»Oh, welch günstigen Umständen verdanke ich das Vergnügen dieses unerwarteten Besuchs durch den Prinzen von Helium?« fragte Zat Arrras.
Noch während er dies sagte, entfernte eine meiner Wachen den Knebel aus meinem Mund, doch ich gab keine Antwort, sondern stand wortlos da und blickte den Jed von Zodanga ruhig an. Ich zweifle nicht, daß meine Miene die Verachtung widerspiegelte, die ich für diesen Mann empfand.
Die Augen der im Gemach Anwesenden hafteten zuerst auf mir und dann auf Zat Arrras, bis sich sein Gesicht schließlich vor Zorn langsam rötete.
»Ihr könnt gehen«, sagte er zu denjenigen, die mich hergebracht hatten, und als nur noch seine zwei Kumpane und wir im Raum waren, redete er wieder mit mir. Seine Stimme klang eisig, er sprach sehr langsam und bedächtig und machte viele Pausen, als wähle er seine Worte sorgfältig.
»John Carter, nach dem Gewohnheitsrecht, nach dem Gesetz unserer Religion und gemäß dem Urteilsspruch eines unparteiischen Gerichtshofes bist du zum Tode verurteilt. Das Volk kann dich nicht retten – das steht allein mir zu. Du bist völlig in meiner Macht, und ich kann mit dir nach Gutdünken verfahren. Ich kann dich töten lassen oder freisprechen, und sollte ich es für gut befinden, dich zu töten, wäre auch niemand klüger.
Solltest du entsprechend den Bedingungen der Begnadigung ein Jahr lang frei in Helium umherspazieren, steht kaum zu befürchten, daß das Volk auf der Vollstreckung des gegen dich ausgesprochenen Urteils bestehen würde.
Binnen zwei Minuten kannst du ungehindert gehen, unter einer Bedingung. Tardos Mors wird nie nach Helium zurückkehren, ebensowenig Mors Kaja oder Dejah Thoris. Helium muß binnen eines Jahres einen neuen Jeddak wählen. Dann wäre Zat Arrras Jeddak von Helium. Sage mir, daß du meine Sache vertreten wirst. Das ist der Preis für deine Freiheit. Ich bin fertig.«
Ich wußte, daß der grausame Zat Arrras durchaus fähig war, mich zu vernichten. War ich erst einmal tot, bestand wenig Anlaß zu zweifeln, daß er sehr leicht Jeddak von Helium werden würde. War ich auf freiem Fuß, konnte ich die Suche nach Dejah Thoris fortsetzen. Bei meinem Tod wären meine tapferen Gefährten nicht in der Lage, unsere Pläne auszuführen. Würde ich mich also weigern, seiner Forderung nachzukommen, stand zu erwarten, daß ich ihn nicht nur hinderte, Jeddak von Helium zu werden, sondern auch das Schicksal von Dejah Thoris besiegelte – indem ich sie durch meine Weigerung den Greueln der Arena von Issus überlieferte.
Ich zögerte einen Augenblick lang, aber nur einen Augenblick. Die stolze Tochter von eintausend Jeddaks würde den Tod einer so schimpflichen Allianz wie dieser hier vorziehen. Wie könnte John Carter da weniger für Helium tun, als seine Prinzessin tun würde?
Also sagte ich zu Zat Arrras: »Es kann zwischen einem Verräter an Helium und einem Prinzen des Hauses von Tardos Mors keinen Pakt geben. Ich glaube nicht, Zat Arrras, daß der große Jeddak tot ist.«
Er zuckte die Schultern.
»Nicht mehr lange werden deine Ansichten selbst für dich von Interesse sein, John Carter, also mache das Beste daraus, solange du kannst. Zat Arrras wird dir gestatten, eine gebührende Zeit weiter über das großmütige Angebot nachzudenken, das er dir gemacht hat. Zu diesem Zweck wirst du heute nacht in die Stille und Finsternis der Gruben eintreten, wohl wissend, dieser Finsternis und dem Schweigen niemals zu entrinnen, sollte es dir nicht gelingen, innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne in die Alternative einzuwilligen, die man dir bietet. Auch sollst du nicht erfahren, in welcher Minute die Hand mit dem scharfen Dolch durch die Finsternis und die Stille reichen wird, um dich der letzten Möglichkeit zu berauben, erneut die Wärme, Freiheit und Fröhlichkeit der Außenwelt zu erlangen.«
Noch während dieser Worte klatschte Zat Arrras in die Hände. Die Wachen kehrten zurück.
