Ich bin Sklavin«, erzählte sie. »Seit fünfzehn Jahren werde ich an diesem schrecklichen Ort gefangen gehalten. Da man meiner nun überdrüssig geworden ist und sich vor der Macht fürchtet, die mir meine Kenntnisse über die hiesigen Gepflogenheiten verliehen haben, verurteilte man mich erst vor kurzem zum Tode.«

Sie erschauderte.

»Wie solltest du sterben?« fragte ich.

»Die Heiligen Therns essen Menschenfleisch«, antwortete sie. »Doch nur das Fleisch von jenen, die unter den Lippen eines Pflanzenmenschen verendet sind – Fleisch, dem der verunreinigende Lebenssaft ausgesaugt wurde. Dieses grausame Ende hatte man mir zugedacht. Es sollte schon in wenigen Stunden geschehen, hätte eure Ankunft ihre Pläne nicht durchkreuzt.«

»Waren es dann die Heiligen Therns, die John Carters Hand zu spüren bekamen?« fragte ich.

»Oh nein, jene, die ihr besiegtet, waren niedere Therns, doch diese sind nicht minder grausam und hassenswert. Die Heiligen Therns leben auf den äußeren Abhängen dieser düsteren Berge, der weiten Welt zugewandt, von der sie sich ihre Opfer holen. Gänge eines Labyrinths verbinden die luxuriösen Paläste der Heiligen Therns mit diesen Höhlen. Hier sind die niederen Therns anzutreffen, wenn sie ihren zahlreichen Pflichten nachgehen, ebenso Horden von Sklaven, Gefangenen und wilden Tieren, jenen finsteren Bewohnern dieser Welt, die keine Sonne kennen. In einem riesigen Netzwerk von Gängen und zahllosen Kammern hausen Männer, Frauen und Tiere, die in dieser düsteren und grauenvollen Unterwelt geboren wurden und niemals ans Tageslicht kamen – und es auch nie tun werden. Sie müssen den Geboten der Therns Folge leisten, die sich die Sklaven zu ihrem Vergnügen und als Diener halten. Immer wieder treibt es einen der unglückseligen Pilger vom kalten Iss auf die stille See hinaus, er entkommt den Pflanzenmenschen und den großen weißen Affen, die den Tempel von Issus bewachen, und gerät in die Klauen der erbarmungslosen Therns. Andere erleiden das Mißgeschick, einem der Heiligen Therns ins Auge zu fallen, wenn er zufällig auf dem Balkon über dem Fluß Wache hält, der, aus dem Inneren des Gebirges kommend, sich seinen Weg durch die goldenen Felsen in das Verlorene Meer von Korus bahnt. So erging es mir. Der Sitte nach sind alle, die im Tal Dor ankommen, rechtmäßige Beute der Pflanzenmenschen und der Affen, während Waffen und Schmuck den Therns zustehen. Entkommt jedoch einer den schrecklichen Einwohnern des Tales für nur einige Stunden, können die Therns ihr Recht auf ihn geltend machen. Und immer wieder tritt ein Heiliger Thern, der sich auf Wache befindet, das Recht der unwissenden Kreaturen mit Füßen, und nimmt sich, falls er etwas Begehrenswertes sieht, seinen Teil auf unlautere Weise, wenn er es nicht mit ehrlichen Methoden bekommen kann. Gelegentlich soll ein Opfer des barsoomischen Aberglaubens den zahllosen Angreifern, die dem Armen von dem Moment an zusetzen, an dem er aus dem unterirdischen Gang auftaucht, durch den der Iss tausend Meilen bis zu seiner Mündung im Tal Dor fließt, entkommen und bis zu den Mauern des Tempels von Issus gelangen. Doch welches Schicksal einen dort erwartet, wissen nicht einmal die Heiligen Therns, denn jene, die hinter diese vergoldeten Mauern gelangten, sind niemals zurückgekehrt, um die Geheimnisse zu lüften, die sich seit Anbeginn der Zeiten dahinter verbergen. Der Tempel von Issus bedeutet den Therns das, was sich die Menschen der Außenwelt unter dem Tal Dor vorstellen. Es ist der letzte Hafen des Friedens, der Ruhe und Glückseligkeit, wohin sie sich nach diesem Leben auf den Weg machen und wo sie sich für alle Ewigkeit den fleischlichen Freuden hingeben, die auf diese Rasse geistiger Größen und moralischer Zwerge größte Anziehungskraft ausüben.«

»So ist der Tempel von Issus ein Paradies im Paradies«, sagte ich. »Hoffen wir, daß es den Therns dort ebenso ergeht, wie sie es hier anderen ergehen lassen.«

»Wer weiß?« murmelte das Mädchen.