Er wies mit einer Handbewegung auf mich.
»In die Gruben«, sagte er. Das war alles. Vier Männer begleiteten mich aus dem Gemach und eskortierten mich beim Schein einer Radium-Handlampe, die ihnen den Weg beleuchtete, durch scheinbar endlose Tunnel hinab, immer weiter hinab unter die Stadt Helium.
Schließlich blieben sie in einer recht geräumigen Kammer stehen. In die Felsenwände ringsum waren Ringe eingelassen. Daran waren Ketten befestigt. An vielen davon hingen menschliche Skelette. Sie stießen eines davon beiseite, schlossen das riesige Vorhängeschloß auf, das die Kette um das festhielt, was einst ein Fußknöchel war, und ließen das Eisenband um mein Bein zuschnappen. Dann verließen sie mich, wobei sie die Lampe mitnahmen.
Pechschwarze Finsternis hüllte mich ein. Einige Minuten lang konnte ich noch das Waffengeklirr hören, dann wurde auch dies immer schwächer, bis die Stille ebenso vollkommen wie die Finsternis war. Ich war allein mit meinen gräßlichen Gefährten – den Gebeinen von Toten, deren Schicksal mir nur das Bevorstehende vor Augen führte.
Wie lange ich stand und in die Finsternis lauschte, weiß ich nicht, doch das Schweigen dauerte an, und schließlich sank ich auf den harten Boden meines Kerkers, lehnte den Kopf gegen die Steinwand und schlief ein.
Ich muß wohl einige Stunden geschlafen haben, denn als ich erwachte, sah ich einen jungen Mann vor mir stehen. In der einen Hand hielt er eine Lampe, in der anderen ein Gefäß, das eine haferschleimähnliche Substanz enthielt – die übliche Gefängniskost von Barsoom.
»Zat Arrras sendet dir Grüße und hat mir aufgetragen, dich in Kenntnis zu setzen, daß er nicht geneigt ist, das Angebot zurückzuziehen, welches er dir gemacht hat, obwohl er voll und ganz über die Verschwörung im Bilde ist, dich zum Jeddak von Helium zu machen. Willst du die Freiheit gewinnen, brauchst du mich nur zu bitten, Zat Arrras mitzuteilen, daß du die Bedingungen seines Vorschlags annimmst.«
Ich schüttelte den Kopf. Der Jüngling sagte nichts mehr, und nachdem er das Essen neben mich auf den Boden gesetzt hatte, kehrte er auf den Korridor zurück und nahm die Lampe mit.
Viele Tage lang kam er nun täglich zweimal mit Essen in meine Zelle, und jedesmal überbrachte er dieselben Grüße von Zat Arrras. Ich bemühte mich lange, ihn in ein Gespräch über andere Dinge zu verwickeln, aber er wollte nicht reden, und so gab ich schließlich jeden Versuch auf.
Vier Monate zerbrach ich mir den Kopf, um eine Möglichkeit zu finden, Carthoris meinen Aufenthalt mitzuteilen. Monatelang kratzte ich an einem einzelnen Glied der massiven Kette, die mich hielt, in der Hoffnung, sie schließlich durchzusägen, so daß ich dem Jüngling durch die gewundenen Tunnel zu einem Punkt folgen konnte, wo ein Ausbruch in die Freiheit möglich war.
Ich gierte förmlich nach Nachrichten über das Vorankommen der Expedition, die Dejah Thoris retten sollte. Mir war klar, daß Carthoris die Angelegenheit nicht fallen lassen würde, könnte er nach Belieben handeln, doch so weit ich wußte, war er vielleicht auch Gefangener in Zat Arrras’ Gruben.
Ich wußte, daß Zat Arrras’ Spion unser Gespräch über die Wahl eines neuen Jeddaks mitgehört hatte, und kaum ein halbes Dutzend Minuten vorher hatten wir die Einzelheiten des Plans zur Rettung von Dejah Thoris erörtert. So war durchaus damit zu rechnen, daß er auch darüber gut informiert war. Carthoris, Kantos Kan, Tars Tarkas, Hor Vastus und Xodar waren vielleicht schon Zat Arrras’ Mördern zum Opfer gefallen oder seine Gefangenen.
Ich beschloß, zumindest noch einen Versuch zu unternehmen, um etwas in Erfahrung zu bringen. Zu diesem Zweck wendete ich eine bestimmte Strategie an, als der Jüngling wieder in meine Zelle kam. Ich hatte bemerkt, daß er ein hübscher Bursche und etwa so groß und so alt wie Carthoris war. Außerdem war mir aufgefallen, daß seine schäbige Kleidung im Widerspruch zu seiner erhabenen und stolzen Haltung stand.
Auf diese Beobachtungen gestützt, eröffnete ich bei seinem folgenden Besuch die Verhandlungen.
»Du bist während meiner Einkerkerung hier stets sehr freundlich zu mir gewesen«, sagte ich zu ihm. »Da ich weiß, daß ich nur noch sehr kurze Zeit zu leben habe, wünsche ich, ehe es dazu zu spät ist, ein ausführliches Zeugnis meiner Wertschätzung für all das aufzusetzen, was du getan hast, um meine Gefangenschaft erträglich zu machen.
Du hast mir jeden Tag gewissenhaft mein Essen gebracht und darauf geachtet, daß es wohl zubereitet und ausreichend war. Nie hast du durch Wort oder Tat versucht, meine hilflose Lage auszunutzen, um mich zu beleidigen oder zu foltern. Du bist stets nur höflich und rücksichtsvoll gewesen. Dieses vor allem weckt bei mir ein Gefühl der Dankbarkeit und den Wunsch, dir zum Zeichen dafür ein geringes Geschenk zukommen zu lassen.
Im Wachraum meines Palastes sind viele schöne Ausrüstungsstücke. Geh hin und such dir einen Harnisch aus, der dir besonders gefällt – er soll dir gehören. Ich bitte nur, daß du ihn auch trägst, so daß ich weiß, daß meinem Wunsch Genüge getan wurde.«
Die Augen des Jungen leuchteten vor Freude auf, als ich dies sagte, und ich sah ihn von seiner rostigen Rüstung auf meine prächtige blicken. Er blieb einen Moment nachdenklich stehen, ehe er etwas sagte, und in diesem kurzen Augenblick stockte mir beinahe das Herz – so viel hing für mich von seiner Antwort ab.
»Und ginge ich zum Palast des Prinzen von Helium mit einer solchen Forderung, so würden sie über mich lachen, mich dazu noch höchstwahrscheinlich kopfüber auf die Straße befördern. Nein, es kann nicht sein, obwohl ich dir für das Angebot danke. Außerdem, sollte Zat Arrras auch nur eine Ahnung davon bekommen, ich hätte eine solche Sache in Erwägung gezogen, würde er mir auf der Stelle das Herz aus dem Leib schneiden lassen.«
»Dir muß daraus kein Schaden erwachsen, mein Junge«, drängte ich. »Du kannst doch nachts mit einer Nachricht an Carthoris, meinem Sohn, zu meinem Palast gehen. Du darfst die Nachricht lesen, ehe du sie abgibst, damit du weißt, daß sie nichts enthält, was Zat Arrras schaden könnte. Mein Sohn wird verschwiegen sein, und so werden nur wir drei davon wissen. Es ist sehr einfach und eine so harmlose Sache, daß niemand sie verurteilen könnte.«
Abermals stand er schweigend in tiefes Nachdenken versunken.
»Dann wäre da auch noch das juwelenbesetzte Kurzschwert, das ich einem toten Nordjeddak abgenommen habe. Wenn du die Rüstung abholst, dann achte darauf, daß Carthoris es dir ebenfalls gibt. Damit und mit dem Harnisch, den du dir dort aussuchst, wirst du der am schmucksten ausgerüstete Krieger in ganz Zodanga sein.
Bring mir Schreibmaterial mit, wenn du das nächste Mal in meine Zelle kommst, und binnen weniger Stunden werden wir dich in einer Weise gekleidet sehen, die deiner Geburt und Haltung entspricht.«
Noch immer in Gedanken und ohne zu antworten wandte er sich um und ging. Ich hatte keine Ahnung, wie er sich entscheiden würde, und saß deshalb stundenlang und grübelte über den Ausgang der Angelegenheit.