»Nach dem, was du erzählt hast, sind die Therns nicht weniger sterblich als wir. Und doch habe ich die Menschen von Barsoom von ihnen nur mit äußerster Ehrfurcht und Verehrung sprechen hören, so, wie man sich nur über die Götter selbst äußert.«

»Die Therns sind sterblich«, entgegnete sie. »Sie gehen an denselben Dingen zugrunde wie ihr und ich. Jene, die ihre Lebensspanne von eintausend Jahren ausschöpfen, treten dem Brauch nach den Weg in die Glückseligkeit an und begeben sich in den langen Tunnel, der nach Issus führt. Diejenigen, die eher sterben, sollen den Rest ihrer Zeit im Geist eines Pflanzenmenschen verbringen. Aus diesem Grund werden die Pflanzenmenschen von den Therns als heilig angesehen, da diese glauben, daß jede der schrecklichen Kreaturen in ihrem vorherigen Leben ein Thern war.«

»Und wenn ein Pflanzenmensch stirbt?« fragte ich. »Stirbt er vor Ablauf der tausend Jahre von der Geburt des Therns an gerechnet, dessen unsterbliche Seele in ihm wohnt, wandert diese in einen großen, weißen Affen. Doch stirbt dieser auch nur kurz vor der Stunde, in der die tausend Jahre zu Ende gehen, ist die Seele für immer verloren und wandert in den Rumpf eines der schleimigen, fürchterlichen, zappelnden Silians, von denen es in dem stillen Meer zu Tausenden wimmelt, wenn die Sonne untergegangen ist, die Monde über den Himmel ziehen und seltsame Gestalten durch das Tal Dor streifen.«

»Demnach haben wir heute mehrere Heilige Therns zu den Silians gesandt«, sagte Tars Tarkas lachend.

»Und um so fürchterlicher wird euer Tod sein, wenn er kommt«, entgegnete das Mädchen. »Und er wird kommen – ihm entgeht ihr nicht.«

»Vor Jahrhunderten hat es einer geschafft«, erinnerte ich sie. »Und was einmal gelungen ist, kann auch ein weiteres Mal gelingen.«

»Es ist sinnlos, es überhaupt zu versuchen«, antwortete sie mutlos.

»Aber versuchen werden wir es, und wenn du möchtest, kannst du mit uns kommen«, rief ich.

»Um von meinen Leuten getötet zu werden und mit meinem Andenken Schmach und Schande über meine Familie und meine Nation zu bringen? Ein Prinz des Hauses von Tardos Mors sollte Klügeres tun als einen solchen Vorschlag unterbreiten!«

Tars Tarkas sagte nichts zu alledem, doch ich spürte seinen Blick und wußte, daß er auf meine Antwort wartete wie der Angeklagte, dem der Vorsitzende der Geschworenen das Urteil verliest.

Was ich dem Mädchen zu tun riet, würde auch unsere Zukunft besiegeln, denn wenn ich mich dem unvermeidlichen Urteil jahrhundertealten Aberglaubens beugte, müßten wir alle bleiben und irgendeinem fürchterlichen Schicksal an diesem Ort des Schreckens und der Grausamkeit entgegentreten.

»Wir haben das Recht zu fliehen, wenn es möglich ist«, entgegnete ich. »Gelingt es uns, widerspricht das nicht unseren Moralvorstellungen, denn wir wissen, daß das sagenhafte Leben voller Liebe und Frieden im gesegneten Tal Dor schändlicher Betrug ist. Wir wissen, das Tal ist nicht heilig, und auch die Heiligen Therns sind nur grausame und herzlose Sterbliche, die nicht mehr über das wirkliche Leben danach wissen als wir. Es ist nicht nur unser Recht, alles Erdenkliche zu unternehmen, um zu fliehen – es ist eine ernste Pflicht, vor der wir nicht zurückschrecken sollten, auch wenn wir wissen, daß wir von unserem Volk nur beschimpft und gequält werden, sobald wir zu ihm zurückkehren. Nur so erfahren die anderen draußen die Wahrheit, und obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß man unserer Schilderung Glauben schenkt, äußerst gering ist – dafür bürge ich, denn die Sterblichen sind in den unmöglichsten Aberglauben vernarrt – wären wir erbärmliche Feiglinge, wenn wir uns vor dieser einfachen Pflicht drückten. Auch besteht die Möglichkeit, daß, wenn mehrere die Wahrheit der schwerwiegenden Aussage bezeugen, man unsere Erklärungen annimmt, und zumindest der Kompromiß erwirkt werden kann, eine Forschungsexpedition zu diesem schrecklichen Hohn auf das Eden auszusenden.«