Erklärte er sich einverstanden, Carthoris eine Nachricht zukommen zu lassen, so bedeutete das für mich, daß Carthoris noch lebte und frei war. Kehrte er mit Rüstung und Schwert zurück, dann wußte ich, daß Carthoris meine Nachricht erhalten hatte und wußte, daß ich noch lebte. Daß der Überbringer der Nachricht ein Zodanganer war, genügte, um Carthoris klar zu machen, daß ich ein Gefangener von Zat Arrras war.
Mit einem Gefühl aufgeregte Erwartung, das ich kaum verbergen konnte, hörte ich, wie der Junge sich bei seinem nächsten routinemäßigen Besuch meiner Zelle näherte. Ich sagte außer meiner üblichen Begrüßung kein Wort weiter. Als er mein Essen neben mir auf den Fußboden setzte, legte er auch Schreibmaterial dazu.
Mein Herz hüpfte vor Freude. Ich hatte einen Punkt gewonnen. Einen Augenblick schaute ich in gespielter Überraschung auf das Material, tat aber sogleich so, als dämmere mir eine Erkenntnis, und nahm alles auf. Ich kritzelte eine kurze Notiz an Carthoris, er solle Parthak einen Harnisch seiner Wahl und das Kurzschwert aushändigen, welches ich beschrieb. Das war alles, und es bedeutete auch alles für mich und Carthoris.
Ich legte die Nachricht offen auf den Fußboden. Parthak hob sie auf und verließ mich wortlos.
Soweit ich es beurteilen konnte, war ich zu diesem Zeitpunkt dreihundert Tage in den Gruben. Sollte etwas geschehen, um Dejah Thoris zu retten, dann mußte es schnell getan werden, denn wenn sie nicht bereits tot war, stand ihr Ende gewiß bald bevor, denn diejenigen, die Issus erkor, lebten nur ein einziges Jahr.
Als ich das nächste Mal sich nähernde Schritte hörte, konnte ich es kaum erwarten, Parthak mit dem Harnisch und dem Schwert zu sehen, doch man stelle sich meinen Ingrimm und meine Enttäuschung vor, sofern man kann, als ich sah, daß der Überbringer meiner Nahrung nicht Parthak war.
»Was ist aus Parthak geworden?« fragte ich, doch der Bursche wollte nicht antworten, und kaum hatte er mein Essen abgesetzt, wandte er sich um und kehrte in die Welt dort oben zurück.
Tage kamen und gingen, und noch immer verrichtete mein neuer Kerkermeister seine Pflichten, ohne auch nur ein Wort mit mir zu reden, sei es als Antwort auf die einfachste Frage oder aus eigenem Antrieb.
Ich konnte über den Grund von Parthaks Entfernung nur Vermutungen anstellen, aber daß sie in irgendeiner Weise direkt mit der Nachricht in Verbindung stand, die ich ihm gegeben hatte, lag für mich auf der Hand. Nach all der Freude war ich nun nicht besser dran als zuvor, denn nun wußte ich nicht einmal, ob Carthoris lebte. Wollte Parthak in der Wertschätzung von Zat Arrras aufsteigen, hätte er mich genauso so handeln lassen, wie ich es tat, damit er meine Nachricht an seinen Herrn weiterleiten konnte zum Beweis seiner unbedingten Loyalität und Ergebenheit.
Dreißig Tage waren verstrichen, seit ich dem Jüngling die Nachricht übergeben hatte. Dreihundert und dreißig Tage waren seit meiner Einkerkerung vergangen. Wenn ich einigermaßen genau rechnete, blieben ganze dreißig Tage bis zu dem Zeitpunkt, da man Dejah Thoris für die Riten der Issus in die Arena beordern würde.
Als dieses entsetzliche Bild so lebhaft vor meinem geistigen Auge erstand, vergrub ich mein Gesicht in den Armen und konnte die Tränen nur mit größter Mühe unterdrücken, die mir trotzdem aus den Augen brachen. Sich vorzustellen, daß dieses schöne Geschöpf von den reißenden Fangzähnen der gräßlichen weißen Affen zerfleischt und zerrissen wurde! Es war undenkbar. Eine derartige Greueltat durfte nicht geschehen. Dennoch sagte mir mein Verstand, daß meine unvergleichliche Prinzessin binnen dreißig Tagen in der Arena der Erstgeborenen von diesen äußerst wilden Bestien zu Tode gebracht werden würde; daß ihr blutiger Leichnam durch den Schmutz und den Staub geschleift würde, bis schließlich ein Teil davon aufgehoben wurde, um den schwarzen Edlen an der Tafel als Nahrung zu dienen.
Ich glaube, ich hätte den Verstand verloren, hätte ich meinen Kerkermeister nicht kommen hören. Er lenkte meine Aufmerksamkeit von den entsetzlichen Vorstellungen ab, die mich beschäftigten. Nun keimte in mir ein neuer und grimmiger Entschluß auf. Ich würde einen übermenschlichen Versuch machen, zu fliehen, meinen Kerkermeister durch eine List töten und dem Schicksal vertrauen, daß es mich sicher in die Außenwelt geleitete.
Mit dem Gedanken kam der Wille zum Handeln. Ich warf mich dicht an der Wand in einer angespannten und verkrampften Haltung auf den Fußboden, als sei ich nach einem Kampf oder irgendwelchen Anfällen gestorben. Wenn er sich über mich beugen würde, brauchte ich ihn nur mit einer Hand an der Kehle zu packten und ihm mit dem losen Ende der Kette, das ich zu diesem Zweck fest in der rechten Hand hielt, einen heftigen Schlag zu versetzen.
Immer näher kam der dem Verhängnis geweihte Mann. Dann hörte ich ihn draußen stehenbleiben. Er murmelte etwas, dann trat er an meine Seite. Ich spürte, wie er neben mir niederkniete, und packte die Kette noch fester. Jetzt beugte er sich tief zu mir. Ich brauchte nur die Augen zu öffnen, seinen Hals zu suchen, ihn zu packen und im gleichen Augenblick mit einem furchtbaren Schlag ins Jenseits zu befördern.
Alles verlief, wie ich es geplant hatte. So kurz war die Zeitspanne zwischen dem Moment, da ich die Augen öffnete, und dem Fall der Kette, daß ich sie gar nicht richtig erfaßte.
Gleichwohl erkannte ich selbst in diesem Bruchteil einer Sekunde das Gesicht, das meinem so nahe war, als das meines Sohnes Carthoris.
Mein Gott! Welches grausames und böses Geschick hatte zu solch entsetzlichem Ende geführt! Welche heimtückische Kette von Umständen hatte meinen Jungen in dieser besonderen Minute unseres Lebens an meine Seite geführt, als ich ihn in Unkenntnis über seine Identität niederschlagen und töten konnte! Eine gnädige, doch säumige Vorsehung trübte mir die Sicht und den Verstand, als ich über dem leblosen Körper meines einzigen Sohnes in Ohnmacht sank.
Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, spürte ich eine feste, kühle Hand auf meiner Stirn. Einen Moment hielt ich die Augen geschlossen im Bestreben, die losen Enden der langen Gedankenketten und Erinnerungen aufzugreifen, die immer wieder durch mein müdes und überanstrengtes Gehirn jagten.
Schließlich erfolgte die grausame Erinnerung an meine letzte bewußte Handlung, und nun wagte ich nicht, die Augen zu öffnen aus Angst vor dem Anblick, der sich mir dann an meiner Seite bieten würde. Ich fragte mich, wer mir wohl die Hand auf die Stirn legte. Carthoris mußte einen Gefährten bei sich gehabt haben, den ich nicht sah. Nun gut, ich mußte dem Unabwendbaren irgendwann ins Antlitz sehen, warum also nicht jetzt? Also schlug ich die Augen auf.
Carthoris beugte sich über mich. Er hatte eine große Beule an der Stirn, wo die Kette ihn getroffen hatte, doch er lebte, Gott sei Dank! Niemand war bei ihm. Ich streckte die Arme aus und zog meinen Jungen an mich, und wenn je von irgendeinem Planeten ein inbrünstiges Dankgebet aufgestiegen ist, dann dort unter der Kruste des sterbenden Mars, als ich dem Ewigen Geheimnis für das Leben meines Sohnes dankte.
Der kurze Augenblick, in dem ich Carthoris sah und erkannte, ehe die Kette fiel, muß wohl ausgereicht haben, die Wucht des Schlages zu mindern. Er sagte mir, er habe eine Zeitlang bewußtlos dagelegen – wie lange, wußte er nicht.
»Wie bist du überhaupt hierher gelangt?« fragte ich, da mir rätselhaft war, wie er mich ohne Führer gefunden hatte.