Sowohl das Mädchen als auch der Krieger standen eine Zeitlang still da und dachten nach. Schließlich brach sie das Schweigen und sagte: »Noch nie habe ich die Angelegenheit in diesem Licht betrachtet. Ich würde wirklich tausendmal mein Leben dafür geben, um nur einer einzigen Seele dieses schreckliche Dasein zu ersparen, das ich an diesem grauenvollen Ort geführt habe. Ihr habt recht. Ich gehe mit euch, so weit wir kommen. Dennoch zweifle ich, daß uns die Flucht von hier gelingt.«

Mit einem fragenden Blick wandte ich mich an den Thark.

»Zu den Toren von Issus, auf den Grund von Korus, in das Eis im Norden oder im Süden, wohin John Carter geht, soll auch Tars Tarkas gehen. Ich habe gesprochen«, entgegnete der grüne Krieger.

»Dann kommt«, rief ich. »Wir müssen uns auf den Weg machen, denn zu keiner Zeit sind wir weiter von der Rettung entfernt als jetzt, wo wir uns im Inneren des Berges befinden, innerhalb der vier Wände dieser Todeszelle.«

»Folgt mir«, sagte das Mädchen. »Doch glaubt nicht, daß ihr einen schlimmeren Ort finden könnt als hier im Reich der Therns.«

Mit diesen Worten öffnete sie die Geheimtür, die uns von dem Zimmer trennte, in dem ich zu ihr gestoßen war. Ein weiteres Mal schlüpften wir hindurch zu den anderen Gefangenen.

Insgesamt waren es zehn rote Marsmenschen, Männer und Frauen. Nachdem wir ihnen unseren Plan kurz dargelegt hatten, beschlossen sie, sich uns anzuschließen, obwohl ihnen anzusehen war, daß sie fürchteten, ihr Schicksal herauszufordern und dem uralten Brauch zuwiderzuhandeln, auch wenn jedem auf grauenvolle Weise der Irrtum des Glaubens verdeutlicht worden war.

Bald hatte Thuvia, das Mädchen, das ich zuerst befreit hatte, die Ketten der anderen gelöst. Tars Tarkas und ich nahmen den beiden toten Therns die Waffen ab: Schwerter, Dolche sowie zwei Revolver jenes seltsamen, gefährlichen Waffentyps, wie ihn die roten Marsmenschen herstellen.

Wir verteilten alles unter unserem Gefolge, wobei zwei der Frauen, darunter Thuvia, die Schußwaffen erhielten.

Mit ihr an der Spitze machten wir uns zügig und leise auf den Weg durch eine Vielzahl von Gängen, durchquerten große, von Menschenhand im Erz geschaffene Hallen, folgten den Windungen der teilweise steil ansteigenden Korridore und versteckten uns, sobald wir Schritte vernahmen, an dunklen, abgelegenen Plätzen und Winkeln.

Als erstes wollte Thuvia uns zu einem entfernten Speicher bringen, in dem reichlich Waffen und Munition zu finden waren. Von dort ginge es zum Felsgipfel, wo viel Verstand und Kampfkraft gefragt waren, durch die Festung der Heiligen Therns zur Außenwelt zu gelangen.

»Und sogar dann erreicht uns noch der Arm des Heiligen Thern. Er langt bis zu jedem Volk auf Barsoom. Seine geheimen Tempel liegen im Herzen jeder Gemeinschaft verborgen. Wohin auch immer wir gehen, falls uns die Flucht gelingt, werden wir feststellen müssen, daß uns die Kunde von unserem Kommen vorausgeeilt ist und der Tod unserer harrt, bevor wir die Luft mit unseren Gotteslästerungen beschmutzen können«, sagte Thuvia.

Ohne ernsthafte Unterbrechung marschierten wir etwa eine Stunde. Thuvia hatte mir gerade zugeflüstert, daß wir uns dem ersten Ziel näherten, und wir wollten soeben eine große Kammer betreten, als wir auf einen Mann stießen, offensichtlich einen Thern.

Zusätzlich zum Lederzeug und dem juwelenbesetzten Schmuck trug er einen breiten Stirnreif, in dessen Mitte ein riesiger Stein eingefaßt war, dessen exakten Gegenpart ich vor fast zwanzig Jahren auf der Brust des kleinen, alten Mannes in der Atmosphärenfabrik gesehen hatte.