»Dank deiner klugen Idee, mich durch den jungen Parthak von deiner Existenz und Einkerkerung zu unterrichten. Bis zu dem Moment, als er sich den Harnisch und das Schwert holte, hielten wir dich für tot. Als ich deine Nachricht las, erfüllte ich deine Bitte und ließ ihn sich den Harnisch im Wachraum aussuchen. Dann brachte ich ihm auch noch das juwelenbesetzte Schwert. In dem Moment, da ich das Versprechen erfüllt hatte, das du ihm offensichtlich gegeben hast, endete meine Verpflichtung ihm gegenüber. Ich begann nun, ihn zu befragen, doch er wollte mir keine Auskunft über deinen Aufenthalt geben. Er war Zat Arrras gegenüber äußerst loyal.
Schließlich ließ ich ihn zwischen der Freiheit und den Gruben unter dem Palast wählen – wobei der Preis der Freiheit in einer vollständigen Auskunft über den Ort deiner Einkerkerung und in Hinweisen bestand, die uns zu dir führen konnten. Dennoch hielt er an seiner hartnäckigen Ergebenheit für Zat Arrras fest. Voller Verzweiflung ließ ich ihn in die Gruben bringen, wo er jetzt noch ist.
Keine Androhungen von Folter oder Tod, keine Bestechungsgelder in märchenhafter Höhe konnten ihn umstimmen. Seine einzige Erwiderung auf all unser Drängen war, wann immer er sterben werde, sei es morgen oder in tausend Jahren, könnte niemand ihm nachsagen: ›Ein Verräter hat seinen verdienten Lohn erhalten!‹
Schließlich entwickelte Chodar, dieser listenreiche Teufel, einen Plan, wie wir ihm die Informationen entlocken konnten. Und so ließ ich Hor Vastus die Rüstung eines zodanganischen Soldaten anlegen und in Parthaks Zelle neben ihn anketten. Fünfzehn Tage lang hat der edle Hor Vastus in der Finsternis der Gruben geschmachtet, doch nicht vergebens. Allmählich gewann er das Vertrauen und die Freundschaft von Parthak, bis dieser erst heute, des Glaubens, er spreche nicht nur mit einem Landsmann, sondern mit einem lieben Freund dazu, Hor Vastus genau mitteilte, in welcher Zelle du liegst.
Ich brauchte nur kurze Zeit, die Pläne der Gruben von Helium unter deinen Papieren zu finden. Hierher zu gelangen war etwas schwieriger. Wie du weißt, sind zwar alle Gruben unter der Stadt miteinander verbunden, doch es gibt nur einzelne Eingänge von denen unter jeder Sektion und den benachbarten, und zwar auf höherem Niveau gleich unter der Erdoberfläche.
Natürlich werden diese Öffnungen, die von angrenzenden Gruben zu denen unter den Regierungsgebäuden führen, ständig bewacht. So gelangte ich zwar leicht zum Grubeneingang unter dem Palast, den Zat Arrras bewohnt, fand jedoch einen Zodanganer Soldaten als Wache dort vor. Zwar ließ ich ihn dort, als ich weiterging, doch seine Seele war nicht mehr bei ihm.«
»Nun bin ich hier, gerade noch rechtzeitig, um beinahe von dir getötet zu werden«, sagte er abschließend und lachte.
Er hatte sich während seines Berichts an dem Schloß zu schaffen gemacht, das meine Fesseln zusammenhielt. Mit einem Freudenschrei ließ er das Ende der Kette nun zu Boden fallen, und ich stand wieder, befreit von den meine Gliedmaßen wundreibenden Eisen, in denen ich fast ein Jahr lang geschmachtet hatte.
Er hatte mir ein Langschwert und einen Dolch mitgebracht. Solcherart bewaffnet, machten wir uns auf den Rückweg zu meinem Palast.
An der Stelle, wo wir die Gruben von Zat Arrras verließen, fanden wir den Wächter, den Carthoris getötet hatte. Er war noch nicht entdeckt worden, und um die Suche weiter hinauszuzögern und den Leuten des Jed ein Rätsel aufzugeben, nahmen wir den Toten ein kurzes Stück mit und versteckten ihn in einer winzigen, vom Hauptkorridor der Gruben abgelegenen Zelle unter einem angrenzenden Grundstück.
Etwa eine halbe Stunde später gelangten wir an die Gruben unter unserem Palast, und kurz danach traten wir in den Audienzsaal, wo wir Kantos Kan, Tars Tarkas, Hor Vastus und Xodar vorfanden, die uns mit Ungeduld erwarteten.
Wir verloren keine Zeit mit fruchtlosen Berichten über meine Einkerkerung. Ich wollte vor allem wissen, inwieweit die Pläne, die wir vor fast einem Jahr ausgearbeitet hatten, durchgeführt worden waren.
»Es hat viel länger gedauert, als wir erwartet hatten«, erwiderte Kantos Kan. »Die Tatsache, daß wir zu völliger Geheimhaltung gezwungen waren, hat uns arg behindert. Zat Arrras’ Spione sind überall. Soviel ich weiß, hat dennoch kein Wort über unsere wirklichen Pläne das Ohr des Schurken erreicht.
Heute abend liegt bei den großen Docks von Hastor eine Flotte von eintausend der größten Kampfluftschiffe, die jemals über Barsoom flogen, wobei jedes so ausgerüstet ist, daß es zu Wasser und in der Luft von Oman fliegen kann. An Bord jedes der Luftschiffe befinden sich fünf Zehnmann-Kreuzer, zehn Fünfmann-Aufklärungsmaschinen und einhundert Einmann-Aufklärer. Insgesamt sind es einhundertsechzehntausend Fahrzeuge, ausgerüstet mit Luft- und Wasserpropellern.
Bei Thark liegen die Transporter für die grünen Krieger des Tars Tarkas, neunhundert große Truppentransporter samt Begleitschiffen.«
»Seit sieben Tagen ist alles bereit, doch wir haben in der Hoffnung gewartet, daß wir dich noch rechtzeitig retten könnten, damit du den Befehl über die Expedition übernimmst. Wie gut, das wir gewartet haben, mein Prinz.«
»Wie kommt es, Tars Tarkas, daß die Männer von Thark nicht die üblichen Maßnahmen gegen jemanden ergreifen, der vom Busen des Iss zurückkehrt?«
»Sie schickten einen Rat von fünfzig Häuptlingen, die mit mir hier reden sollten«, erwiderte der Thark. »Wir sind ein gerechtes Volk, und als ich ihnen die ganze Geschichte erzählte, waren sie einstimmig der Meinung, ihre Aktion gegen mich würde durch die von Helium gegen John Carter geleitet werden. In der Zwischenzeit sollte ich auf ihre Bitte meinen Thron als Jeddak von Thark wieder einnehmen, damit ich mit den benachbarten Horden von Kriegern, die die Landstreitkräfte der Expedition stellen sollten, verhandeln könne. Ich habe das getan, wozu ich mich verpflichtet hatte. Zweihundertfünfzigtausend Kämpfer, die von der Eiskappe im Norden bis zu der im Süden mobilisiert wurden und eintausend verschiedene Gemeinschaften von einhundert wilden und kriegerischen Horden repräsentierten, strömten des Nachts in die große Stadt Thark. Sie sind bereit, auf meinen Befehl hin ins Land der Erstgeborenen zu segeln und dort zu kämpfen, bis ich ihnen Einhalt gebiete. Das einzige, worum sie bitten, ist, daß sie die Beute, die sie machen, zu ihren eigenen Gebieten bringen dürfen, wenn der Kampf und das Plündern vorbei sind. Ich bin fertig.«
»Und du, Hor Vastus, von welchem Erfolg vermagst du zu künden?« fragte ich.
»Eine Million erfahrener Kämpfer von Heliums schmalen Wasserwegen stellen die Mannschaften für die Schlachtschiffe, die Transporte und die Begleitfahrzeuge«, erwiderte er. »Jeder hat Loyalität und Geheimhaltung geschworen, auch wurden jeweils nicht soviel aus einem einzelnen Distrikt rekrutiert, daß Verdacht hätte aufkommen können.«
»Gut!« sagte ich »Jeder hat seine Pflicht getan. Kantos Kan, können wir uns jetzt nicht sofort nach Hastor begeben und noch vor der Morgensonne aufbrechen?«
»Wir sollten keine Zeit verlieren, Prinz«, erwiderte Kantos Kan. »Schon erkundigen sich die Leute von Hastor nach dem Zweck einer derart großen, mit Kämpfern vollbemannten Flotte. Mich wundert, daß die Kunde davon nicht Zat Arrras schon erreicht hat. Ein Kreuzer wartet über deinem Deck. Wir sollten um... « Ein Kugelhagel aus den Palastgärten gleich draußen schnitt ihm das Wort ab.