Dieser Edelstein von Barsoom ist unbezahlbar. Es hieß, es gäbe nur zwei davon, und diese beiden wurden als Zeichen ihres Standes und ihrer Position von den zwei alten Männern getragen, denen die Wartung der großen Maschinen oblag, die die künstliche Atmosphäre aus der Atmosphärenfabrik in alle Gebiete auf dem Mars pumpten. Mein Wissen um das Geheimnis der riesigen Portale hatte mich damals in die Lage versetzt, eine ganze Welt vor dem Ersticken zu retten.

Der Stein, den der Thern uns gegenüber trug, war von derselben Größe wie jener, den ich zuvor gesehen hatte, vielleicht von einem Zoll Durchmesser. Er strahlte in neun verschiedenen Farben: Den sieben Grundfarben, wie sie ein Prisma auf der Erde wirft, und zwei weiteren Strahlen, die bei uns auf der Erde unbekannt sind und deren atemberaubende Schönheit man mit Worten nicht beschreiben kann.

Als uns der Thern erblickte, verengten sich seine Augen zu zwei tückischen Schlitzen.

»Halt!« schrie er. »Was soll das bedeuten, Thuvia?«

Als Antwort hob das Mädchen den Revolver und feuerte. Lautlos sank er zu Boden, tot.

»Scheusal!« fauchte sie. »Nach all diesen Jahren habe ich mich endlich gerächt.«

Dann wandte sie sich zu mir, offensichtlich mit einigen erklärenden Worten auf den Lippen, doch als sie mich ansah, riß sie plötzlich die Augen auf und trat mit einem kleinen Aufschrei auf mich zu.

»Oh Prinz, das Schicksal meint es in der Tat gut mit uns. Der Weg ist noch mühsam, doch durch diesen Nichtswürdigen hier können wir in die Außenwelt gelangen. Fällt euch nicht auf, wie sehr ihr diesem Heiligen Thern ähnelt?«

Der Mann war tatsächlich von meiner Statur, auch unterschieden sich Augen und Gesichtszüge nicht sehr von den meinigen. Doch hatte er eine Masse von gelben, wallenden Locken auf dem Kopf, wie jene, die ich getötet hatte, dagegen habe ich kurzes, schwarzes Haar.

»Was nützt die Ähnlichkeit?« fragte ich Thuvia. »Willst du, daß ich mich mit meinem kurzen, schwarzen Haar als gelbhaarigen Priester dieses teuflischen Kultes ausgebe?«

Sie lächelte, trat als Antwort auf ihr Opfer zu, kniete nieder, löste den goldenen Stirnreif und zog zu meiner grenzenlosen Überraschung den ganzen Schöpf mit einemmal vom Kopf des Toten.

Dann erhob sie sich wieder, stülpte mir die gelbe Perücke über und legte mir den goldenen Stirnreif mit dem prächtigen Stein um.

»Nun legt seine Ausrüstung an, Prinz«, sagte sie. »Ihr werdet euch überall im Königreich der Therns frei bewegen können, denn Sator Throg war ein Heiliger Thern des Zehnten Kreises, er hatte Macht unter seinen Leuten.«

Als ich mich bückte, um zu tun, wie mir geheißen, bemerkte ich, daß auf seinem Kopf nicht ein Haar wuchs.

»Sie sind alle von Geburt an so«, erklärte mir Thuvia, als sie mein Erstaunen bemerkte. »Die Rasse, der sie entstammen, verfügte über eine reichhaltige Fülle goldenen Haares, doch nun sind sie schon seit vielen Jahrhunderten völlig kahl. Die Perücke wurde dennoch zu einem Bestandteil ihrer Ausrüstung, der so wichtig ist, daß es als tiefste Schande gilt, wenn ein Thern in der Öffentlichkeit ohne sie erscheint.«

Sekunden später trug ich die Kleidung eines Heiligen Therns.

Auf Thuvias Vorschlag nahmen zwei der vormaligen Gefangenen den Toten auf die Schultern, und wir setzten den Weg zum Lagerraum fort, wo wir schließlich ohne weitere Zwischenfälle ankamen. Hier verschafften uns die Schlüssel, die Thuvia dem toten Thern in der Gefängniskammer abgenommen hatte, geschwind Einlaß. Ebenso schnell hatten wir uns mit Waffen und Munition eingedeckt. Inzwischen war ich derartig erschöpft, daß ich keinen weiteren Schritt tun konnte. Ich warf mich auf den Boden, empfahl Tars Tarkas, es mir gleichzutun, und hieß zwei der Freigelassenen aufmerksam Wache halten.

Augenblicklich war ich eingeschlafen.

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