Wir eilten alle auf den Balkon und konnten gerade noch rechtzeitig ein Dutzend Angehörige meiner Palastwache im Schatten des etwas entfernt stehenden Gebüschs verschwinden sehen, als verfolgten sie einen Flüchtling. Direkt unter uns beugte sich eine Handvoll Wächter über eine reglose Gestalt, die ausgestreckt auf dem scharlachroten Rasen lag.
Unter unseren Augen hoben sie die Gestalt auf und trugen sie auf meine Anweisung in den Audienzsaal, wo wir unsere Beratung abhielten. Als sie den Toten uns zu Füßen legten, erkannten wir ihn als einen roten Mann in der Blüte seines Lebens. Er trug eine einfache Rüstung wie ein gewöhnlicher Soldat oder jemand, der seine wahre Identität verbergen will.
»Wieder einer von Zat Arrras’ Spionen«, sagte Hor Vastus.
»Es sieht ganz danach aus«, erwiderte ich. Dann sagte ich der Wache: »Ihr könnt ihn wegtragen.«
»Wartet!« sagte Xodar. »Prinz, laßt doch bitte ein Tuch und etwas Thoatöl bringen.«
Ich gab einem der Soldaten einen Wink, der den Raum verließ, jedoch sogleich mit den Dingen zurückkehrte, die Xodar verlangt hatte. Der Schwarze kniete neben dem Toten nieder, tunkte eine Ecke des Tuches in das Thoatöl und rieb einen Moment an dem Gesicht des Daliegenden. Dann blickte er lächelnd zu mir auf und wies auf das Ergebnis. Ich schaute hin und sah, daß das Gesicht an den Stellen, wo er das Öl aufgerieben hatte, weiß war, so weiß wie meins. Nun packte Xodar das schwarze Haar der Leiche, riß es mit einem Ruck weg und legte eine unbehaarte Glatze bloß.
Wächter und Edle drängten sich eng um den schweigenden Zeugen auf dem Marmorboden. Viele äußerten laut ihr Erstaunen und ihre Verwunderung, da Xodars Vorgehensweise den Verdacht, den er gehegt hatte, bestätigt hatte.
»Ein Thern!« flüsterte Tars Tarkas.
»Schlimmer als das, fürchte ich«, erwiderte Xodar. »Doch wir wollen sehen.«
Er zog seinen Dolch und schnitt eine verschlossene Tasche auf, die am Harnisch des Thern baumelte. Darauf förderte er einen goldenen Ring zutage, in den ein großer Edelstein eingelassen war – er war das genaue Ebenbild dessen, den ich Sator Throg abgenommen hatte.
»Er war ein Heiliger Thern«, sagte Xodar. »Nur gut für uns, daß er nicht entkommen konnte.«
In diesem Augenblick betrat der Offizier der Garde den Raum. »Mein Prinz, ich muß melden, daß uns der Kumpan dieses Burschen entkommen ist. Ich denke, sie hatten sich mit einem oder mehreren der Männer am Tor abgesprochen. Daraufhin habe ich befohlen, alle unter Arrest zu stellen.«
Xodar überreichte ihm das Thoatöl und das Tuch.
»Damit kannst du den Spion unter euch feststellen«, sagte er.
Er ordnete sofort eine geheime Durchsuchung der Stadt an, denn jeder Edle des Mars unterhält einen eigenen Geheimdienst.
Eine halbe Stunde später kam der Offizier der Garde, um Bericht zu erstatten. Diesmal bestätigte er unsere schlimmsten Befürchtungen – die Hälfte der Wache am Tor waren in dieser Nacht Therns gewesen, die sich als Rote verkleidet hatten.
»Kommt!« sagte ich. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Auf nach Hastor, und zwar sogleich. Sollten die Therns versuchen, uns am Südrand der Eiskappe aufzuhalten, könnte dies all unsere Pläne und die ganze Expedition zunichte machen.«
Zehn Minuten später eilten wir gen Hastor durch die Nacht, vorbereitet, den ersten Schlag zur Rettung von Dejah Thoris zu führen.